Wie sich die EU selbst den Gashahn zudrehte

Das Geschrei ist groß derzeit in den führenden EU-Gremien: Russland habe Europa den Gashahn zugedreht. Man werde erpresst. Tausende EU-Bürger, vor allem in Osteuropa, müssten unter russischer Willkür leiden. Mit der Wahrheit hat derlei Propaganda wenig zu tun, denn tatsächlich war es die Europäische Union selbst, die sich den Gashahn zudrehte – indem sie den wirklich Schuldigen unter ihre Fittiche nahm. Neu ist das freilich nicht. Es ist vielmehr die Wiederauflage eines Szenarios, das wir bereits im Sommer um Georgien erlebten. Auch damals wurde der Aggressor flugs zum Opfer umstilisiert, und Russland, das gewiss in beiden Konflikten auch eigene Interessen vertritt, zum Täter erklärt.

Hintergrund ist der unausrottbare Trieb der meisten EU-Staaten, in Russland von vornherein den Bösewicht zu sehen, die Welt also wie vor zwanzig Jahren noch immer aus ideologischer Sicht zu betrachten. Man wird die alten Feinbilder nicht los, in denen man sich so bequem eingerichtet hatte – und vergisst darüber sogar die eigenen Interessen, zum Beispiel nach ungestörten Gaslieferungen. Dass darunter Menschen leiden, in der Regel auch hier die Ärmsten der Armen interessiert dabei nicht. Hauptsache, man kann das gewohnte politische Spiel fortsetzen.

Begonnen hatte es Ende Dezember 2008 damit, das die Ukraine ziemlich überraschend die Verhandlungen über ein neues Lieferabkommen für 2009 abbrach. Man dazu wissen, dass das Land bisher 179 US-$ für 1000 Kubikmeter russisches Gas zahlte – ein Preis, der historische Ursachen in alten Sowjetzeiten hat und mehr als 200 US-$ unter dem europäischen Gaspreis (zwischen 400 und 450 US-$) liegt. Schon 2006, als es zu einem ähnlichen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine kam, ging es um diesen Preis, der schrittweise auf das europäische Niveau angehoben werden sollte, bisher aber noch bei den genannten 179 US-$ verharrte. Russland bot nun eine Preiserhöhung auf 250 US-$ an, was noch immer weit unter den in Europa üblichen Preisen liegt. Doch die Ukraine lehnte das ab und fordert, wiewohl sie sonst ihre Unabhängigkeit vom östlichen Nachbarn nicht lautstark genug betonen kann, in dieser Frage weiterhin einen »Freundschaftspreis«, ohne freilich in ihrer offiziellen Politik freundschaftliche Gefühle erkennen zu lassen, ganz im Gegenteil. Die Ukraine ließ in den vergangenen Monate keine Chance ungenutzt, das Verhältnis zu Russland zu belasten, was selbst im eigenen Land auf zunehmende Ablehnung stößt. Dass Russland angesichts dieser Situation weiterhin einen »Freundschaftspreis« von gerade der Hälfte des europäischen Ölpreises anbot, grenzt schon beinahe an Selbstverleugnung. Man frage die westeuropäischen Gaserzeuger, wem sie derart günstige Konditionen gewähren.

Doch die EU-Größen focht das nicht an; sie verlangten von Russland weiterhin Zugeständnisse an die Ukraine. Davon zeigte sich Kiew sehr angetan und verschärfte die Situation nun dadurch, dass es von dem Gas, das Russland weiterhin durch die ukrainische Pipeline nach Westeuropa fließen ließ, einfach einen Teil für eigene Zwecke abzweigte, dies jedoch lautstark leugnete. Die EU fand auch dies ganz in Ordnung, zumindest öffentlich, und schob Russland die Schuld dafür zu, dass nun weniger Gas im Westen ankam. Daraufhin kürzte Russland die Lieferungen durch die Ukraine zusätzlich um die von Kiew abgezweigte Menge und forderte das Transitland auf, den Rest wieder ins Netz einzuspeisen. Nun hob die Ukraine, gewiss nicht ohne vorherige Konsultationen mit Brüssel, den ganz großen Knüppel und schloss alle Transitleitungen über sein Territorium. Es war also die Ukraine, die den Gashahn zudrehte, mit tatkräftiger Unterstützung ihrer EU-Freunde. Um das zu bemänteln, wurde ein Desinformationsnetz über die Angelegenheit gespannt und die genannte Medienkampagne auf den Weg gebracht.

Damit jedoch ist das Drama noch lange nicht zu Ende, denn jetzt wurde die EU vom parteiischen Beobachter zu einem ebensolchen Akteur. Man schlug vor, die Streifrage, ob und wieviel Gas durch die Leitungen fließt, von Beobachtern klären zu lassen. Dem stimmte Moskau zu, Kiew jedoch nur zu Bedingungen, die ihm erlauben sollten, sein Spiel unter dem wohlwollenden Auge der EU fortsetzen zu können. So verlangte die Ukraine, russische Beobachter dürften nicht beteiligt sind, was überhaupt keinen Sinn ergibt, weshalb Moskau dies ablehnte. So musste auch die Ukraine zustimmen, aber sie verweigerte jetzt die Unterschrift unter eine solche bindende Vereinbarung, und die EU fand auch, es genügten mündliche Absprachen, obwohl der gesamte Verlauf der Affäre das absolute Gegenteil nahe legt. Eine Lösung sei nicht in Sicht, und obwohl es offensichtlich nur an der ukrainischen Unterschrift unter ein bereits vereinbartes Papier bedarf, tut sich nichts. Der derzeitige tschechische EU-Ratspräsident Topolanek reiste nach Moskau und erklärte dort und nicht etwa in Kiew, wo der Schlüssel zur Klärung der Angelegenheit liegt, lautstark, er werde die Region nicht eher verlassen, ehe nicht wieder Gas fließe.

Natürlich nutzt Russland weidlich die Vorlage, die ihr die Ukraine gab und die das ideologisch geprägte EU-Handeln noch verlängert. Das Land hat auch gelernt, dass es durch Entgegenkommen und Wohlerhalten nichts gewinnen kann, weil westlicherseits immer nach Haaren in der Suppe gesucht wird, die man dann zu dicken Schiffsseilen aufzwirbelt. Deshalb steht zu erwarten, dass Moskau die Krise jetzt bis zum Ende ausreizt, etwa nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Die Schuld daran trägt der Westen, der auf jegliche differenzierte Reaktion auf russische Politik verzichtete und stets und vollständig für den jeweiligen Kontrahenten Russlands Partei ergriff – so fragwürdig das im Einzelfall auch war. Dass solches Vorgehen am Ende scheitern muss, war absehbar. Auch beim gegenwärtigen Gasstreit wird Russland seine Ziele durchsetzen und die europäische Union eine blamable Niederlage erleiden.

2 Replies to “Wie sich die EU selbst den Gashahn zudrehte”

  1. Auch die manchmalige Anbiederung ehemaliger Ostblockstaaten an den Westen scheint eben noch von „offenen Rechnungen“ aus der Sowjetzeit geprägt zu sein. So wird man der „neuen Zeitrechnung“ aber nicht gerecht.

  2. Man sollte der Vollständigkeit halber den obigen an sich sehr guten und objektiven Artikel um die Information ergänzen, daß für Ukraine i.d.R. der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko stehen sollte.
    Er besitzt ähnliche Vollmachten wie der US-Präsident und kann gegen Parlament und Ministerpräsidentin ohne eigene Mehrheit regieren, was er speziell in diesen Fall des öfteren tat.

    Gruß
    Peson

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