Vor 20 Jahren – Realitätsverlust in der »Wagenburg«

Unübersehbar war im Herbst 1988 die Unzufriedenheit in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung über die Verhältnisse in ihrem Land geworden. Und ebenso deutlich zeigten sich wachsendes Selbstbewusstsein vieler Bürger, vor allem der Jugend. Der Staat DDR und die ihn beherrschende Einheitspartei SED hatten samt ihrem Geheimdienst Staatssicherheit darauf keine adäquate Antwort mehr, weil sie die Ursachen der Inneren Prozesse nicht verstehen wollten und sie außerhalb der DDR-Grenzen suchten – vorrangig im Westen, aber nun auch schon in der Sowjetunion Gorbatschows. Immer mehr zog sich die DDR-Führung in eine Wagenburg zurück, aus der sie so unbrauchbare wie aggressive Signale sandte. Ein Beispiel dafür waren zwei Reden, die Stasi-Chef Erich Mielke in der zweiten Oktoberhälfte 1988 hielt und die als Orientierung für die Arbeit des Sicherheitsapparates gelten sollten, sich jedoch für die weitere Entwicklung als äußerst kontraproduktiv erwiesen.

Darüber entstand etwa zwei Jahre später, im Sommer 1990, nachfolgender Text, der die damaligen Ereignisse rekapituliert und in einen größeren Zusammenhang zu stellen versucht. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.

 

Realitätsverlust in der »Wagenburg«


Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit der DDR, hielt im Oktober 1988 zwei wichtige Reden, mit denen er die 85 000 Angehörigen des Ministeriums auf die kommenden »Kampfaufgaben« einschwören wollte. Diese Reden zeigten zum einen eine relativ genaue Kenntnis der Lage und zum anderen ein völliges Unverständnis für ihre Ursachen und Hintergründe. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen führten zu jener Sicherheitskonzeption des totalen Misstrauens gegenüber allen Vorgängen, die nicht von der Partei- und Staatsführung selbst organsiert waren, und zur flächendeckenden Überwachung der gesamten Gesellschaft und ihrer Aktivitäten, gleich, wo sie erfolgten.

Mielke dozierte bei seinem Auftreten auf einer Tagung der Aufklärungsorgane sozialistischer Länder am 17. Oktober über die internationale Lage und warnte dabei vor dem Angriff auf die Grundfesten des Sozialismus, ohne dass er Möglichkeiten sah, auf diese äußeren Prozesse im Sinne ihrer Begrenzung Einfluss nehmen zu können. Deshalb orientierte er darauf, im Innern eine lückenlose Abwehr zu organisieren. Dieses »Wagenburg«-Denken versuchte er allen seinen Unterstellten einzuimpfen – und auf dieser Konferenz sogar den Vertretern der verbündeten Sicherheitsdienste. Er sagte: »Gemeinsam stehen wir vor der Notwendigkeit, uns in der Aufklärungs- und Abwehrtätigkeit auf die neuen Bedingungen der internationalen Lage, auf die gesteigerten subversiven Angriffe des Feindes, die teils sehr offen, teilweise aber auch sehr verschleiert, demagogisch verbrämt vorgetragen werden, und die sich daraus ergebenden wesentlich höheren Sicherheitserfordemisse umfassend einzustellen.« Und weiter: »Unseres Erachtens erlangt unter diesen veränderten Bedingungen die Ausschaltung jeglicher vom Feind ausgehender Überraschungen auf allen Gebieten ein noch größeres Gewicht. Die Verantwortung zur rechtzeitigen Aufklärung und objektiven Einschätzung der gegen den Sozialismus gerichteten Pläne, Absichten und Aktivitäten, der gegnerischen Vorgehensweisen, Mittel und Methoden ist erheblich gewachsen.«

Der Stasi-Chef konnte die erkennbaren positiven Tendenzen in der internationalen Politik, die besonders durch das neue Denken in der Sowjetunion gefördert wurden, nicht leugnen, stellte sie im Kern aber zugleich in Frage: »Die positiven Ergebnisse und die sich abzeichnenden Veränderungen sollten in unseren Reihen jedoch zu keinerlei Illusionen über die unveränderte Härte und außerordentliche Kompliziertheit unseres weiteren Kampfes führen. Wir haben in der politisch-operativen Arbeit davon auszugehen, dass der Übergang von der Konfrontation zur Entspannung und internationalen Sicherheit noch nicht vollzogen werden konnte. Es gibt noch keine Garantie für die Unumkehrbarkeit der begonnenen positiven Prozesse.«

Ganz besonders suspekt erschienen ihm die wachsenden Kontakte zwischen den Systemen: »Den Abrüstungs- und Entspannungsprozess unterstützen – das schließt auch Nüchternheit im Herangehen, ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Imperialismus, Illusionslosigkeit und Wachsamkeit ein. Das gilt auch für die objektiv zunehmenden Kontakte unterschiedlichster Art zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Ländern, die im Interesse der Durchsetzung der Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit notwendig sind. Stets sollten wir dabei aber beachten, welche Ziele imperialistische Kreise mit diesen Kontakten verfolgen und welche möglichen Gefahren für unsere Länder damit verbunden sind.«

Neun Tage nach dieser Rede sprach Mielke vor den Leitern der Kreisdienststellen des MfS und brachte dabei noch unverblümter seine faktische Ablehnung von Entspannungsbemühungen zum Ausdruck, verriet aber zugleich ein elementares Unverständnis ihres Wesens und ihrer Perspektiven: »Natürlich sind Abrüstungsschritte auch und gerade im konventionellen Bereich notwendig, und da wird es auch zu Kompromissen kommen müssen. Aber solchen Auffassungen, die auch hier und da in unseren Ländern zu hören sind, wonach man im Interesse der Weiterführung des Abrüstungsprozesses diesen Forderungen des Westens nachgeben müsste, kann und darf man unseres Erachtens nicht zustimmen … Wir sind für die Verwirklichung der Schlussakte von Helsinki in allen ihren Bestandteilen und für den weiteren Ausbau und die Vertiefung der Zusammenarbeit in Menschenrechts- und humanitären Prägen, auf den Gebieten der Kontakte und Informationen. Wir sind aber dagegen, einen Zusammenhang zwischen weiteren Abrüstungsschritten und der Annahme erpresserischer Forderungen zu akzeptieren. Wir sind gegen solche von den: NATO-Staaten angestrebten Regelungen, mit denen sie sich umfassende Möglichkeiten für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten unserer Staaten und für die Mobilisierung und Formierung innerer feindlicher oppositioneller Kräfte verschaffen wollen. Darum geht es aber diesen Kreisen. Sie wollen die sozialistischen Staaten zu einseitigen Zugeständnissen drängen, die ihnen die Möglichkeit einräumen, praktisch legal, völkerrechtlich sanktioniert in die sozialistischen Länder hineinzuwirken, konterrevolutionäre Kräfte und Gruppierungen zu initiieren, zu unterstützen und mit ihnen ungehindert zusammenzuwirken.«

Generalmajor Horst Felber, bis zuletzt Erster Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS und in dieser Funktion für die »ideologische Stählung der Tschekisten« zuständig, verwies in einem Gespräch nach der Wende darauf, dass Mielke einen regelrechten Feindkomplex hatte: »Seine ständigen Worte waren: Wir haben bei uns im Lande viele Feinde, Jungs. Nicht nur alte, sondern auch neue. Natürlich ist nicht jeder ein Feind, es gibt auch Schwankende und Verdummte, wir müssen differenzieren.« Aus der Sicht Felbers hatte eine solche Differenzierung – so sie überhaupt stattfand – jedoch die genaue Kenntnis über das Denken und Tun der Menschen zur Voraussetzung. »Der Minister hatte dafür den Begriff der ›Wer-ist-wer-Aufklärung‹ geprägt«, so der Ex-General. »Das bedeutete, nicht nur Feinde zu bearbeiten, sondern eigentlich jeden. Ihm ging es darum zu wissen, auf wen er sich100-prozentig verlassen kann. Das bedeutete Aufklärung im großen Stil auch gegen jene, die überhaupt nicht als Gegner aufgefallen waren. Er wollte aber wissen: Wer ist wer?« Felber stellte das damals in engen Zusammenhang zu der anderen von Mielke oft verwendeten Floskel, keine Überraschungen zuzulassen: »Auch dies bedeutete, alles zu wissen. Deshalb wurden ja die Strukturen so ausgeweitet. Alle Bewegungen, Regungen sollten rechtzeitig erfasst werden.«

Unverkennbar kam in den Äußerungen des früheren Generals das Bemühen zum Ausdruck, für die verfehlte Sicherheitspolitik der SED eine oder wenige Personen verantwortlich zu machen. Tatsächlich jedoch entsprach Mielkes Vorgehen voll und ganz der Grundkonzeption der SED. Egon Krenz, damals Sekretär des Zentralkomitees der SED und zuständig für Sicherheitsfragen, behauptete ebenfalls nach dem Herbst 1989, dass die Politik Gorbatschows zwar nach außen hin und in ihren großen Zügen befürwortet wurde, jedoch nicht in den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Um dies zu vertreten, so meinte er rückblickend, musste ein anderes Bild von der inneren Lage gezeichnet werden, wörtlich: »Wer Gorbatschows Politik nicht mitmachen wollte, musste in seinem Land eine andere Lage haben als er. Wir erklärten sein Vorgehen damit, dass er eine bestimmte Situation habe. Die hätten wir nicht, und deshalb müssten wir anders handeln.«

Das ging schließlich so weit, dass sowjetische Theaterstücke, Filme und zuletzt sogar die Zeitschrift »Sputnik«, die Beiträge aus der sowjetischen Presse in deutscher Sprache verbreitete, verboten wurden. Diese Entscheidung der Parteiführung löste überall im Land heftige Proteste aus, aber diese wurden von den Parteileitungen mit allen Mitteln niedergehalten. Mit den Kritikern wurden scharfe Aussprachen geführt und nicht wenige aus der Partei ausgeschlossen, wobei die Begründung zumeist nicht die Kritik am »Sputnik«-Verbot lieferte, sondern Äußerungen, die in diesen Aussprachen provoziert und dann als parteifeindlich deklariert wurden. Daran beteiligte sich auch die Parteiorganisation des MfS, in deren Reihen es ebenfalls vereinzelte Kritiker des Anti-Gorbatschow-Kurses der SED-Führung gab. Felber räumte ein: »Wir haben uns den Forderungen unseres Zentralkomitees letztlich angepasst.«

Auch Krenz konnte nicht leugnen, dass nicht nur einzelne Personen in der Führung versagten, sondern »dass insgesamt versäumt wurde, die Ganzheitlichkeit der Welt zu sehen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. So hat ein ganzes System versagt.« Er bezog das ausdrücklich auf den Umgang mit den oppositionellen Gruppen und der Kirche: »Hätten wir uns an Gorbatschow orientiert, wären wir früher in einen Dialog mit den Oppositionellen eingetreten, Und die Kirche hat uns doch die ganze Zeit geholfen. Ohne ihre mäßigende Rolle wären die Leute schon viel früher auf die Straße gegangen.«

Ein anderes SED-Politbüromitglied, Günter Schabowski, spitzte die Antwort noch zu: »Die Rolle der Opposition wurde von der Parteiführung nie wirklich reflektiert. Das waren für uns antisozialistische Kräfte – nichts weiter. Sie waren illegal, feindlich, und mit Illegalen wird nicht viel Federlesen gemacht. Dagegen wurden alle Machtmittel eingesetzt.« Und diese von der SED-Führung vorgegebene Einstellung prägte mehr oder weniger auch alle subalternen Funktionäre, Der im Ministerium für Staatssicherheit für die Bearbeitung der Kirche zuständige Oberst Jochen Wiegand schätzte – allerdings ebenfalls erst im Nachhinein – ein, dass die Pfarrer über die Sorgen und Nöte der Menschen viel besser Bescheid wussten als die Parteifunktionäre, »Die suchten oft überhaupt nicht die Nähe des Volkes«, sagte er, »einer erklärte mir einmal sogar: Mich interessieren nicht die, die nicht mit uns übereinstimmen, sondern nur die, welche mit uns gehen.«

Die ungeachtet partieller Kritik zumindest Ende 1988 noch bestehende relative Geschlossenheit der SED bestätigte auch Werner Fischer, einer der damals aktivsten Bürgerrechtler, in einem Interview für die kircheninterne Publikation »Umweltblätter« . Nach seiner Rückkehr aus westlichem Exil sah er keine Anzeichen von Liberalisierung: »Obwohl viele Funktionäre durch die neue Politik Moskaus wach geworden sind und es schon ein erhebliches Potential nachdenklicher Leute im Apparat gibt – was Hoffnung macht -, wird an der alten Machtpolitik festgehalten.«

Durften also die überall sichtbaren negativen Erscheinungen in der DDR und vor allem die wachsende Unzufriedenheit des Volkes keine vom sozialistischen System selbst produzierten Ursachen haben, so mussten diese anderen, äußeren Kräften angelastet werden. Mielke gab auch dazu in allgemeiner Form eine Vorgabe, als er in seiner Rede vor den Leitern der MfS-Kreisdienststellen die Hauptinitiatoren der »politisch-ideologischen Diversion« benannte: »Diplomaten, darunter abgedeckt tätige Geheimdienstmitarbeiter, und akkreditierte ständige sowie Reisekorrespondenten … aus dem Operationsgebiet (damit war die damalige Bundesrepublik gemeint – d. Verf.), einreisende hauptamtliche Geheimdienstmitarbeiter, Mitarbeiter sogenannter Ostforschungseinrichtungen, Polittouristen und andere.« Er rechnete dazu ausdrücklich die Politiker verschiedener Parteien und stellte fest, die subversive Tätigkeit erfolge »nicht nur durch führende imperialistische Kreise und ihre Organe und Institutionen. Die Sozialdemokratie, die Grünen bis hin zur Kirche sind ebenfalls bestrebt, die Umgestaltungsprozesse, die inneren Entwicklungsprobleme und Schwierigkeiten in einzelnen sozialistischen Ländern zu nutzen, um ihre antisozialistischen Pläne und Absichten durchzusetzen.«

Diese allgemeine Orientierung ihres Ministers konkretisierten die einzelnen Stasi-Diensteinheiten dann entsprechend den jeweiligen Bedingungen, und nicht selten wurde dabei noch eins drauf gesetzt. Für die Bezirksverwaltung Berlin war somit Anfang 1989 bereits klar: »Ausgehend von unseren Erkenntnissen der vergangenen Jahre ist zu erwarten, dass von den imperialistischen Geheimdiensten, den Zentren der politisch-ideologischen Diversion, von rechts- und pseudolinken Gruppen und Einzelpersonen sowie anderen feindlich-negativen Organisationen Aktivitäten zur Störung der politischen Höhepunkte im 40, Jahr des Bestehens unserer Republik unternommen werden.« Und als ersten Gegner machten die Berliner Tschekisten die Massenmedien der Bundesrepublik aus: »Die mittels der gegnerischen Punkmedien immer umfangreicher geführte politisch-ideologische Diversion ist in ihrer Gesamtheit darauf ausgerichtet, die Partei und die DDR zu verleumden und ihr internationaler Ansehen herab zuwürdigen, der Partei- und Staatsführung vor allem ›Dialogunfähigkeit‹ zu unterstellen. In den Berichten und Kommentaren gegnerischer Funkmedien wird intensiver als je zuvor versucht, Unmut gegen die Innenpolitik der Partei und Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR zu stimulieren. Die Partei sei nicht bereit, so die Hauptthese des Gegners, sich neuen gesellschaftlichen Erfordernissen zu stellen und fürchte einen umfassenden Dialog mit den Werktätigen.«

Ähnlich vereinfacht wurden auch die anderen »gegnerischen Kräfte« betrachtet, zum Beispiel die zahlreichen Menschen der Bundesrepublik, die die damalige DDR besuchten. Die Berliner MfS-Bezirksverwaltung stellte fest, dass die Einreise von westlichen Jugendgruppen und Einzeltouristen vor allem diene,
»- zur Verbreitung antikommunistischer Argumente, bürgerlicher Lebensvorstellungen und sogenannter alternativer Auffassungen unter unseren jungen Menschen,
– zur Beschaffung von Informationen über familiäre und soziale Bedingungen, den Freizeit-, Ausbildungs- bzw. Arbeitsbereich der Jugend der Hauptstadt,
– zur Entwicklung bzw. Festigung von Kontakten mit antisozialistischer Ausrichtung …«
Inhaltlich müsste sich deshalb das Ministerium vorbereiten auf
»- eine Zunahme von Diskussionsinhalten zur angeblichen Wiedervereinigung, zu Fragen der Nation, zur Bedeutung der Musik als nationales Kulturelement usw. ,
– noch konkretere Kenntnisse bzw. Pseudokenntnisse der Jugendlichen über das reale Leben im Sozialismus mit all seinen Problemen. Diese Kenntnisse können den Einreisenden durchaus den direkten persönlichen Zugang zu den Alltagsproblemen unserer Jugendlichen erleichtern, weil sie eine scheinbare Glaubwürdigkeit unterstützen,
– noch intensivere Auswertung und Erfassung geschlossener Kontakte durch feindliche Stellen, die Förderungsmittel bereitstellen.«

In analoger Weise enthielten sämtliche einschlägigen Befehle, Richtlinien usw. dieses Indoktrinationsmuster: Immer musste der Angriff von außen erfolgen. Die vorgeblich makellose innere Beschaffenheit der DDR konnte nur durch äußere Einflüsse zum Negativen verändert werden. Und genau das galt es abzuwehren. Solche Auffassungen wurden von der übergroßen Mehrheit der MfS-Mitarbeiter ernst genommen. Ex-Generalmajor Felber sah das sehr simpel: »Die Mitarbeiter des Ministeriums wollten die DDR zum Guten hin verändern. Sie glaubten, dass die oppositionellen Gruppen die DDR zerstören wollten. Bärbel Bohley war für uns natürlich ein Feind, der die DDR liquidieren wollte. Einzelne Aussagen dieser Oppositionellen, die wir hätten akzeptieren können, betrachteten wir als taktische Formulierungen, denen kein Glauben zu schenken sei.«

So konnte sich gegen jeden gesunden Menschenverstand die von Melke vorgegebene Linie durchsetzen. Das MfS stand zu seinem Dienstherrn, der SED, und es folgte – wenn vielleicht da und dort auch widerwillig – den Weisungen und Befehlen des Ministers Melke. Allerdings erkannten immer rnehr Mitarbeiter angesichts der Realität des Jahres 1989 ihre Hilflosigkeit, das Sinnlose ihres Tuns. Doch sie konnten und wollten sich nicht aus den Fesseln lösen, in denen sie gefangen waren. Der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung Berlin des MfS, Oberst Zeiseweis, schilderte später, dass er schon 1988 außer während Kur und Urlaub an jeden Sonnabend und jedem zweiten Sonntag Dienst gemacht hatte. »So ging es auch vielen anderen. Trotzdem hat kaum einer gemurrt, weil sie gesehen haben, dass es nicht anders geht. Wenn wir die Dinge nicht aufhalten, wussten sie, konnte nur der Kapitalismus herauskommen, und den wollte keiner.« Zwar hätten viele der offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter wachsende Zweifel an der Richtigkeit dessen gehabt, was sie taten. »Die Skrupel vieler Mitarbeiter in ihren Beziehungen zu den Leuten, die sie bearbeitet haben, nahmen zu«, sagte er. »Sie haben oft gefühlsmäßig mit diesen Leuten gebangt. Sie hatten im Laufe der Zeit feste emotionale Bindungen zu ihnen ausgebildet und sahen zugleich die immer geringere Wirksamkeit unserer Maßnahmen, dass staatlicher Druck immer wirkungsloser wurde.

Auch Manfred Stolpe hatte von kirchlichen Vertretern, die Kontakte zur Staatssicherheit unterhielten, erfahren, dass es innerhalb des MfS Anzeichen von Missvergnügen und Kritik an der Haltung der eigenen Führung gab. »Angesichts ihrer genauen Lagebeurteilung haben sie wohl die Aussichtslosigkeit ihres Handelns zunehmend erkannt«, kommentierte er das. Dennoch machten die MfS-Mitarbeiter in ihrer übergroßen Mehrzahl weiter. Ex-General Felber versuchte, diese Entwicklung vor allem mit – zweifellos vorhandenen – pathologischen Zügen im Denken und Verhalten , Mielkes zu erklären: »Mielke wies an, dass tausend in Bereitschaft zu stehen hatten. Bei jeden größeren Ereignis war eine ›Tiefensicherung‹ zu organisieren. Er hatte Freude daran, Menschen und Truppen zu bewegen. Er empfand Genugtuung, wenn er Macht ausüben konnte.«

Im Herbst 1988 versuchte die Stasi-Führung noch einmal, den Apparat voll auf ihre verderbliche Linie auszurichten. Das gelang, was das Ministerium selbst anging. Das gelang auch im wesentlichen dem Parteiapparat hinsichtlich der SED und den Staatsorganen. Ein ganzes Volk konnte aber auf diese Weise nicht unter Kontrolle gebracht werden, und oppositionelle Gruppen mit ihrer Phantasie und Unberechenbarkeit für den Staat schon gar nicht. Der schon genannte Zeiseweis definiert mit einem gewissen Respekt des Begriff »Politische Untergrundtätigkeit«, mit dem das oppositionelle Wirken bezeichnet wurde: »Dies war eine geschickte Verbindung von offiziellem Tätigwerden und konspirativem Wirken. Je mehr eine Opposition durch den Staat bedrängt wird, desto mehr ist sie dazu gezwungen, illegal zu arbeiten. Und das taten sie.«

Die Bürgerrechtsgruppen, die Kirchen und andere Oppositionelle konnten ach dabei auf immer größere Zustimmung der Bevölkerung stützen. In dem Maße, wie staatliche Repression wuchs, die Sicherheitsorgane immer neue, immer abwegigere Argumentationen vorlegten, mit denen sie ihr zunehmend repressives Vorgehen begründeten, in dem Maße entwickelte sich auch der Widerstand, der zunächst vor allem in einer Zuwendung zur Opposition zum Ausdruck kam. Das hatte sich bereits im Sommer 1988 gezeigt, als die Tätigkeit kirchlicher und anderer
oppositioneller Gruppen allmählich anwuchs. Beispielhaft dafür ist der Kalender »subversiver Aktivitäten« des Monats Juni 1988, wie ihn die Berliner MfS-Bezirksverwaltung dem ersten SED-Sekretär Schabowski und anderen hohen Parteifunktionären mitteilte. Die Aufstellung enthielt unter anderem:
„1. 6. Gemeindeveranstaltung in der Kirchgemeinde Alt-Pankow zum Thema ‚Coventry‘
2. 6. Treffen von Übersiedlungssersuchenden (ÜE) in der Berliner Stadtbibliothek (Nutzung einer Veranstaltung der ›Urania‹, Thema: ›Vertrauensbildung als Sicherheitsfaktor‹)
3. 6. Zusammenkunft der IFM (Initiative für Frieden und Menschenrechte – d. Verf.) mit MdB, Fraktion ›Die Grünen‹, Dr. Wilhelm Knabe, in der UB (Umweltbibliothek – d. Verf.)
4. 6. Diskussion über Dokument ›Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit‹ in der UB
5. 6. Gottesdienst mit ÜE in der Sophiengemeinde
7. 6. Eröffnung einer Ausstellung ›Malerei und Grafik – Bärbel Bohley‹ in der UB
9. 6. Vortrag und Diskussion zum Thema ›Internationaler Währungsfonds‹ in der UB
12. 6. Gottesdienst mit ÜE in der Bekenntnislärche / Beginn der Festwoche anlässlich des 275jährigen Bestehens der Sophienkirche vom 12. bis 19.6. mit Gottesdiensten, Orgelkonzerten, Nachmittagen für Ältere, Bläsermusik, Märchenkomödie, Sommerfest, Chorsingen, Filmen ›Über
unseren Kietz‹
13. 6. Veranstaltung des ‚Friedenskreises Friedrichsfelde zumThema ›Golfkrieg‹ in der Gemeinde Alt-Friedrichsfelde
14. 6. Veranstaltung zur ›Geschichte und Gegenwart Rumäniens‹ in der UB
18. 6. Sommerfest des ›Friedenskreises Friedrichsfelde‹ mit Liedermachern, Theater und Basar der Möglichkeiten in der Gemeinde Alt-Friedrichsfelde
19. 6. Gottesdienst mit UE in der Gethsemanekirche
21.6. Gedenkandacht zum Thema ›Frieden und Gerechtigkeit‹ in der Gethsemanekirche
24.6. Gemeindefest der Kirchgemeinde Alt-Pankow im ›Supturgarten‹ in Berlin-Pankow (Superintendentur)
26. 6. ›Friedenswerkstatt‹ in der Erlöserkirche / Lesung mit Elke Erb in der UB / Gottesdienst mit ÜE in der Sophienkirche
28. 6. ›Die Narzissenkönigin‹ – ein Plädoyer für Phantasie (.alternatives Theater) in der UB
30. 6. Thema I über ›SO 36‹ (Kreuzberg) unter dem Titel ›Ein Haus haben‹ in der UB‹.

Diese Veranstaltungen und ihre zunehmende Resonanz bei den Bürgern waren die Voraussetzung dafür, dass sich die oppositionellen Kräfte im Herbst/Winter 1988/89 immer besser formieren, ihre Aktivitäten noch weiter räumlich und inhaltlich ausdehnen konnten und ihre Organisation verbesserten – wichtige Grundlagen für die entscheidenden Ereignisse des Jahres 1989, die die bereits bröckelnde Wagenburg gänzlich zerstören sollten.

One Reply to “Vor 20 Jahren – Realitätsverlust in der »Wagenburg«”

  1. Ein nicht unerhebliches Maß an Realitätsverlust in der „Wagenburg“ kann man auch heute bei der politischen Führung in Deutschland und anderswo in der kapitalistischen Welt ausmachen, allerdings nur wenig von stärker werdenden oppositionellen demokratischen Kräften, die sich dem erfolgversprechend entgegenstemmen könnten.

    Die vielgestaltige und hoch variable Propagandamaschine der Mielkes in den Schaltzentralen der politischen und wirtschaftlichen Macht mit angeschlossener umfassender Public-Relations läuft auch angesichts der verheerenden und blamablen internationalen Finanzmarkt- und Bankenkrise und der rigoros durchgesetzten milliardenschweren Rettungsmaßnahmen für die „kapitalistischen Ausbeuter“ nach wie vor wie geschmiert – und die Bevölkerung schaut nur fassungslos zu, wie sich reihenweise „Management-Böcke“ zu „Reform-Gärtern“ machen.

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