Theater zwischen Regie und Schiri

In London hat sich in einem Theater jüngst zugetragen, dass ein Zuschauer während der Aufführung aufsprang und an eine Wand neben der Bühne urinierte. Anderswo kommt in britischen Bühnenhäusern vor, dass Besucher ungeniert schwatzen, telefonieren und piepsend SMS versenden oder im Theatersessel ein »übertrieben intimes Verhalten« an den Tag legen. Angeblich gesunkene Eintrittspreise und mitgebrachter Alkohol werden für solch ungewöhnliches Gebaren verantwortlich gemacht; auf eine weit näherliegende Ursache ist erstaunlicherweise noch keiner gekommen.

Kann es nicht sein, dass im heutigen Theater ein Effekt wirkt, der in der Müllentsorgungsbranche seit langem bekannt ist. Wenn jemand seinen Mülleimer irgendwo in der Natur entsorgt, finden sich alsbald Nachahmer, die den eigenen Unrat schnell hinzufügen – und in Kürze hat sich eine schwelende, stinkende Deponie entwickelt. Wer also auf offener Theaterbühne ein demonstrativ vorgeführtes Verhaltern sieht, das daheim aus gutem Grund verpönt ist, hier jedoch in keinster Weise geahndet, sondern im Gegenteil noch lustvoll eskaliert wird, sieht sich vielleicht eingeladen, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten. Wer Enthemmung kunstvoll zelebriert, darf sich nicht wundern, wenn beim Betrachter die nächstliegende Wirkung eintritt.

Wer in solcher Deutung der konstatierten Verlotterung des Theaterbetriebs sogleich eine Frontalangriff auf das derzeit wieder einmal heftig diskutierte Regietheater vermutet, irrt freilich. Allein schon der von Freund wie Feind kreativer Aneignung und Übereignung alter Theatertexte gern so beliebig pauschal verwendete Begriff des Regietheaters führt in die Irre, bedient sich doch jedes Theater eines Regisseurs – angefangen bei der Erzieherin im Kindergarten, die den kleinen Prinzen, Zwergen und Geißlein sagt, wie sie laufen, umfallen, schreien und lachen sollen, und noch nicht endend beim heutigen Großregisseur, für den Mephistos Hexenküche eine Call-Center ist, in dem statt teuflischem Sud existenzvernichtende Kreditverträge zusammengekocht werden. Da lässt sich nur jede Szene für sich bewerten – wie es der Schiri auf dem Fußballfeld mit Pfiff und roter Karte tut; jedes Pauschalurteil über Regietheater als solches verbietet sich.

Denn nicht dass im Theater Regie geführt wird, ist das Problem, das viele jedoch gern dazu vereinfachen, um desto heftiger auf den Gegner einschlagen zu können, sondern wie Regie geführt wird. Nicht zuletzt angetrieben von der medialen Konkurrenz glaubt mancher so genannter Regisseur, er müsse zum Stück noch etwas hinzuerfinden, das noch niemand darin gesehen hat, nicht einmal der Autor selbst. Und so sucht er beharrlich nach jenen Abgründen, die sich nur ihm auftun; kein Wunder, dass das oft in einem Absturz endet. Derlei Regisseure offenbaren mit ihrer zwar bombastisch aufgeblasenen, gerade deshalb aber hohl bleibenden Inszenierungsart ihre Phantasielosigkeit gleich auf zweierlei Weise. Zum einen, indem ihnen nicht etwa ein eigenes Stück zur Darstellung ihres vermeintlichen Ideenvorrats einfällt; sie stützen sich auf die Schöpferkraft eines wirklichen Genies, dessen Werk nach ihrer »Bearbeitung« freilich nicht selten von allem Genialen so gründlich gereinigt ist, dass mitunter nur noch die Genitalien übrig bleiben. Und zum anderen finden sie nur selten ganz eigene Bilder zur Veranschaulichung der benutzten Gedanken; oft weichen sie aus auf Methoden, die in anderen Medien längst durchdekliniert sind und nun als müder Abklatsch – zum Beispiel endlosen Videowänden – auf der Theaterbühne jämmerliche Urständ feiern.

Gutes Regietheater hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass es den Text des Autors ernst nimmt, in ihm all jene Botschaften aufspürt, die die Zeiten überdauern, und sie so auf die Bühne bringt, dass sie auch heutigen, durch die Gegenwart geprägten Zuschauern etwas sagen. Historischer Kostüme bedarf es dazu nicht, der Sätze des Dramatikers aber wohl. Zusätzliche Textbeigaben verraten nur die Arroganz des Regisseurs, der seine Zuschauer für dümmer hält als sich selbst, weshalb er sie mit der Nase auf das stupsen will, was sie ohne ihn doch nie verstehen würden. Und was oft weit von dem entfernt ist, was der Text des Stückeschreibers tatsächlich sagen will.

Denn sagen will der in der Regel etwas über seine Zeit und ihre Verwerfungen. Diesen politischen Gehalt jedoch eliminiert der narzisstische Regisseur so weit wie möglich zugunsten seiner Selbstbespiegelung und betreibt mit dieser Entpolitisierung des Theaters dessen Weg in unverbindliches Entertainment für ein gehobenes Publikum. Das Theater der schlechten Regisseure betreibt insofern genau das, was es zu überwinden vorgibt. Es will die heile Bühnenwelt des Bildungs-Bürgertums zerstören und ersetzt sie durch schockierend-modernistisches Gehabe, das dem neuen Pseudo-Bildungs-Bürgertum chic scheint – so wie beispielsweise die analogen Hervorbringungen bildender Kunst, von denen es auch nichts versteht – außer die horrenden Preise.

Ganz praktisch kann man die unterschiedlichen Qualitäten von Regietheater übrigens in Berlin studieren. Die Zweckentfremdung des Schauspielhauses zum Urinal würde vermutlich in der Volksbühne überhaupt nicht auffallen, sondern als Regie-Gag durchgehen, der schenkelklatschenden Applaus zur Folge hätte. Im Berliner Ensemble hingegen könnte man sich eine solche Zugabe kaum vorstellen – und sei es nur, weil die dortigen beengten Verhältniss im Zuschauerraum kaum eine solche Positionierung des Pinklers zulassen, die für seine volle Wirkung unerlässlich ist. Was allerdings nicht heißen soll, dass an dem einen Ort nur gutes und am anderen nur schlechtes Theater gemacht wird, und umgekehrt. Regie wird schließlich da wie dort geführt.

3 Replies to “Theater zwischen Regie und Schiri”

  1. Es soll ja auch schon mal bühnenreife Auf- bzw. Fehltritte von „blaublütigen Pinkelprinzen“ gegeben haben. 😉

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