Vom Ausverkauf der Selbstachtung

Maxim Gorki Theater spielt Ödön von Horvàths GLAUBE LIEBE HOFFNUNG. Es pro­voziert damit einen Vergleich zwischen München 1930 und Berlin 2009, zwei deutschen Orten, in denen eine Weltwirtschaftskrise das Schicksal des entfremdeten Menschen bestimmt, weil Unvorhersehbares geschah und heute davor gewarnt werden sollte.

Der Schriftsteller Ödön von Horvàth gab seinem 1932 erschienenen neunten Theater­stück den Untertitel »Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern«. Es zählt neben den ein Jahr zu­vor herausgekommenen, später auch verfilmten und inzwischen weltberühmten »Geschichten aus dem Wienerwald« sowie »Kasimir und Karoline« zu den bekanntesten der etwa zwei Dut­zend Stücke, mit denen der in Fiume (heute Rijeka, Kroatien) in einer österreichisch-ungari­schen Diplomatenfamilie geborene Edmund (Ödön) Josef von Horvath in die sozialpoliti­schen Vorgänge seiner Zeit künstlerisch eingriff.
Zu schreiben begonnen hatte der mit seiner Familie über die Stationen Pressburg, Budapest und München nach Wien gekommene Absolvent eines erzbischöflichen Internats im Jahre 1920. »Das Buch der Tänze«, »Mord in der Mohrengasse« und »Zur schönen Aussicht« waren seine ersten Werke, die er in Berlin, Salzburg und im oberbayrischen Murnau verfasste.
Der Dichter, Dramatiker und Buchautor ging nach Hitlers Machtergreifung 1933 weg aus Deutschland. Er lebte dann in Österreich, das er nach dem »Anschluss« 1938 in Richtung Pa­ris verließt. Dort wurde er, das Schicksal hat es nicht gut mit ihm gemeint, Anfang Juni während eines abendlichen Gewitters auf den Champs-Elysèes von einem herabstürzenden Ast erschlagen.

Enttäuschte Hoffnungen

Dialog der Gegensätze zwischen Anika Baumann als Elisabeth (l.) und Ursula Werner als Irene Prantl.
Dialog der Gegensätze zwischen Anika Baumann als Elisabeth (l.) und Ursula Werner als Irene Prantl.
In dem Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG wird die junge hoffnungsfrohe, ener­gisch an Liebe und Hoffnung sowie Glück und Selbstverwirklichung glaubende Elisabeth (Anika Baumann) nicht das Opfer eines Gewitters. Jedenfalls nicht eines Gewitters, das vom Himmel aus den Menschen vom Leben zum Tode befördert. Die attraktive Frau scheitert in einer Hochphase von Rezession und Arbeitslosigkeit an den damit verbun­denen bürokratisch-menschenfeindlichen Zeit-Umständen und den davon auch geprägten Mit-Menschen. In ihren verzweifelten Bemühun­gen um einen Job gerät sie an Typen wie die Mie­derwaren-Kleinunternehmerin Irene Prantl (Ursula Werner), den Präparator (Leon Ullrich), einen Schupo (Michael Klammer) und den tollkühnen Allerweltskerl und Lebensretter Joachim (Wolfgang Hos­feld).
Diese und andere Personen verkörpern in fünf Räumen (ANATOMISCHES INSTITUT, KON­TOR; WOHLFAHTRTSAMT, WOHNUNG, POLIZEIREVIER) unterschiedlich, aber gleichsam Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren eines Systems, das – im Falle der Elisabeth – den tödlichen Kreislauf zu seinem Funktionsprinzip macht: Die junge Frau braucht Geld für einen Wandergewerbeschein, um arbeiten zu können. Und sie braucht Arbeit, um Geld fürs Leben zu verdienen. Alle ihre noch so intensiven Bemühungen, diesen Kreislauf zu durchbre­chen, sind letztendlich doch vergeblich. Horvàths fünf Raum-Bilder sind quasi fünf Mosaik­steine einer Welt ohne Schlüssel für ein menschenwürdiges Dasein.

Unfassbare Staatsmaschinerie

Beim Anatomischen Institut versucht die Hauptperson – vergeblich – ihre Leiche zu verkaufen. Aus dem Kontor wird sie von der Prantl auf die Straße gesetzt, weil sie als Betrü­gerin gilt. Vor dem Wohlfahrtsamt trifft sie auf ein Panorama beschädigter Personen, deren Not in einem zwingenden Zusammenhang mit dem behördlichen Formular steht – das man bekommt oder eben auch nicht. Mit dem Schupo unternimmt sie in der Wohnung einen Ver­such, »Liebe als Zweckgemeinschaft« und Überlebenschance zu leben. Zugleich könnte es als eine Flucht aus dem bürokratischen Moloch der unfassbaren Staatsmaschinerie gedeutet wer­den.
Der Beziehung fehlt aber das staatlich verordnete Siegel der Ehe, dem Schupo mangelt es an Größe, denn für ihn hat das leblose Wort Karriere mehr Gewicht als das lebendige Wort Liebe. So gesehen ist also auch der Schupo »nicht zuständig« für eine menschenwürdige Existenz. Beim Polizeirevier versammeln sich die Leute, nachdem Elisabeth aus dem Kanal gezogen wurde, um zu erleben, wie die „Sache mit der jungen Frau« ausgehen möchte. Noch lebt sie, aber dann stirbt sie doch…

Unmoral als Überlebenschance

Auch das scheinbare Glück in den Armen des tollkühnen Lebensretters (Wolfgang Hosfeld) ist für Elisabeth  nur von kurzer Dauer. Fotos: MGT
Auch das scheinbare Glück in den Armen des tollkühnen Lebensretters (Wolfgang Hosfeld) ist für Elisabeth nur von kurzer Dauer. Fotos: MGT

Horvàth hatte die Anregung für das Stück im Februar 1932 vom Münchner Gerichts­reporter Lukas Kristl bekommen, der ihm vom authentischen Fall um die wegen Betrugs zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilten Miederwarenvertreterin Klara Gramm erzählte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreicht, in Deutschland lag die Arbeitslosenquote bei 29,9 Prozent! Wie heute bekannt, aber damals in seinen Konsequenzen noch unvorstellbar, zog vor dem Hintergrund der politischen Instabilität und der damit verbundenen harten öffentlichen Auseinandersetzungen der Nationalsozialis­mus mit dem Weltkriegsgefreiten Hitler an der Spitze ins Parlament. Und dann mit großem Tempo auch ins Bewusstsein einer deutschen Volksmehrheit ein.
Das dramatische Oeuvre der künstlerischen Mitteilung von Horvàth liegt im sozial­politischen Grundkonflikt, den er an Einzelschicksalen perspektivloser Kleinbürger und von Frauengestalten deutlich zeichnet. Es sind die Bilder eine entfremdeten Gesellschaft, die uns auf dem Theater in den Volksstücken begegnen. In einem System, das den Einzelnen nur als Gewinner akzeptiert und dessen Moral davon entscheidend geprägt ist. Die Logik der Verhältnisse macht Unmo­ral zur Überlebenschance. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, wird im GLAUBE LIEBE HOFFNUNG erkennen, dass Horvàths München von 1930 mit dem Berlin des Jahres 2009 auf neue und andere Art identisch ist.

Rudolf Hempel
Der Beitrag erscheint gekürzt in Ausgabe 3/09 der Berliner LOKALNACH­RICHTEN, die Ende der zweiten Februarwoche herauskommt.

One Reply to “Vom Ausverkauf der Selbstachtung”

Comments are closed.