Kurzer Prozess. Honecker & Genossern – ein Staat vor Gericht? Teil 7

In diesen Tagen vor 15 Jahren fand in Berlin der Prozess gegen Erich Honecker und drei weitere Angeklagte aus der DDR-Führungsriege statt. In sechs Beiträgen wurde bereits an dieses Ereignis erinnert. Heute folgt ein weiteres, das siebente Kapitel auf der Grundlage des 1993 im Verlag Elefanten Press erschienenen Buches »Kurzer Prozess. Honecker & Genossen – Ein Staat vor Gericht?«, das nicht mehr im Handel ist.

  Die Verteidiger

Plädoyers in verlorener Sache

Als Erich Honecker am 29. Juli 1992 die chilenische Botschaft in Moskau verließ und sich auf den Weg ins Moabiter Untersuchungsgefängnis machen musste, hatte für ihn die letzte Schlacht seines Lebens gegen den Imperialismus begonnen. Seine Biographie lehrte ihn, keinerlei Illusionen über den Feind, dem er nun wieder gegenüberstand, zu haben – und er hatte diese Illusionen auch nicht. Für ihn war klar: Nun galt es, keine Schwäche zu zeigen, sondern im Gegenteil jene Überlegenheit zu beweisen, die für ihn aus der Sache erwuchs – der Sache der Gerechtigkeit und des Fortschritts, wie er beides verstand.

Mit nachsichtigem Unverständnis sah Honecker, wie seine drei Anwälte sich mühten, die Möglichkeiten des Rechtsstaats zu seinen Gunsten zu nutzen – vergeblich, wie er von Anfang an wusste. »Herr Honecker ist von uns allen immer der Skeptischste gewesen«, sagte Wolfgang Ziegler, als die 37. Große Strafkammer des Landgerichts kurz vor Weihnachten 1992 sowohl Haftverschonung und erst recht eine Einstellung des Verfahrens abgelehnt hatte, obgleich wenige Tage später durch die Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs doch das Ende des gegen ihn gerichteten Prozesses kam. Die drei Verteidiger waren von der rechtsstaatlich unhaltbaren Entscheidung im Dezember 1992 schwer getroffen; Honecker aber trug sie mit stoischer Gelassenheit: Was denn hätte er anderes erwarten können? Und er war dann auch ziemlich überrascht, als sich schon Anfang Januar für ihn die Tore des Moabiter Gefängnisses öffneten.

Der frühere DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär betrachtete das Verfahren gegen ihn und seine einstigen Mitstreiter als Fortsetzung des Klassenkampfes, dem er zeitlebens ausgesetzt war – nun, und zwar erneut nach mehr als einem halben Jahrhundert, mit juristischen Mitteln. Und er schwor sich wohl, diese neue Runde so auszufechten, wie es ihm viele andere Kommunisten bereits vorgemacht hatten, unter ihnen jener legendäre Georgi Dimitroff, der, 1933 von den Nazis als angeblicher Urheber des Reichstagsbrandes angeklagt, sich selbst vor dem Leipziger Reichsgericht verteidigte – und zwar mit den Worten: »Ich verteidige meine eigene Person als angeklagter Kommunist. Ich verteidige meine eigene kommunistische, revolutionäre Ehre. Ich verteidige meine Ideen, meine kommunistische Gesinnung. Ich verteidige den Sinn und den Inhalt meines Lebens.« Dimitroff war zur Selbstverteidigung gezwungen, denn alle Wahlverteidiger, die er vorschlug, hatte das faschistische Gericht abgelehnt, und zu seinem Pflichtanwalt wollte er kein rechtes Vertrauen fassen.

Der bulgarische Kommunist verteidigte sich mit Bravour, vor allem als der »Preußische Ministerpräsident und Innenminister, Reichstagspräsident«, Hermann Göring, und der »Reichspropagandaleiter der NSDAP und Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda«, Joseph Goebbels, in den Zeugenstand traten. Durch seine präzisen und zugleich polemischen Fragen verwickelte er beide zunehmend in Widersprüche und reizte sie darüber hinaus zu emotionalen Auftritten, die vor allem Göring vor aller Welt lächerlich machten. »Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der längst an den Galgen gehört«, herrschte dieser nach dem offiziellen stenografischen Protokoll Dimitroff an, worauf der beflissene Gerichtspräsident den Angeklagten von der weiteren Verhandlung ausschloss. Als Dimitroff dann aber noch rief: »Haben Sie Angst wegen dieser Fragen, Herr Ministerpräsident?«, verlor Göring vollends die Kontrolle: »Sie werden Angst haben, wenn ich Sie erwische, wenn Sie hier aus dem Gefängnis ‚raus sind, Sie Gauner, Sie!«

Wie sich Honecker selbst dreieinhalb Jahre später vor dem Volksgerichtshof verhielt – darüber ist wenig bekannt. Der junge Kommunist war im Dezember 1935 bei einer illegalen Aktion in Berlin verhaftet worden und hatte dann in Moabit in Untersuchungshaft gesessen. Offensichtlich hat er sich zu seiner Tat nicht bekannt – eine verständlich Haltung, wenn man unter illegalen Bedingungen kämpft – und der 2. Senat des Volksgerichtshofes konnte ihm nicht viel nachweisen. Dennoch wurde er am 8. Juni 1937 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, die er – eine kurze Fluchtperiode ausgenommen – bis 1945 absaß.

Im Moabiter Prozess von 1992/93 befand sich Honecker in einer völlig anderen Lage. Es ging dort um konkretes Handeln als verantwortlicher Politiker, das aus seinen Überzeugungen erwuchs. Dennoch hat in diesem Verfahren kein ähnlich hochkarätiger Zeuge wie im Dimitroff-Prozess seine Aussage machen müssen – und es wäre möglicherweise auch bei einem anderen Verlauf nicht dazu gekommen. Denn Anklage und Gericht gingen – wie dargestellt – von der Fiktion des unpolitischen Prozesses aus. Sie konnten zwar den Angeklagten ihre Einlassungen nicht verwehren, und der später ruhmlos abgetretene Richter Bräutigam versagte sich auch klugerweise eine Reaktion, wie sie 1914 der Richter Rosa Luxemburgs für geboten gehalten hatte, als er eine Erklärung von ihr unterbrach: »Wir haben keine Zeit, politische Reden mitanzuhören, wir erledigen des Fall juristisch und nicht politisch.« Aber weder Anklage noch Gericht sahen einen Anlass zur Vertiefung der politisch-historischen Aussagen, die die Angeklagten in ihren persönlichen Erklärungen machten. Was Honecker betrifft, der nach seiner anderthalbstündigen Rede vom 3. Dezember 1992 jede weitere Stellungnahme ablehnte, überließen sie damit allein ihm das Feld, etwas Substantielles zur Sache zu sagen, versäumten die Möglichkeit, andere Positionen entgegenzustellen und damit tatsächlich etwas zur Aufarbeitung von Geschichte zu tun.

Aber nicht für dieses Versäumnis wurde das Gericht von der konservativen Ecke aus gerügt, sondern dass es Honecker überhaupt die Möglichkeit zu einer solch grundsätzlichen Stellungnahme gegeben hatte. Die Nebenkläger-Vertreter Boergen und Hentschke verließen gar den Saal, weil Honecker reden durfte. Boergen, der ansonsten ähnlich wie Plöger vor allem durch unqualifizierte Anträge und Bemerkungen auffiel: »Mir sackt der Kreislauf weg, wenn ich mir das anhören muss.« Und Hentschke: »Ich zittere am ganzen Körper, wenn ich an die Ausführungen Honeckers denke«. Der schon ausführlich charakterisierte Plöger blieb zwar, kommentierte aber Honeckers Worte mehrfach mit Pfui-Rufen sowie der Bemerkung, dieser habe »die Verachtung aller verdient«.

Andere, die wohl auf ein jämmerliches Gestammel des Angeklagten gehofft hatten, zeigten sich nun unangenehm überrascht über seine grundsätzliche und nicht ungeschickte Art der Argumentation, der – bei allen inhaltlichen Meinungsunterschieden – auch Klardenkende unter Honeckers politischen Gegnern den Respekt nicht versagten. Gerade das aber störte zum Beispiel die »Frankfurter Allgemeine«, die sich vor allem an der Bemerkung des Ex-DDR-Chefs festbiss, der Prozess sei ein Polit-Schauspiel. »Sollte jemand diesen Eindruck haben, dann vor allem deshalb, weil Honecker eine politische Rede hielt – der Gerichtsvorsitzende hätte ihn mindestens zum Straffen anhalten sollen – und weil einige Zuhörer die Rede beklatschten – warum hat der Vorsitzende sie nicht aus dem Saal gewiesen?« – so offenbarte sie ihre Defizite in rechtsstaatlichem Denken wie ihre obrigkeitliche Gesinnung.

Dabei ist Honeckers Erklärung zweifellos ein Plädoyer in verlorener Sache. Denn stark ist er nur überall dort, wo er sich mit einigen Akteuren der internationalen Politik seiner Zeit, der politischen Klasse der alten wie der heutigen Bundesrepublik und dem Vorgehen ihrer Justiz auseinandersetzt. Sie alle liefern ihm genügend Material für Kritik und Polemik – so viel, dass er sich trotz seiner misslichen Lage mehrfach Spott und Sarkasmus nicht verkneifen kann, hier übrigens ganz in der Tradition der ätzenden Kommentare und Repliken Dimitroffs. Immer dann jedoch, wenn Honecker – ohnehin zögernd und unzulänglich – die eigene Politik reflektiert, wird er wortkarg und unwahrhaftig. »Ich habe für die DDR gelebt«, bekennt er trotzig und muss zugleich einräumen: »Sie war ein Experiment, das gescheitert ist.« Er gesteht als einen der Gründe des Scheiterns ein, dass »wir, ich meine damit die Verantwortlichen in allen europäischen sozialistischen Ländern, vermeidbare Fehler begangen haben«. Aber er gibt die Schuld sogleich auch weiter an sein Volk: »Sicher scheiterte es in Deutschland unter anderem auch deswegen, weil die Bürger der DDR wie andere Deutsche vor ihnen eine falsche Wahl trafen und weil unsere Gegner noch übermächtig waren.«

Honecker nennt die unbestreitbaren Nachteile, die sich die früheren DDR-Bürger mit dem Anschluss an die Bundesrepublik eingehandelt haben, aber er vergisst darüber, dass es auch Vorteile gibt. Und er verschweigt vor allem, warum trotz sozialer Sicherheit, trotz hoher Aufwendungen für Kinderbetreuung, Gesundheitswesen und Kultur, trotz Gleichberechtigung der Frauen und vielem anderen mehr, das er zu Recht hervorhebt, schließlich doch Millionen die Seiten wechselten, zumindest aber mit den Zuständen in der Honeckerschen DDR so unzufrieden waren, dass sie nicht nur ihrem »Landesvater« den Laufpass gaben, sondern auch dem von ihm so maßgeblich geprägten Land »kaum eine Träne nachweinten«, als es schließlich aus den Atlanten verschwand. Hier nachzuhaken, auf ehrliche Antworten zu drängen – das wäre notwendig und nützlich gewesen. Das Moabiter Gericht konnte und wollte dies wohl nicht leisten. Bräutigam gar war völlig sprachlos, als er die Prozessbeteiligten am 3. Dezember 1992 nach Hause bzw. in ihre Gefängniszellen entließ: »Das müssen wir jetzt erst einmal alle verarbeiten.«

Anders bei Keßler und Streletz. Beide hatten angekündigt, sie wollten nach ihren Erklärungen zusätzlich auf Fragen des Vorsitzenden antworten. Auch sie versuchten, die verhandelten Sachverhalte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Sie beriefen sich nicht nur auf die grundsätzlichen politischen Ausführungen Honeckers, sondern stellten ihre Tätigkeit als hohe Militärs der DDR in den politischen Kontext – dadurch sowohl differenzierte Betrachtung als natürlich auch Entlastung anstrebend. So stellte Streletz von vornherein seine Position klar: »Bei der früheren Staatsgrenze der DDR zur BRD ging es um keine >innerdeutsche< Grenze, sondern um eine durch den zweiten Weltkrieg geschaffene bittere Tatsache, a) die Trennlinie zwischen Sozialismus und Kapitalismus, b) die sensible Grenze zwischen dem Warschauer Vertrag und der NATO, c) die Trennungslinie zwischen den mächtigsten und modernsten Streitkräftegruppierungen der Welt, d) die Sicherung des sogenannten >Eisernen Vorhanges< im Kalten Krieg zwischen Ost und West.« Und Keßler formulierte die aus seiner Sicht daraus erwachsenden Aufgaben für die DDR: »Alle Maßnahmen und Veränderungen vollzogen sich in Erfüllung auch von Bündnisverpflichtungen in Übereinstimmung mit der Verfassung und den dafür kompetenten Gesetzen der DDR. Das bedeutet, die Angehörigen der Grenztruppen der DDR und ihre Vorgesetzten haben in Übereinstimmung mit den Gesetzen der DDR und den auf ihnen fußenden Vorschriften gehandelt. Das gilt auch für die Schusswaffenbestimmungen. Die, wie ein sachlicher Vergleich zeigt, denen anderer Staaten, so auch der BRD, ähnlich oder gleich sind.«

Hier nun sah Bräutigam seine Stunde gekommen. Schon bei den auf die Erklärungen folgenden Vernehmungen zur Person versuchte er, den politischen Gehalt der Einlassungen dadurch zu kompensieren, dass er deren Kern durch gezielte Fragen in Zweifel zu ziehen versuchte. Die Anwälte und auch unparteiische Rechtsgelehrte nannten dies eine vorweggenommene Beweisaufnahme; sie bewies einmal mehr, wie sehr sich der Richter nicht nur in einer politischen Rolle sah, sondern wie entschlossen er sie aus seiner ideologischen Position heraus wahrzunehmen gedachte. Knallhart stießen im Gerichtssaal 700 die Ideologien aufeinander – bis in die Terminologie hinein. So entwickelte sich zum Beispiel am siebenten Verhandlungstag zwischen Bräutigam und Keßler der folgende Dialog.

Auf die Frage des Richters, inwieweit sich der Nationale Verteidigungsrat mit der Grenzsicherung befasst habe, nannte Keßler einige Beispiele und fügte hinzu, deren Ziel sei gewesen, »eine effektivere, weniger aufwendige Sicherung der Staatsgrenze zu erreichen«.

Bräutigam: »Was heißt das?«

Keßler: »Dass es weniger Verletzungen gibt.«

Bräutigam: »Verletzungen oder Grenzdurchbrüche?«

Keßler: »Das ist das Gleiche.«

Bräutigam: »Ach, Sie meinen mit Verletzungen solche der Grenze? Haben Sie nicht auch die Toten bedauert? Wann haben Sie davon erfahren? War es ein Thema im Nationalen Verteidigungsrat, dass Menschen an der Grenze verletzt wurden und zu Tode kamen?«

Keßler: »Warum fragen Sie nicht, ob es ein Thema war, dass Menschen die Ordnung und die Vorschriften an der Grenze verletzten?«

Bräutigam: »Weil ich Ihren Sprachgebrauch nicht übernehme. . .«

Keßler: »Und ich nicht den Ihren!«

Die Taktik sowohl der Angeklagten wie des Gerichtsvorsitzenden lag auf der Hand. Erstere konnten sich nur dadurch verteidigen, dass sie auf die übergeordneten Prinzipien und Zwänge verwiesen, denen sie unterlagen und nach denen sie auch Todesfälle an einer für sie aus guten Gründen militärisch gesicherten Grenze hinnehmen mussten. Entsprechend sucht sich Keßler mit dem Hinweis zu entlasten, »dass niemand veranlasst oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen veranlasst wurde, das sichtbar gekennzeichnete Sperrgebiet zu betreten, ungesetzlich einzudringen und sich in von ihm selbst heraufbeschworene Gefahren zu begeben.« Und Streletz argumentiert ganz ähnlich. Beide bestreiten, dass es – wie Streletz formulierte – »eine Fausregel des Inhalts gegeben (habe), >besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt<.« Als – durchaus ernstzunehmenden – Beleg dafür führt er an, es sei Sinn des verhältnismäßig tief gestaffelten Grenzgebietes gewesen, » einen potentiellen Republikflüchtling bereits in der Tiefe des Grenzgebietes festzunehmen, um ihn gar nicht erst an die Grenzlinie, d. h. an die Minenfelder heranzulassen.«

Ansonsten können sie nur wenig zu ihrer Entlastung sagen. Sie bedauerten zwar – in verklausulierter Form wie zum Beispiel Keßler – »jeden, der auf unnatürliche Weise im Zusammenhang mit dem Schutz der Staatsgrenze, auch der Angehörigen der Grenztruppen der DDR, zu Schaden, zu Tode gekommen ist«, aber sie konnten – über das bereits Gesagte – kaum Maßnahmen nennen, mit denen sie diese Entwicklung aufzuhalten versuchten. Lediglich Streletz gab vor, »wiederholt gegenüber dem Chef der Grenztruppen meine Kritik hinsichtlich des hohen Anteils von Dauerfeuer zum Ausdruck zu bringen; es stellte meines Erachtens kein geeignetes Mittel das, die Grenzverletzer festzunehmen, und entsprach auch nicht den bestehenden Schußwaffengebrauchsbestimmungen«.

Dies aber war der Ansatzpunkt für Gericht und Staatsanwaltschaft, die an den Todesfällen an der Mauer gewissermaßen pur interessiert waren; politische Entlastungen blieben für sich unbeachtlich. Dadurch zwangen sie die Angeklagten in eine einheitliche Verteidigungsstellung, obwohl jene von ihren Intentionen her – wohl auch beeinflusst von den jeweiligen Anwälten – durchaus nicht von vornherein im Gleichschritt gegen die Anklage zu marschieren gedachten. Während Keßler bei seiner Grundposition blieb, es handele sich um einen politischen Prozess und dementsprechend nur insoweit zur Sachaufklärung bereit war, wie der politische Hintergrund seines Handelns mit zur Sprache kam, mochte Streletz »diese Argumentation nicht weiterverfolgt wissen« und sprach von einem »wohl unvermeidlichen Strafprozess«. Daher hielt er seine Aussagebereitschaft auch dann noch aufrecht, als das verdeckte politische Kalkül der Befragung durch Bräutigam offenbar wurde. Nachdem schon seine Verteidigungsrede außerordentlich gründlich und sorgfältig konzipiert war, hatte er sich auf die Befragung ebenso penibel vorbereitet. Wie ein vorbildlicher Klassenprimus, der sich für seine Prüfung präpariert, indem er jede nur denkbare Frage vorher ins Kalkül zieht, sich eine Antwort darauf parat legt und ihren Vortrag trainiert, so hat der frühere Stabschef der Nationalen Volksarmee wohl auch durchdacht, was man ihn fragen könnte – beim durchsichtigen Vorgehen Bräutigams kein Kunststück – und die Antworten so vorbereitet, dass sie dann wie aus der Pistole geschossen kamen. Sein Mitteilungsdrang wurde Mitte Dezember letztlich nur dadurch unterbrochen, dass der sich bedrohlich verschlechternde Gesundheitszustand Honeckers der Kammer keinerlei Zeit für die Erörterung anderer, den eigentlichen Prozessgegenstand betreffender Fragen mehr ließ.

Zu diesem Zeitpunkt war jedoch sein einstiger Vorgesetzter schon ausgestiegen. Durch seine Anwälte ließ Keßler am 14. Dezember 1992 erklären, er sehe seine Befürchtung, »dass nämlich ein politischer Prozess gegen ihn geführt wird, durch die Art und Weise der Befragung, der Diktion und auch der Kommentierung seiner Antworten durch den Vorsitzenden bestätigt«. Aus diesem Grunde werde er »weitere Fragen zur Zeit nicht mehr beantworten«. Tatsächlich hatte Bräutigam zu diesem Zeitpunkt, also noch vor der Beweisaufnahme, die Antworten Keßlers aus seiner Sicht bewertet und bei diesem den Eindruck erweckt, dass »der Versuch einer Verteidigung schon bei simpler Gegenüberstellung von Gesetzen nicht akzeptiert wird«. Das richterliche Feindbild, das Differenzierungen nicht zuließ und auf totale Schuldgeständnisse insistierte, zwang den letzten DDR-Verteidigungsminister vor der Wende 1989 folgerichtig an die Seite seines schweigsamen Chefs Honecker. Das taktische Ungeschick der Prozessführung in den ersten beiden Monaten ermöglichte den Angeklagten, sich besser zu behaupten, als sie hätten erwarten können. Ihre Verteidigung konnte sich im Angriff auf die unhaltbaren Positionen von Staatsanwaltschaft und Gericht erschöpfen; sie konnten vergessen machen, dass sie eine praktisch und leider vorerst auch ideell verlorene Sache vertraten – und sie konnten vor allem überspielen, in welchem Umfang sie selbst für deren Niedergang verantwortlich waren.