Angela Merkel: Auf abschüssiger Bahn

 

Im ersten Jahr ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel erfahren müssen, dass Regieren mehr ist als ein physikalisches Experiment

 

 

Ein Jahr ist Angela Merkel heute Bundeskanzlerin. Ihre Bilanz ist mäßig, ihre Aussichten sind schlecht, denn in der Großen Koalition lauern Widersprüche, die sie kaum beherrschen kann.

Angela Merkels Gesicht ist wie ein offenes Buch. Wenn sie jemanden etwas sagen hört, das ihr nicht passt, sieht man das sofort. Dann verzieht sie die Mundwinkel, presst die Lippen aufeinander oder hebt die Brauen. So ein Blödsinn, signalisiert ihre Mimik – und dennoch: Ein Hinweis auf das, was sie später dazu sagen wird, ist das fast nie. Die emotionale Reaktion ist von der Ratio gebändigt. Allenfalls interpretiert sie das Missfallene so, wie sie es verstehen will, was jetzt den Angesprochenen erstaunt aufblicken lässt. Meist jedoch geht sie gar nicht darauf ein.
So geht sie derzeit auch mit Jürgen Rüttgers um. Der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der sich bereits nach der gewonnenen Landtagswahl 2005 als neuer »Vorsitzender der Arbeiterpartei« apostrophierte, streitet seit einigen Monaten dafür, eine wesentliche Säule aus den Hartz-IV-Regelungen, die auch seine Partei mitbeschloss, herauszubrechen. Arbeitslose, die bereits viele Jahre in die Versicherung eingezahlt haben, sollen nicht schon nach einem Jahr Zahlung von Arbeitslosengeld in die Sozialhilfe fallen. Das verstoße gegen das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, so Rüttgers, das auch zu den Prinzipien der CDU mit ihrer Tradition aus der katholischen Soziallehre gehöre.

 

Kurs des Streichens, Kürzens, Sparens


Vor allem aber verstößt die Rüttgerssche Idee, die sich nicht nur in einem Beschluss auf dem bevorstehenden CDU-Parteitag materialisieren soll, sondern auch in einer Bundesratsinitiative, gegen alles, für das Angela Merkel noch vor wenigen Jahren antrat. Im Oktober 2003 hatte sie in einer Grundsatzrede die »Neue Soziale Marktwirtschaft« ausgerufen und sogleich hinzugefügt, was sie bedeutet: »Ein Kurs des Streichens, Kürzens, Sparens ist unverzichtbar.« Zwei Monate später ließ sie auf dem Parteitag in Leipzig Taten folgen und unter anderem die Kopfpauschale für die Krankenversicherung und eine Steuerentlastung vor allem für die großen Einkommen beschließen. Das Erreichen ihrer neoliberalen Ziele schien in Sichtweite, und sie warb dafür – auch gegen die Wahlkämpfer in den eigenen Reihen, die um ihre Mehrheiten fürchteten.
Zwar schwächte sie im Wahlkampf diese Positionen etwas ab, doch die Grundlinie verließ sie nicht: »In Zeiten knapper Kassen muss man sich noch mehr fragen, ob das Geld, was man ausgibt, dem eigentlichen Ziel dient.« An der Kopfpauschale hielt sie unbeirrbar fest. Den Kündigungsschutz wollte sie einschränken. Und sie schlug zu Lasten der Betroffenen Veränderungen bei Hartz IV vor. Doch spätestens am Wahlabend hatte sie begriffen, dass mit einem solchen Kurs die Wähler nicht zu gewinnen waren, dass es – wie der spätere CDU-Bundestagspräsident Lammert enttäuscht einräumte – keine Mehrheit für einen Kurs klarer wirtschaftsliberaler Reformen gibt.
Seitdem laviert sie, und das nicht nur, weil sie als Kanzlerin auf eine SPD Rücksicht nehmen muss, die sich wenigstens hin und wieder noch daran erinnert, einst aus einem sozialen Bedürfnis heraus gegründet worden zu sein. Sie tut es auch, weil sie der eigenen Partei eine Chance geben will, den Abstand zur Sozialdemokratie zu vergrößern. Da sich in der Bevölkerungsstruktur jene Schichten langsam, aber ungebremst vergrößern, die von staatlichen Transferleistungen leben und dabei zunehmend benachteiligt sind (bereits 41 Prozent leben von Rente, Arbeitslosen- oder Sozialhilfe), ist dies mit weiterem sozialen Kahlschlag nicht zu erreichen – eine Erkenntnis, die die Union noch nicht verarbeitet hat. Angela Merkel hält zwar an ihren Zielen fest – jüngst bewies das die Wiederauferstehung der Kopfpauschale in einem CDU-Konzept zur Pflegeversicherung, aber sie weiß nicht, wie sie zu erreichen sind. Daher schweigt sie zu Rüttgers, auch wenn sie sein Vorgehen für falsch hält; sie hat einfach keine Argumente, mit denen sie ihm überzeugend Kontra geben kann.
Hier wie anderswo betreibt die Bundeskanzlerin Politik wie ein wissenschaftliches Experiment. Der Forscher arbeitet sich in ein Problem ein und formuliert irgendwann eine Hypothese, eine Zielvorstellung, die er durch Fakten zu verifizieren sucht. Dann prüft er seine Annahme in der Wirklichkeit – und findet sie vielleicht bestätigt. Meist aber nicht; dann beginnt ein neues Experiment, mit veränderter Versuchsanordnung und nun Erfolg oder wieder Misserfolg. Irgendwann ist er am Ziel und kann jetzt eine gesicherte Erkenntnis verkünden – und darauf aufbauen.
So geht Angela Merkel meist vor, wenn strittige Fragen zu entscheiden sind. Sie hat ihre Meinung und setzt sie der Diskussion aus, in der Erwartung, dass sie bestätigt wird. Geschieht das nicht, lässt sie die Debatte weiterlaufen und registriert sorgfältig Argumente und Gegenargumente. Sie moderiert, natürlich in ihrem Sinne, und hofft irgendwann auf Annäherung an einen Konsens, den auch sie vertreten kann. »Das muss nicht immer 100 Prozent meine Anfangsüberzeugung sein«, weiß sie inzwischen, »aber doch insoweit, dass ich den Eindruck habe, wir sind auf dem richtigen Weg.«
Derlei nüchternes, von ihrer Erfahrung als Naturwissenschaftlerin geprägtes Regieren kann erfolgreich sein in einer Zeit, in der ideologische Grundmuster an Anziehungskraft verlieren und vor allem pragmatische Entscheidungen gefragt sind. Eine Erfolgsgarantie sind sie nicht, wie das erste Jahr Merkelscher Kanzlerschaft zeigt. Würde nämlich heute erneut gewählt, hätte die Union alle Mühe, ihr Ergebnis von vor einem Jahr zu wiederholen, geschweige denn zu verbessern. Merkels eigene, einst hohen Zustimmungswerte sind dahin. Denn auf vielen Feldern sind die Probleme nicht gelöst – und wenn, dann in äußerst unbefriedigender Weise. Die Wirtschaft beklagt, dass Angela Merkel ihr Wahlprogramm nicht uneingeschränkt durchsetzt. Zwar ist die Arbeitslosigkeit etwas gesunken, doch zugleich wuchs die Verunsicherung jener, die noch einen Job haben. Und allen gemeinsam ist die Sorge vor weiteren Belastungen – sei es durch ständig sinkende Einkommen und/oder steigende Abgaben – ob durch die Mehrwertsteuer, Krankenkassenbeiträge, Energiekosten. Die Stimmung ist so depressiv wie dieser November.
Schon bei einem wissenschaftlichen Experiment müssen die Voraussetzungen stimmen, soll es ein brauchbares Ergebnis bringen. Die Voraussetzungen für das Wirken der Großen Koalition waren von vornherein nicht gegeben. Denn im Gegensatz zur durchschaubaren Behauptung daran interessierter Beobachter lag es nie in der Absicht der Wähler, diese Regierungskonstellation zu bekommen. Das Wahlergebnis legte ein Bündnis links vom bürgerlichen Lager nahe; das war mit SPD und Grünen, die beide Links schon lange für ein Auslaufmodell halten, nicht zu machen. Also kam die Große Koalition zustande, in der die handelnden Parteien inhaltlich so weit voneinander nicht entfernt sind, dass sie keine Kompromisse zu Lasten der Bürger fänden. So geschehen bei der Mehrwertsteuererhöhung, bei der Rente mit 67, bei der Gesundheitsreform mit ihren steigenden Beiträgen, bei der Alimentierung von Unternehmen durch die Unternehmenssteuerreform, bei der Ausweitung von Militäreinsätzen im Ausland. Die Liste ließe sich fortsetzen.

 

Festhalten am Geist der alten Bundesrepublik


Dass die Kanzlerin trotz so viel Übereinstimmung in der Sache mehr damit zu tun hat, zwischen den widerspenstigen Koalitionären zu vermitteln als Politik zu betreiben, hängt mit der Absicht beider zusammen, sich spätestens bei der nächsten Bundestagswahl des Partners zu entledigen und mit einem erwünschteren Bundesgenossen die eigene Linie wieder lupenrein zu verfolgen. Darin, dass jeder recht schnell wieder ohne den anderen regieren will, liegt das einzige gemeinsame Ziel der Koalitionäre. In diesem Konkurrenzkampf neutralisieren sich die Kontrahenten oft gegenseitig (was manchmal das Schlimmste verhindert), und es entsteht der Eindruck von Zerstrittenheit und Chaos. Auch eine Naturwissenschaftlerin kann solche Elemente nicht beherrschen; Regieren ist eben mehr als ein physikalisches Experiment. Es birgt ständig Überraschungen, die keine Versuchsanordnung vorsieht.
Hinzu kommt, dass Angela Merkel, die als theoretische Physikerin eher mit der Berechnung ablaufender Vorgänge als ihrer Ingangsetzung beschäftigt war, jede Vision abgeht. Für sie ist das bestehende System so etwas wie das »Ende der Geschichte«. Die »zweiten Gründerjahre«, die sie einmal für das Land beschwor, lehnt sie ausdrücklich am Aufstieg der alten Bundesrepublik an. Merkel wünscht sich den Geist zurück, »der die alte Bundesrepublik stark gemacht hat«. Sie spricht von Adenauer als »ihrem Kanzler«, der er wahrlich nicht war, und feiert jetzt ihr einjähriges Jubiläum mit einem VW-Käfer: »Deutschland kommt in Fahrt«. Sie bleibt in den Grenzen eines überholten Systems, dessen Defizite allgegenwärtig sind und das sich der Steuerung durch die Politik immer mehr entzieht. Oder in der Sprache der Wissenschaft: Sie sucht gesamtgesellschaftlich nicht nach neuen Hypothesen, auch da nicht, wo die alten längst widerlegt sind.
Die Prognosen, die Angela Merkel nach einem Jahr Kanzlerschaft gestellt werden, sind meist verhalten bis schlecht. Man weiß, dass die Konflikte in der Koalition zunehmen werden. Spätestens ab 2007, wenn die Belastungen voll auf die Bürger durchschlagen und im Laufe des Jahres die Wahlkämpfe in so wichtigen Bundesländern wie Hessen, Niedersachsen oder Bayern beginnen, wird das Regieren noch schwieriger. Solchen Ministerpräsidenten wie Koch, Wulff oder Stoiber ist das Landeshemd allemal näher als der Bundesrock, zumal sie am Erfolg der Kanzlerin ohnehin wenig interessiert sind.
»Die Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden« – so lautete der Titel von Angela Merkels Dissertation. Auch im Kanzleramt wird sie sich möglicherweise bald mit Zerfallsreaktionen, Bindungsbruch und deren Geschwindigkeiten beschäftigen müssen; dass ihr die Doktorarbeit dabei behilflich ist, scheint eher zweifelhaft.

 

 

 

 

(Gedruckt in: »Neues Deutschland« vom 21. November 2006)