Kurzer Prozess. Honecker & Genossern – ein Staat vor Gericht? Teil 6

In diesen Tagen vor 15 Jahren fand in Berlin der Prozess gegen Erich Honecker und drei weitere Angeklagte aus der DDR-Führungsriege statt. In fünf Beiträgen wurde bereits an dieses Ereignis erinnert. Heute folgt ein weiteres, das sechste Kapitel – auf der Grundlage des 1993 im Verlag Elefanten Press erschienenen Buches »Kurzer Prozess. Honecker & Genossen – Ein Staat vor Gericht?«, das nicht mehr im Handel ist.

Die Ankläger

 Jus mit Pferdefuß

»Auf dem Flugplatz war der rote Teppich ausgerollt. Eine Formation des Bonner Wachbataillons der Bundeswehr bildete ein Ehrenspalier. Nach dem Kommando >Präsentiert das Gewehr< und >Augen rechts< trat das Staatsoberhaupt der DDR aus der Tür der Maschine. Er grüßte winkend von der Gangway.« So schilderte das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« am 8. September 1987 mit verhaltenem Stolz die Ankunft Erich Honeckers am Tage zuvor in Bonn. Er wurde dort wie auf den anderen Stationen seiner Reise durch die Bundesrepublik Deutschland mit großer Aufmerksamkeit und ausgesuchter Höflichkeit empfangen. Auch der Bundeskanzler schloss sich nicht aus: »Vor dem Bundeskanzleramt hieß Helmut Kohl Erich Honecker willkommen. Die Staatsflaggen der DDR und der BRD waren aufgezogen. Der Kommandeur der Bundeswehrformation erstattete Erich Honecker Meldung: >Exzellenz, ich melde, Ehrenformation der Bundeswehr zu Ihrer Begrüßung angetreten.< Die Hymnen beider Staaten erklangen. Erich Honecker schritt, begleitet von Helmut Kohl, die Front der unter präsentiertem Gewehr angetretenen Soldaten und Offiziere ab.«

Jener Mann also, der schon damals Mauer und Schießbefehl verantwortete, der für das gerade geschilderte Grenzregime mit all seinen schrecklichen Folgen verantwortlich war, wurde in Bonn mit allen Ehren empfangen; niemand kam damals auf den Gedanken, in ihm einen Verbrecher zu sehen. Und um dies auch juristisch wasserdicht zu machen, wurde extra das Gerichtsverfassungsgesetz geändert, nach dem seither auf Einladung der Bundesregierung einreisende Staatsgäste auf deutschem Boden nicht mehr belangt werden können. Denn Anzeigen gegen Honecker lagen den Staatsanwaltschaften schon damals vor. Der damalige Staatssekretär im Justizministerium, Klaus Kinkel, befand jedoch, sie könnten wegen der »Privilegien und Immunitäten eines Staatsoberhauptes« nicht greifen.

Günter Gaus, einstmaliger Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, malt die Geschichte von 1987 noch weiter aus: »Hätte der Staatsratsvorsitzende der DDR kurz danach das Zeitliche verlassen, so wäre nicht nur das protokollarisch Gebotene unter Staaten, die amtliche Beziehungen miteinander unterhalten, selbstverständlich gewesen: Der Bundespräsident wäre wohl selber zum Trauerakt nach Ost-Berlin gereist, bei triftiger Verhinderung hätte er sich hochrangig vertreten lassen; vom Bundeskanzler wäre ein ausführliches Kondolenzschreiben an den Staatsrat der DDR gerichtet worden, dessen verstorbener Vorsitzender gerade eben noch mit seinem Besuch in Bonn zur Verbesserung des Gutnachbarlichen beigetragen habe. Darüber hinaus wäre dem Toten in internationalen wie westdeutschen Nachrufen die damalige Gerechtigkeit zuteil geworden: Seine Verdienste an der Milderung der Teilungsfolgen in Deutschland und an der friedenssichernden Stabilität der europäischen Verhältnisse hätte man ihm zugebilligt.«

Honecker blieb damals nicht nur unbehelligt; er galt als ehrenwerter Mann. Zwar wurde er – zumindest in den öffentlichen Reden – auf das Grenzregime angesprochen, jedoch nur in äußerst milder Form. Helmut Kohl sagte: »Wir wollen Friede in Deutschland, und dazu gehört auch, dass an der Grenze Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht werden. Gerade Gewalt, die den Wehrlosen trifft, schädigt den Frieden.« In München versüßte der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß seine Kritik sogar mit dosiertem Lob: »Die Mauer in Berlin, ein fast vollkommenes Netz von Sperrmaßnahmen, was allerdings heute nicht mehr den Charakter trägt wie noch damals vor unserer Begegnung, ein Rechtssystem, das den illegalen Grenzübertritt als Verbrechen einstuft – mit der juristischen Folge des Schießbefehls – das ist mit der eigentliche juristische Hintergrund -, der Zwang behördlicher Genehmigung für den Besuch von Eltern, Geschwistern und Verwandten – das passt nicht mehr in die neue Phase weltpolitischer Entwicklung, in die wir hoffentlich eingetreten sind. Ich muss allerdings auch feststellen, dass Sie einiges getan haben, um auf diesen Gebieten Schritt für Schritt mit Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein in Kenntnis der Grenzen der Möglichkeiten tätig zu sein.«

In den internen Gesprächen spielte das Grenzproblem offensichtlich eine noch geringere Rolle. Honeckers kurzzeitiger Nachfolger Egon Krenz berichtete aus seiner Erinnerung, dass Honecker in Bonn das DDR-Grenzregime »detailliert erläutert« habe, ohne dass dagegen »polemisiert« worden sei. Seine Fazit: »Bei Tischreden wurden allgemeine Floskeln für die Wähler formuliert, während man intern schnell eine gemeinsame Sprache fand.« So auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Nach von der Illustrierten »Stern« präsentierten DDR-Dokumenten kritisierte dieser, »dass die Bundesregierung gelegentlich der DDR mit Äußerungen zur deutschen Frage nahe trete. Wohl sei die Geschichte offen, aber man solle nicht über die nächsten fünfzig Jahre spekulieren, sondern sich der Forderung des Tages stellen und zu jenem Umgangston finden, bei dem man sich nicht überfordere.« Die Internationale Menschenrechtskonvention, auf die sich nun die Ankläger unter anderem berufen, war für die Bundesregierung nie Anlass gewesen, bei der UNO eine Rüge gegen die DDR zu beantragen. So nimmt es nicht wunder, wenn Honecker heute immer wieder betont, auch die Bundesregierungen hätten Mauer und Schießbefehl, wenn auch widerwillig, akzeptiert. »Es gab bundesdeutsche Politiker, die mit diesem Zustand sogar zufrieden waren«, beharrt er – offensichtlich nicht ohne Grund.

An all das wollen heute, fünf Jahre später, diese deutschen Politiker nicht erinnert werden. Sie schweigen es tot oder verteidigen sich in jener Weise wie der Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses, Horst Eylmann (CDU). Für ihn ist Honecker, eine »Geiselnehmer« und ein »Menschen- und Sklavenhändler«. Helmut Kohl erhält Absolution, denn : »Wenn einer mit einem Geiselnehmer verhandelt, kann das später nicht strafmildernd oder gar strafausschließlich für den Geiselnehmer bewertet werden.« Noch viel weniger ficht es deutsche Gerichte an. Für sie ist Honecker jetzt ein »gewöhnlicher Krimineller«, vergleichbar einem Totschläger, der einem Dieb, der seinen Gartenzaun übersteigt, den Spaten über den Schädel haut. Vor November 1989 jedoch, so der Düsseldorfer Jurist Michael Pawlik kürzlich in einem Vortrag, »wäre es in der Bundesrepublik niemandem in den Sinn gekommen, die Situation an der Grenze zur DDR als eine Angelegenheit des Bundesjustizministers und nicht vielmehr des Bundeskanzleramts und des innerdeutschen Ministeriums zu sehen. . . Wenn Honecker nicht begreift, was man in der Bundesrepublik von ihm will, so hat er somit Recht – zwar nicht in einem moralischen, wohl aber im juristischen Sinn.«

Auf diese Diskrepanz zwischen Opportunismus gegenüber dem Machthaber und rigoroser Verurteilung des machtlosen Honecker spielen die Anwälte des Ex-DDR-Staatschefs an, wenn sie in ihrer Stellungnahme zur Anklage von einem politischen Verfahren sprechen. »Mit dieser Anklageschrift«, heißt es da, »wird der Versuch unternommen, das frühere Staatsoberhaupt der DDR wegen politischer Entscheidungen während seiner Regierungszeit vor Gericht zu stellen. Die Geschichte dieses Verfahrens, insbesondere aber die Anklageschrift, zeigen, dass angesichts des in dieser Sache auf den Strafverfolgungsbehörden lastenden enormen politischen Drucks rechtliche Argumente eine untergeordnete Rolle spielen.« Sie verweisen darauf, dass schon der selbstgewählte Name der Ermittlungsbehörde – »Arbeitsgruppe Regierungskriminalität« programmatisch sei, da er vorwegnehme, »dass das, was politisch und moralisch kritikwürdig sei, auch strafbar sein müsse«. Sie heben außerdem darauf ab, dass die Anklageschrift nach 764 Seiten Materialsammlung lediglich auf 18 Seiten »dürftige« rechtliche Überlegungen formuliert.

Die Probleme der Aufarbeitung politischer Entscheidungen und Taten mit den Mitteln des Strafrechts hatte schon Kirchheimer analysiert. und festgestellt, dass man zwei Arten von Verantwortung kaum voneinander unterscheiden könne: »Verantwortung für eine Politik, die nur das Pech hatte, versagt zu haben, und Verantwortung für eine Politik, die verbrecherisch ist, weil sie ihrem Wesen nach alle Grundregeln menschlichen Verhaltens mit Füßen tritt.« Und er zieht den Schluss, dass sich letztlich der Wert oder Unwert eines derartigen Verfahrens daran erweise, »inwieweit die Unterscheidung zwischen der Verantwortung für politischen Misserfolg und der Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit mehr ist als utopische Konstruktion oder pure Heuchelei zur Verklärung bestimmter Taktiken eines Regimes, das die Nachfolge der Unterlegenen angetreten hat«.

Die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa geführten Prozesse gegen ehemals Herrschende sind allesamt nicht frei von Elementen, die vor allem letztere Motivation zu bestätigen scheinen. In Rumänien machte ein Standgericht wahrhaft kurzen Prozess mit dem Diktator Nicolae Ceausescu und dessen Ehefrau Elena. Sie wurden nach dem Umsturz am Weihnachtstag des Jahres 1989 binnen Stunden zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Danach hielt sich die Justiz des nur teilerneuerten Landes vor allem an ihren Sohn Nicu, zumal der als designierter Nachfolger des »Conducators« galt. Er wurde erst wegen »Völkermord« zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt; in der Revision entschied sich die Kammer für 16 Jahre wegen »Anstiftung zum Mord«. Der Oberste Gerichtshof kassierte schließlich 1992 alle Urteile wegen Mangels an Beweisen. Am Ende wurde gegen ihn nur noch wegen illegalen Waffenbesitzes ermittelt. Auch das auf »Lebenslänglich« lautende Urteil gegen die Ceausescu-Vertrauten Dinca, Postelnicu, Bobu und Manescu aus dem Jahre 1990 soll jetzt überprüft werden.

Im benachbarten Bulgarien lautete die Anklage gegen den früheren Partei- und Regierungschef Todor Schiwkow von Anfang an auf »Unterschlagung öffentlicher Gelder« in einer Höhe von umgerechnet 1,7 Millionen Mark. Die vielfältige und raffinierte Unterdrückung der Bürger des Landes kam zwar im Prozess auch zur Sprache, erwies sich aber letztlich als nicht justitiabel. Selbst seine Verteidigerin befand: »Das, wofür er angeklagt ist, hat er nicht getan. Das. was er wirklich getan hat, wird nicht angeklagt.« Er wurde schließlich zu sieben Jahren Haft verurteilt. Weitere Prozesse wegen Verfolgung der türkischen Minderheit und wegen der Errichtung von Straflagern sowie neuerdings wegen Hochverrats, da er der UdSSR die Angliederung des Landes als 16. Unionsrepublik angeboten haben soll, sind gegen Schiwkow anhängig. Sein vormaliger Ministerpräsident Georgi Atanassow musste sogar für zehn Jahre, sein Wirtschafts- und Planungsminister Stojan Owtscharow für neun Jahre hinter Gitter. Auch ihnen wurde Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen. Sehr umstritten sind die Anklagepunkte gegen einen der stellvertretenden Ministerpräsidenten von Schiwkows Gnaden, Andrej Lukanow. Er soll dafür belangt werden, dass er in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Millionen Devisengelder an Entwicklungsländer »mit sozialistischer Orientierung« , zum Beispiel Äthiopien und Nikaragua, die als »terroristische Regimes« bezeichnet werden, gegeben hat. Ende 1992 wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen; die Ermittlungen werden jedoch fortgesetzt. Die bulgarische Zeitung »Duma« konstatierte, es sei der Justiz ihres Landes »ganz und gar nicht gelungen«, den Eindruck politischer Verfahren zu vermeiden. Skeptisch fragte sie: »Werden die deutschen Richter beweisen können, dass ihre Themis eine andere ist und ihre Augen immer verbunden sind?«

Im Januar 1993 musste sich in Albanien die Witwe des seinerzeit unumschränkten Herrschers Enver Hodscha, Nedschmije Hodscha, vor Gericht verantworten. Auch bei ihr ging es um die Veruntreuung öffentlicher Gelder und Machtmissbrauch, wofür ihr eine Strafe zwischen acht Jahren Haft und dem Todesurteil drohte. Der 72jährigen wurde vorgehalten, von einem Versorgungsdienst für Partei- und Staatsfunktionäre profitiert zu haben, der für die 26 führenden Familien in fünf Jahren 200 000 Mark ausgab. Der Staatsanwalt beantragte 14 Jahre Haft; das Gericht entschied auf neun Jahre Gefängnis.

Während es in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn bislang keine vergleichbaren Prozesse gegen ehemalige Machthaber gab, nahm sich die russische Justiz gleich eine ganze Partei vor: die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Russlands Präsident Boris Jelzin hatte nach dem Putsch vom August 1990 zunächst die Aussetzung ihrer Tätigkeit angeordnet, sie dann enteignet und am 6. November 1991 schließlich verfügt, »die Tätigkeit der KPdSU und der KP der RSFSR auf dem Territorium der RSFSR einzustellen und ihre Organisationsstrukturen aufzulösen«. Dagegen erhoben die Kommunisten Einspruch, und der Streit kam vor das russische Verfassungsgericht. Dieses erweiterte den Gegenstand seiner Untersuchungen überraschend darauf, ob es sich bei der KPdSU überhaupt um eine verfassungsgemäße Partei gehandelt habe. Damit stellte es sich – wie Beobachter schreiben, auf Veranlassung Jelzins – eine unlösbare Aufgabe – die Beurteilung von 70 Jahren Sowjetmacht und des eng verzahnten Wirkens des Staates und der Kommunistischen Partei.

Hochrangige Zeugen marschierten auf; auch Gorbatschow war geladen, verweigerte jedoch unter Hinweis auf den »politischen Charakter« des Prozesses, in dem er für »alle Übel der Vergangenheit« verantwortlich gemacht werden solle, die Teilnahme. Und zahlreiche düstere Stunden der sowjetischen Geschichte wurden im Moskauer Gerichtssaal beschworen – vom Massaker an polnischen Offizieren in Katyn bis hin zur Intervention in Afghanistan. Doch die Aufarbeitung der kommunistischen Parteigeschichte konnte das Gericht natürlich nicht leisten – das verhinderte nicht zuletzt der politische Druck von verschiedenen Seiten auf die Verfassungsrichter. Immer mehr verzettelte sich das Verfahren in Einzelheiten, seine Aussagen blieben Stückwerk. Anfang Dezember entledigte sich das Gericht mit einem salomonischen Urteil seines Dilemmas. Die Hauptfrage der Verfassungsmäßigkeit der KPdSU erklärte es für unentscheidbar, da die Partei seit August 1991 faktisch nicht mehr bestehe und im übrigen weniger Partei denn »Staat im Staate« gewesen sei. Die Auflösung der KPdSU durch Jelzin wurde bestätigt – jedoch nur für die Führungsstrukturen, nicht aber für die Basisorganisationen. Und über das Vermögen der KPdSU wird letztlich erst in vielen Einzelprozessen entschieden werden.

War bei den genannten Verfahren das politische Ziel evident, so bemühte sich die bundesrepublikanische Justiz bei den bisherigen Prozessen gegen DDR-Größen beredsam um den Nachweis, es handele sich lediglich um normale Kriminalität, nicht aber um eine wie immer geartete politische Abrechnung. Mit dem Ergebnis – und dazu trug natürlich der Einigungsvertrag mit seiner Vorgabe, Verbrechen und Vergehen der früheren DDR-Machthaber dürften nur nach dem zur Tatzeit gültigen Recht geahndet werden, bei -, dass die eingeleiteten Verfahren weder den Erwartungen in der Bevölkerung noch den hochgesteckten Zielen der Anklagevertreter gerecht wurden. Sie erwiesen sich allesamt mehr oder minder als peinliche Versuche, ein diffuses Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen, was jedoch angesichts der zumeist nebensächlichen Anklagepunkte und der sich daraus ergebenden lächerlichen Strafen misslingen musste. Das bewies schon der im Januar 1991 begonnene Prozess gegen den früheren Vorsitzenden des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, Harry Tisch. Ihm wurden »Vertrauensmissbrauch im schweren Fall« mit einem Schaden von viereinhalb Millionen DDR-Mark sowie zweimal »Untreue im schweren Fall« mit einem Schaden von über 100 Millionen DDR-Mark vorgeworfen. Nachdem das Gericht den ersten Anklagepunkt schon bald fallen ließ, ging es in dem Verfahren nur noch um nicht bezahlte Urlaubsreisen und eine dubiose FDGB-Spende für das Nationale Jugendfestival 1984. Das Urteil lautete schließlich auf 18 Monate Gefängnis, deren Rest jedoch nach der mehr als einjährigen Untersuchungshaft auf Bewährung ausgesetzt wurde. Der Vorsitzende Richter räumte ein, die mit diesem Verfahren verbundenen Erwartungen, »auch in der historischen Dimension«, hätten nicht alle erfüllt werden können.

Noch mehr gilt dies für die bisherige strafrechtliche Verfolgung Erich Mielkes. Gegen ihn liegt eine Reihe von Haftbefehlen vor, und die Ermittlungen erstrecken sich auf einen weiten Bereich von Delikten. Neben den Todesfällen an der Grenze wird ihm – wie Honecker und anderen – Vertrauensmissbrauch im Zusammenhang mit der Versorgung der Politbüro-Mitglieder in Wandlitz vorgeworfen, außerdem Anzeigenunterdrückung, da er Beschwerden über die Fälschung des Kommunalwahlergebnisses vom 7. Mai 1989 zu ignorieren anwies, und illegale Telefonüberwachung in mindestens 25 Fällen. Er wird beschuldigt, »Gegner der DDR« mit ungesetzlichen Mitteln verfolgt zu haben – so bereits 1950 den früheren westdeutschen KPD-Bundestagsabgeordneten Kurt Müller. Ermittelt wird wegen vermeintlicher Killeraufträge gegen fahnenflüchtige Grenzsoldaten und Überläufer aus dem Ministerium für Staatssicherheit, darunter der Fußballspieler des vom MfS gesponserten Fußballclubs »Dynamo«, Lutz Eigendorf, und wegen der tätlichen Übergriffe auf Demonstranten im Oktober 1989. Auch die Begünstigung von Terroristen im Zusammenhang mit der konspirativen Aufnahme ehemaliger RAF-Mitglieder in der DDR wird ihm angelastet.

Eröffnet wurde die Strafverfolgung gegen den Ex-MfS-Chef aber mit einem Verfahren, das – in dessen Abwesenheit – schon vor 58 Jahren stattfand und in dem es um den Mord an zwei Polizisten am 9. August 1931 auf dem Berliner Bülowplatz, dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, ging. Die beiden Schupos – bei den Kommunisten, die schon damals im heutigen PDS-Gebäude residierten, außerordentlich verhasst – wurden beim Streifengang während einer der derzeit zahlreichen Demonstrationen hinterrücks erschossen; Indizien wiesen darauf hin, dass Mielke einer der Täter sein könnte. Für das nazistische Gericht, das knapp drei Jahre später darüber verhandelte, war das überhaupt keine Frage: Es hielt den kurz nach dem Vorfall in die Sowjetunion geflohenen Mielke für einen der Haupttäter, musste jedoch – seiner Abwesenheit im Gerichtssaal wegen – das Verfahren gegen ihn aussetzen.

Die 23. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin unter Richter Theodor Seidel griff nun diesen gewissermaßen unvollendeten Prozess wieder auf, um – wie einer von Mielkes Verteidigern erklärte – den ehemaligen Stasi-Minister, gegen den sich die Ermittlungen in den aktuelleren Tatvorwürfen außerordentlich schwierig gestalteten, eingesperrt lassen zu können. Bald aber blieb das Verfahren in seinen Fallstricken hängen. War schon die Übernahme der faschistischen Anklage nebst Ermittlungsergebnissen äußerst fragwürdig, so geriet die Verhandlung selbst schnell zur Farce, da weder eindeutige Dokumentenbeweise erbracht werden konnten noch Zeugen nach dieser langen Zeit klare Aussagen zu treffen vermochten. So dümpelte der Prozess ein Jahr lang dahin, und bald schon zweifelte kaum ein Beobachter daran, dass Mielke letztlich mangels Beweises freigesprochen werden müsste. Anfang 1993 jedoch beschleunigte der Vorsitzende Richter der 23. Großen Strafkammer das Tempo; am 15. Januar beantragte die Staatsanwaltschaft eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.

Das sich angesichts der Verantwortung Mielkes auf einem Nebenschauplatz abspielende Verfahren verhinderte immerhin, dass er als Mitangeklagter im gewiss bedeutenderen Honecker-Prozess saß. Da der mittlerweile 85jährige nach ärztlichem Gutachten zwei Prozesse zugleich gesundheitlich nicht verkraften könne, wurde das Verfahren wegen des »Schießbefehls« abgetrennt und vorläufig eingestellt. Ob es jedoch nach dem Abschluss des Bülowplatz-Prozesses wieder aufgenommen wird und mithin Mielke möglicherweise in den Moabiter Saal 700 zurückkehrt, ist ebenso unklar wie eine Antwort auf die Frage, inwieweit die übrigen Anschuldigungen gegen ihn zur prozessualen Reife gelangen.

Nicht viel überzeugender agierte das Kreisgericht Erfurt in der Verhandlung gegen das frühere SED-Politbüro-Mitglied und Parteichef des thüringischen Bezirks, Gerhard Müller. Auch ihm wurde Anstiftung zur Untreue sowie Diebstahl angelastet. Streitobjekt waren drei Jagdgewehre, die Müller verschenkt hatte und die aus Mitteln bezahlt wurden, die eigentlich den sowjetischen Streitkräften zugute kommen sollten, sowie ein weiteres Gewehr von beträchtlichem historischen Wert, das er sich selbst aneignete. Das Gericht befand ihn teilweise für schuldig und verurteilte Müller zu acht Monaten mit Bewährung, die durch die Untersuchungshaft ebenfalls bereits abgesessen waren. Ganz ähnlich – darauf wurde schon verwiesen – verlief das Verfahren gegen den mit Honecker erneut angeklagten Hans Albrecht.

Anklage war auch gegen das Politbüro-Mitglied Werner Krolikowski erhoben worden, jedoch kam es bis Ende 1992 aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Verfahrenseröffnung. Die Staatsanwaltschaft hielt sich derweil an seine beiden Untergebenen Kleinert und Schilling, die für ihn wie für andere Parteigrößen die Schmutzarbeit erledigten und dafür nun verurteilt wurden. Wegen Veruntreuung vor Staatsgeldern, vor allem im Zusammenhang mit Baumaßnahmen für Krolikowski selbst und seine Familie, ergingen gegen sie Strafen von jeweils 15 Monaten Haft auf Bewährung. Noch drei Monate mehr, aber ebenfalls ausgesetzt, erhielt wegen eines ähnlichen Delikts, der Bezahlung eines Ferienhauses an der Ostsee aus Parteigeldern der DDR-CDU, der langjährige Vorsitzende der christlich-demokratischen Blockpartei, Gerald Götting.

Untreue und Vertrauensmissbrauch hält die Berliner Staatsanwaltschaft auch Günter Mittag vor, der im SED-Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständig war. Er soll für sich und seine beiden Töchter Häuser aus Mitteln des Schalck-Unternehmens Kommerzielle Koordinierung haben bauen lassen. Auch bei ihm machte bisher seine Krankheit – schwere Diabetes und Stoffwechselstörungen – ein Verfahren unmöglich.

Auch dem todkranken Honecker wurde – während die 27. Strafkammer schon über eine mögliche Einstellung des Prozesses gegen ihn verhandelte – am 18. Dezember 1992 noch schnell eine Anklage wegen Vertrauensmissbrauchs und gemeinschaftlicher Untreue nachgereicht. Er soll in den Jahren 1988 und 1989 durch die Versorgung des Politbüro-Ghettos Wandlitz einen volkswirtschaftlichen Schaden für die DDR von 15,5 Millionen Mark verursacht haben. Diese Beschuldigung schien aber von vornherein nicht ernst gemeint, sondern diente der Staatsanwaltschaft wohl zur Verzögerung der durch ärztliche Gutachten drohenden Haftentlassung Honeckers.

Noch am erfolgreichsten waren Ermittler und Gerichte, wenn es um die Ahndung der Fälschung der letzten DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 ging. Das Dresdener Bezirksgericht verurteilte im Februar 1992 den früheren Oberbürgermeister der Stadt, Wolfgang Berghofer, und den SED-Stadtsekretär Werner Moke zu jeweils einem Jahr Haft mit Bewährung sowie zu Geldstrafen. Der Richter verlangte in seiner Begründung, nun »weiter nach oben an die SED-Spitze zu stoßen«. Folgerichtig sind weitere Verfahren gegen Dresdener Partei- und Staatsfunktionäre, darunter den letzten DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow, angestrengt. Sie sollen 1993 beginnen. Auch gegen das Politbüro-Mitglied und Leiter der damaligen Wahlkommission, Egon Krenz, wird ermittelt. In Halle wurden ebenfalls der frühere Oberbürgermeister und einige seiner Mitarbeiter zu Bewährungsstrafen verurteilt.

An all diesen Verrenkungen der Justiz, die bisher kaum Genugtuung auslösten, sondern von vielen als peinliche Blamagen angesehen wurden, zeigte sich, dass die Elle der Strafjustiz für politisches und moralisches Unrecht bei weitem zu kurz ist. Die vage Hoffnung, aus kollektiven politischen Entscheidungen individuelle Schuld destillieren zu können, hatte sich schon bei den genannten, vergleichsweise untergeordneten Verfahren zerschlagen; beim Honecker-Prozess musste sie vor allem deshalb ein eitles Unterfangen bleiben, weil von seiner ersten Stunde an klar war, dass hier nicht über x-beliebige Totschläger verhandelt wurde, sondern über Ex-Politiker, die man – vor allem ihrer politischen Entscheidungen wegen – glaubte verurteilen zu müssen und verurteilen wollte. Die Verteidigung Honeckers sieht darüber hinaus in dem Verfahren ein Nachgeben gegenüber dem »Volkszorn«, die unzulässige Berücksichtigung emotionaler Befindlichkeiten. – so verständlich sie bei den unmittelbar Betroffenen sind – sowohl durch die politische Führung, der es zugestanden sei, als auch durch Prozessbeteiligte bis hin zum Gericht. In ihrer Stellungnahme zur Anklage schreibt sie: »Das genau ist das Gefährliche an einem politischen Prozess, dass nämlich allzu leicht die mutige und menschliche richterliche Entscheidung verdrängt wird durch einen Entscheidungsprozess, der sich allenthalben abzusichern versucht, der mehr die Außenwirkung als die Richtigkeit der eigenen Entscheidung bedenkt und dessen größte Sorge es offenbar ist, Herr Honecker könnte bei einer Nichteröffnung aus Gesundheitsgründen zum Prozessende noch am Leben und wie man dann als Richter vor der Öffentlichkeit und vor der Geschichte dastehen würde.«

Man muss aber gar nicht so vordergründig argumentieren, um auf politische Bewertungen zu stoßen, die dem juristischen Vorgehen im Fall Honecker zugrunde liegen und die das Recht, das unschuldige Jus, mit einem Pferdefuß versehen. Im schon genannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag ist mit den Thesen vom Fortbestehen des »Deutschen Reiches« und von der »Identität« der Bundesrepublik mit diesem Reich die Basis geschaffen für die uneingeschränkte Anwendung bundesdeutschen Rechts auf das Handeln staatlicher Institutionen der DDR. So zum Beispiel geschehen in der Begründung der Berliner Kammergerichts vom 6. März 1991 zur Aufrechterhaltung des Haftbefehls gegen Honecker, der damals allerdings noch nicht vollstreckt werden konnte. Darin hieß es: »Das Grundrecht auf Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet (Art. 11GG) galt auch nach dem Grundlagenvertrag für alle Deutschen i. S. von Art. 116GG und bedeutete für die damaligen DDR-Bürger das Recht, in das Bundesgebiet einzureisen, um dort Aufenthalt und Wohnung zu nehmen.« Damit, so das Kammergericht, sei das DDR-Grenzgesetz unbeachtlich, ja sogar selbst rechtswidrig; im Wortlaut: »Daraus folgt, dass der Einsatz von Schusswaffen durch DDR-Grenzbewacher gegen Flüchtlinge im innerdeutschen Grenzgebiet, die nur von ihrem allgemeinen unterdrückten Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machten, ohne – etwa durch Gewalt oder Drohung – andere Rechtsgüter zu gefährden, nicht nach § 27 II GrenzG gerechtfertigt war, weil nach den gesamten Umständen nicht nur kein Verbrechen nach § 213 III DDR-StGB vorlag, sondern auch, weil in diesen Fällen schon die Bestrafung wegen eines Vergehens rechtsstaatswidrig gewesen wäre.«

Mit diesem Spruch im Hinterkopf versuchten nicht wenige Politiker wie Juristen, von vornherein die Geltung von DDR-Recht bei den Prozessen um die Mauer in Frage zu stellen – am deutlichsten möglicherweise der Verfassungsrechtler und frühere Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Waldemar Schreckenberger, der direkt forderte, »im Interesse der Gerechtigkeit von einem Rechtsstaats-Grundsatz abzugehen«, der »für so ungewöhnliche Fälle wie die Auflösung eines Staates nicht entwickelt wurde«. Er forderte, einheitlich nach bundesdeutschem Strafrecht zu verfahren, denn dies reiche zur Verurteilung der Schuldigen aus.

So weit wollten andere indes nicht gehen. Sie fanden es – wie der Tübinger Rechtslehrer Joachim Renzikowski – »bedenklich, bundesdeutsche Verfassungsmaßstäbe in das DDR-Recht zu übertragen und die entsprechenden Regeln des DDR-Rechts zu ignorieren«. Er – wie andere, so auch das Berliner Landgericht im Urteil zum zweiten Prozess gegen Grenzsoldaten am 5. Februar 1992 – weichen darauf aus, dass zwar das DDR-Grenzgesetz selbst nicht rechtswidrig gewesen sei, wohl aber das konkrete Verhalten der Grenzsoldaten, wenn es den Tod eines Flüchtlings zur Folge hatte. Renzikowski argumentiert, »dass ein >rücksichstloser Schusswaffengebrauch gegen Grenzverletzer< keine Stütze im Grenzgesetz findet. Ein Fluchtversuch musste sich zunächst als Verbrechen iSv § 213 II StGB/DDR darstellen und durfte noch nicht beendet sein. Der Schusswaffengebrauch war auch nicht erforderlich, wenn das Opfer sich noch vor dem letzten Grenzhindernis befand. Die >Vernichtung< eines >Grenzverletzers< durch gezielten Todesschuss sowie der Befehl dazu waren unverhältnismäßig und rechtswidrig.« Ganz ähnlich das Berliner Gericht, das den beiden Grenzsoldaten, die am 1. Dezember 1984 den 20jährigen Michael Schmidt erschossen hatten, vorwarf, sie seien »in >vorauseilendem Gehorsam< über den Befehl hinausgegangen, der zumindest insoweit an dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientiert war, als er in einer Stufenfolge nach der Abgabe des Warnschusses mit dem noch relativ ungefährlichen schoss auf die Beine eine Vorgehensweise vorschrieb, die Leben und Gesundheit des Opfers zunächst möglichst wenig gefährdete. . .«

Die sich aus einer solchen Sichtweise ergebenden Verständnisprobleme sind beträchtlich. Pawlik verweist nur auf einen – wenn auch bedeutsamen – Aspekt mit seiner Feststellung, »eine Interpretation von DDR-Normen, die zu dem Ergebnis gelangen würde, die Mauerschützen und ihre Befehlsgeber hätten sich schon nach positivem DDR-Recht des Totschlags oder gar des Mordes schuldig gemacht, würde in Wahrheit keine Interpretation des Rechts des tatsächlich existierenden Staats DDR darstellen, sondern sich auf ein letztlich fiktiv bleibendes Normengebilde beziehen.« Er argumentiert im weiteren ganz pragmatisch und konstatiert, »dass derjenige, der den Zweck will, auch die zu seiner Realisierung notwendigen Mittel wollen muss . . . Die Ereignisse im Gefolge der Maueröffnung haben gezeigt, dass das SED-Regime nur unter der Voraussetzung einer geschlossenen und bewachten Grenze überlebensfähig war. Das positive Recht der DDR dennoch so auszulegen, dass in ihm das Schießen auf Flüchtlinge >eigentlich< strafbar gewesen sei, hieße, ihm einen Inhalt beizulegen, wonach es seine eigenen Existenzvoraussetzungen für rechtswidrig erklären würde.«

Damit bringt er auf den Punkt, was die Honecker-Verteidiger noch ziemlich diplomatisch zu formulieren versuchen, indem sie auf die fundamentalen Unterschiede im Staats- und Rechtsverständnis zwischen den beiden deutschen Staaten hinweisen: »Eine Auslegung nach bundesrepublikanischem Verständnis löst die Normen des DDR-Rechts in unzulässiger Weise von ihrem politisch-gesellschaftlichen Kontext und verleiht ihnen eine völlig andere Bedeutung.« Für die Vorgänge an der Grenze hieße das: Bestand für die Errichtung der Mauer eine zwingende Notwendigkeit, so bestand sie offensichtlich auch für ihre Bewachung, für die Organisation ihrer Undurchlässigkeit, den Schusswaffengebrauch eingeschlossen. Oder allgemeiner gesagt: Wo Politik versagt und die gewaltsame Lösung von Problemen ins Kalkül zieht, begibt sie sich auf einen Weg, der immer verderblicher wird und offensichtlich – über wieviele Zwischenstationen immer – letzten Endes ins Verbrechen führt.

Auf eine solche Entwicklung hat jedoch die Jurisprudenz keine Antwort. Verhaftet im positiven, also vom jeweiligen Staat geschriebenen Recht, erfährt sie, dass es auf derartige Irrwege nicht adäquat reagieren kann. 1945, als über die Nazi-Verbrechen zu befinden war, fand das Vorgehen der Alliierten, mit dem Londoner Protokoll vom 8. August ein Sonderrecht zu schaffen, mit dem über Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit geurteilt werden konnte, weltweite Zustimmung – waren doch die verhandelten Delikte so ungeheuerlich, dass das Abgehen vom positiven Recht des Nationalsozialismus geradezu zwingend erschien. Das Londoner Protokoll definierte den Kompetenzbereich des Nürnberger Gerichtes in diesem Punkte so: »Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen des Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde oder nicht.«

In gleicher Weise, durch ein Sonderrecht, über Taten aus der DDR-Zeit zu urteilen, wurde 1989/90 nie ernsthaft erwogen – im Gegenteil, der Einigungsvertrag bestätigte im wesentlichen die Gesetzgebung der DDR als Ausgangspunkt der Strafverfolgung. Da nun aber aus den dargestellten politischen Erwägungen heraus das Ruder herumgerissen werden sollte, musste ein Mittel gefunden werden, mit dem das angepeilte Ziel zu erreichen war, ohne dass es zugleich den unangenehmen Geruch eines Sondergesetzes verbreitete. Die schon dargestellten verquasten Versuche, abgehoben von der DDR-Rechtspraxis eine fiktive Norm zum Kriterium des Handelns zu erklären, fanden ihren Höhepunkt im Rückgriff auf das schon erwähnte »Naturrecht«. Dieses ermöglichte schließlich, das positive DDR-Recht beiseite zu lassen und nach »überpositiven« Prinzipien zu urteilen, die ungenau und damit auslegbar genug waren, um auch das zu erfassen, was nach der Gesetzeswirklichkeit der DDR eigentlich nicht zu ahnden war. Dementsprechend formuliert die Anklageschrift gegen Honecker und andere im Hinblick auf die DDR-Maßnahmen zur Grenzsicherung: »Derartige gesetzliche Regelungen und staatliche Maßnahmen verstoßen in einem unerträglichen Maß gegen das Erfordernis materieller Gerechtigkeit. Sie müssen als Eingriff in den Kernbereich des Rechts auf Leben und Freiheit angesehen werden. Derartige Eingriffe dürfen aber durch kein Gesetz und keine obrigkeitliche Maßnahme vorgenommen werden (. . .). Staatliche Maßnahmen, die diesen Kernbereich verletzen, sind deshalb unbeachtlich. Dem in der damaligen DDR geltenden strafbewehrten Verbot des Grenzübertritts ohne behördliche Genehmigung und den Bestimmungen über die Zulässigkeit des Schusswaffeneinsatzes mit tödlicher Wirkung gegenüber denjenigen, die sich an dieses Verbot nicht halten wollten, kann deshalb keine rechtfertigende Wirkung zukommen.«

Grundsätzlich ist der Ansatzpunkt, einem brutalen und menschenfeindlich agierenden Machthaber nicht dann Straffreiheit zuzugestehen, wenn er sein unrechtmäßiges Handeln nur rechtzeitig in formale Gesetze gefasst hat, gewiss bedenkenswert. Der DDR-Bürgerrechtler und jetzige Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Grüne, Wolfgang Ullmann, kritisiert »die deutsche Tradition, dass Rechtsstaatlichkeit Gesetzeskorrektheit heißt, dass die Legalität die oberste Norm des Rechtes wird«. Dies habe bereits das Handeln der deutschen Justiz bei der Abrechnung mit der Barbarei der Hitlerdiktatur bestimmt, und es sei auch heute – entgegen vielen anderen Meinungen – im Kern nicht anders. Die Justiz verliere sich aus seiner Sicht auch bei der Aufarbeitung von DDR-Unrecht in einem »ängstlichen Legalismus, der dann eben zu so verrückten Prozessverläufen führt«. Er sehe sogar Ähnlichkeiten mit der Argumentation ehemaliger DDR-Größen. Am Runden Tisch habe er Krenz und Herger gefragt, wie sie es mit der Verfassung der DDR gehalten hätten: »Da haben beide die Schwurhand gehoben: Wir waren ganz verfassungskonform. Herger hat mich ausführlich belehrt, wie bei der Ausbildung der Stasi-Leute die Verfassungstreue eine ganz große Rolle gespielt hat.« Und Ullmann folgert: »Das ist der typisch deutsche Legalismus zu meinen, wenn ich gesetzeskonform handle, dann handle ich in jedem Fall richtig oder gar gerecht.« Er fordert, dass sich die Richter mehr Spielraum bei der Auslegung der Gesetze nähmen.

Gerade hierin aber sehen viele Juristen die Gefahr des Subjektivismus. Die Honecker-Anwälte schreiben in ihrer Stellungnahme zur Anklage sogar: »Das sogenannte überpositive Recht ist nichts anderes als ein Einfallstor des politisch motivierten Maßnahmerechts.« Sie stützen sich bei dieser Bewertung auf die Erfahrungen, die in der Vergangenheit mit dem überpositivem Recht gemacht wurden. Denn seine erste Renaissance erlebte es zum Ende der Weimarer Republik als Kampfinstrument gegen das positive Recht als »Erscheinungsform des jüdischen Liberalismus«. Der nationalsozialistische Justizminister Kerrl brachte es später auf den Punkt: »Das Vorurteil des formal-liberalistischen Rechtes ist es, dass der Götze des Rechtsprechung die Objektivität sein muss. . . Nicht richtungslose Objektivität, die Stillstand und damit Verknöcherung, die Volksfremdheit bedeutet, darf herrschen, nein, alle Handlungen, alle Maßnahmen der Gesamtheit und des einzelnen gehören zu den Lebensbelangen des Volkes, sind der Nation untergeordnet.« Die deutsche Justiz der 30er und 40er Jahre nahm diese Hinweise dankbar auf. »Deutsche Richter haben von Anfang des >Dritten Reiches< an gegen das (noch) geltende Recht unter Berufung auf die >materielle Gerechtigkeit< oder >deutsches Rechtsempfinden< oder sonstige >überpositive< Instanzen entschieden. Eine Argumentation, die >überpositive< Autorität bemüht, sollte daher den Argwohn erwecken, es gehe ihr in Wahrheit schlicht um ein außerrechtliches Interesse«, schreiben die Honecker-Anwälte.

Jutta Limbach, eine engagierte Vertreterin des Naturrechts-Gedankens, muss denn auch einräumen, »dass man nicht wie den Dekalog formulieren kann, was Inhalt des Naturrechts oder – im Sinne der Aufklärung – Inhalt des Vernunftrechts ist. . . Aber es gibt doch gewisse Grundnormen der Sitte und Moral, über die sich alle Nationen und Völker einig sind – und das ist vor allem dieses unverbrüchliche Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Gerade die Unschärfe, die Auslegbarkeit einer solchen Aussage stößt auf Skepsis. Nach Pawlik ermöglicht sie »die Fiktion einer Weltinnenpolitik, für die es dann konsequent ist, Kriege zu Polizeiaktionen umzudeklarieren und den Unterliegenden zum Straftäter zu stempeln.« Auch der Verteidiger des frühzeitig aus dem Prozess ausgeschiedenen Erich Mielke, Stefan König, der sich wissenschaftlich mit der nationalsozialistischen Justiz beschäftigt hat, kritisiert grundsätzlich jedes rechtliche Vorgehen, dessen Beurteilung sich nachprüfbaren Kriterien entzieht. Zur Zeit des Nationalsozialismus habe man sich zwar nicht auf das »Naturrecht« berufen, sondern auf das »gesunde Volksempfinden« und den »Führerwillen«, aber – so sagt er – »genau diese Denkweise , die sich nicht in erster Linie an das hält, was in den Gesetzen steht, die jedermann nachlesen und kritisieren kann, sondern sich in solchem Nebel verliert, diese Denkweise hat man nun als Rezept für die Bewältigung des DDR-Unrechts wiederbelebt.«

Mit Bezug auf diese gegenwärtigen Vorgänge fragt Pawlik: »Es geht darum, welchen Institutionen die Befugnis zugesprochen werden soll, Vergangenheit umzudefinieren. Soll diese Frage dem politischen Prozess anheimgestellt werden – etwa durch eine öffentliche Diskussion darüber, ob das Parlament das grundgesetzliche Verbot rückwirkender Strafgesetze lockern soll, um auf diese Weise eine Bestrafung der DDR-Untäter zu ermöglichen? Dies wäre die Konsequenz eines positivistischen Rechtsbegriffs. Oder soll die Frage den Gerichten überlassen werden, die dann zur Strafbarkeit von DDR-Unrecht schlicht dadurch gelangen, dass sie bestimmten DDR-Vorschriften unter Rekurs auf das >Naturrecht< den Rechtscharakter absprechen?« König plädiert eindeutig für den letzteren Weg. Aus seiner Sicht wäre es ehrlicher gewesen, – wie die Alliierten mit dem erwähnten Londoner Protokoll – klare rechtliche Regelungen – erforderlichenfalls auch rückwirkend – zu erlassen, die dann aber der gesellschaftlichen Kontrolle bis hin zum Verfassungsgericht unterlegen hätten. Stattdessen sei jedoch gesagt worden – so König: »Das ist ein rückwirkendes Gesetz, das machen wir nicht. Wir flüchten uns lieber in den Nebel von solch diffusem Naturrecht und lösen das Problem durch das Hintertürchen.«

Auf diese Weise wurde die demokratische Debatte um Möglichkeiten und Erfordernisse der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit vermieden. Gerade sie aber hätte dieses brisante Thema, wie König sagt, »zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung im politischen Raum gemacht, wo es auch hingehört, und nicht der internen Diskussion in irgendwelchen gerichtlichen Beratungszimmern, in irgendwelchen Richterkabinen, wo es nicht hingehört.« Hier dürfte sich der in Berlin-Kreuzberg ansässige Anwalt, dem gelegentlich Nähe zur linken Szene nachgesagt wird, wieder mit dem Bürgerrechtler Ullmann treffen, der ebenfalls für strikte demokratische Kontrolle der Gesetzgebung eintritt – sei es durch das Parlament, das Bundesverfassungsgericht oder die unmittelbar handelnden Justizorgane, die am direktesten spüren, inwieweit Gesetze vom Leben entfernt sind oder nicht.

Schon dadurch, dass die Ankläger des Berliner Prozesses auf das »Naturrecht« ausweichen, geben sie indirekt ihre Probleme bei einer sauberen juristischen Bewertung des inkrimierten Handelns der ehemaligen DRR-Führungsleute zu erkennen. Einer der Anklageverfasser, Oberstaatsanwalt Herwig Großmann, mahnte denn auch im Vorfeld des Prozesses dringend eine höchstrichterliche Stellungnahme an. Diese erging dann zwar mit dem schon erwähnten Urteil des Bundesgerichtshofs vom 3. November 1992 – ohne jedoch die Schwierigkeiten auszuräumen. Die Anklage blieb in der Defensive.

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