Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft und das Elend des Sportjournalismus

Wer sich die Zeit nahm (und das Geld aufbrachte), einige der Entscheidungen der Leichtathletik-Weltmeisterschaften im Berliner Olympiastadion unmittelbar zu erleben, andere jedoch im Fernsehen betrachtete und dabei die Kommentare der so genannten Sportreporter nicht vermeiden konnte, hat einen zusätzlichen Eindruck vom traurigen Zustand des Sportjournalismus hierzulande erhalten. Er verstärkt sich in der Regel noch, wenn man sich die gedruckten WM-Berichte zu Gemüte führt. Denn die meisten der Sportjournalisten scheinen inzwischen ihr Ressort mit der Rubrik »Vermischtes« zu verwechseln. Nicht die sportliche Leistung, ihre Voraussetzungen und Umstände interessieren sie, sondern allein das Drumherum, das farbkräftig ausgemalt wird, um es im nächsten Satz einer vernichtenden Kritik zu unterziehen. Man zeigt den Sportler vorwiegend im Show-Kostüm und mäkelt gerade daran unaufhörlich herum – so als sei der Athlet nicht mehr als der Superstar einer Casting-Show, allenfalls wert, der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden.

Am deutlichsten wird dies am jamaikanischen Sprinter Usain Bolt. Zu ihm als Sport-Phänomen hat die Medienzunft in der Regel nichts zu sagen. Man hört und liest kaum etwas über seine für den Sprint ideale körperliche Konstitution, über Bolts Training und dessen Härten, aber auch Innovationen, über seine psychische Einstellung usw. Allenfalls Doping-Verdächtigungen, die ungeachtet mangelnder Beweise immer wieder gestreut werden; man wundert sich schon, dass noch niemand Jesse Owens, der zu seiner Zeit ganz ähnliche Wunderleistungen erzielte, mit verbotenen Substanzen zu Verbindung brachte. Niemand reflektiert darüber, dass die Natur keine Grenzen akzeptiert, sondern eine unaufhörliche Abfolge von Grenzüberschreitungen ist, denen auch der Mensch unterliegt, der als einziges Lebewesen den Anspruch erhebt, Grenzen nicht nur zu definieren, sondern auch noch zu materialisieren – übrigens einer der Gründe für den beklagenswerten Zustand seiner Welt.

Statt dessen wird ein Usain Bolt zum Übernatürlichen erklärt, der erwünschte Ansatz für eine Show-Berichterstattung, die nicht ausführlich und detailliert genug sein kann. Jede Geste, jede Grimasse, jedes Assecoir seines Outfits wird genüsslich ausgemalt – natürlich voller Ekel und Verachtung. Man ruft laut »Scheiße!« und rührt doch gern darin herum. Die »Berliner Zeitung« beklagte wortreich, dass Bolt so viel mehr Aufmerksamkeit finde, als die Silbermedaillengewinnerin im Siebenkampf, Jennifer Oeser. Hat sie einmal nachgezählt, wie viele Zeilen sie selbst zu Bolt und wie viele zu Oeser auf das unschuldige Papier druckte? Der jamaikanische Sprinter ist für sie ein Geschenk des Himmel, bedient er die Journalisten doch gerade dort, wo sie nicht überfordert werden – bei der Performance seiner Auftritte; schließlich stehen sie zumeist verständnislos vor den sportlichen Aspekten seiner Leistung. Und Bolt selbst weiß das genau – wie auch, dass eigentlich ein 100-m-Lauf so ziemlich die langweiligste Sache der Welt ist. Acht Sprinter flitzen nach dem Startschuss dem Ziel entgegen, ohne sich in der Regel für den Nebenmann auch im geringsten zu interessieren, denn dazu ist in zehn Sekunden gar nicht die Gelegenheit. Einer gewinnt mehr oder weniger deutlich und wartet – wie das Publikum – nur auf die Zeit. Erst mit ihrer Bekanntgabe steht und fällt die Bewertung des Rennens – bei den Akteuren selbst und erst recht bei den Zuschauern. Liegt die Zeit deutlich über zehn Sekunden, erntet der Vorgang nur ein müdes Schulterzucken. Seine Interessantheit nimmt in dem Maße zu, wie die Zeit unter zehn Sekunden liegt – bis hin zum Weltrekord. Erst dadurch wird der Lauf mit Bedeutung aufgeladen. Zugegebenermaßen fällt es in diesem Falle selbst dem Experten schwer, die Leistung sachkundig zu erklären, aber die Journalisten versuchen es heutzutage gar nicht erst.

Usain Bolt, den viele für einen Kindskopf halten, wo er doch mit seinem Gefolge die aktuellen Mechanismen des Hochleistungssports wie kaum ein anderer begriffen hat und – einschließlich der Medienmeute – virtuos nutzt, dieser Usain Bolt weiß natürlich, dass er nicht jeden Tag Weltrekord laufen kann, um seine Disziplin interessant zu machen. Deshalb fügt er dem sterbenslangweiligen Kurzsprint, dem allerdings er mit seinem Laufstil eine besondere ästhetische Faszination verleiht, eine ganz eigene, seine Show hinzu und macht damit jeden seiner Läufe interessant – sei es der Vorlauf einer Weltmeisterschaft oder eines seiner Rennen bei einem gut bezahlten Meeting. Mit Sport hat das nur am Rande zu tun, doch ist Sport heute eben weniger der spannende, faire Wettkampf als ein kommerzialisiertes Spaßereignis, eben ein Fun-Event. So sehen es vor allem die Veranstalter, die damit viel Geld verdienen, so sieht es inzwischen auch ein großer Teil der Zuschauer, für die sich die Sportveranstaltung ziemlich nahtlos in die anderen Shows, die das Leben so bietet, einordnen muss, und so sehen es natürlich die Medien, weshalb ihre Sportberichterstattung nicht selten zu billigem Boulevardjournalismus verkommt.

Wer diese Glamourwelt allerdings stört, riskiert, von den Journalisten gnadenlos vorgeführt zu werden – ungeachtet aller Leistungen. Es passt zum fehlenden Gespür für die sportlichen Aspekte einer Höchstleistung, dass sich offensichtlich niemand in den Redaktionen vorzustellen vermag, wie störend sich sachfremde Faktoren auf die Vorbereitung eines Sportlers auf ein Großereignis auswirken können. Als Robert Hartings Trainer Werner Goldmann vor 20 Jahren seine Tätigkeit für den DVfL der DDR und damit auch seine Beteiligung an Dopingmaßnahmen beendete, war Harting fünf Jahre alt. Ihn hat Goldmann ohne Stimulanzien, allein durch seine Fähigkeiten als Trainer, zum Weltmeistertitel geführt. Dennoch fanden sich nicht wenige, die über diesen erfolgreichen Trainer einen lebenslänglichen Bann verhängen wollten – und damit dem an der ganzen Sache völlig unschuldigen Harting schadeten, und das in der Periode der Vorbereitung auf seinen bislang wichtigsten Wettkampf. Es zeugt zumindest von außerordentlicher fachlicher Ignoranz der Beteiligten, einschließlich der Journalisten, dass dies nicht verstanden und im Gegenteil versucht wurde, eine Kampagne gegen den Diskuswerfer loszutreten – ein Bestreben, das durch seinen Weltmeistertitel keineswegs aufgehoben, sondern nur aufgeschoben sein dürfte.

Wie wenig viele Journalisten nicht der Sportler, sondern nur ihre eigene, vermeintlich exklusive Story interessiert, zeigt auch der Fall der Hochspringerin Ariane Friedrich. Ihre Empfänglichkeit fürs Kapriziöse wurde gnadenlos ausgenutzt und sie in eine Rivalität mit ihrer kroatischen Konkurrentin Blanka Vlasic getrieben, die jedes sportliche Fairplay – auch gegenüber den anderen Starterinnen – vermissen ließ, von der menschlichen Abgründigkeit, an der fleißig geschaufelt wurde, ganz zu schweigen. Da konnte man dankbar sein, wenn vereinzelt – dann aber aus dem Athletenlager – entgegengehalten wurde. Vor allem aber das Berliner Publikum war einer Journaille, die genüsslich einen »Zickenkrieg« herbeischreiben wollte, haushoch überlegen und feierte alle Hochspringerinnen ob ihrer Leistungen. Und auch Friedrich beschämte am Ende die Sensationsberichterstatter mit ihrer souveränen Haltung zum Wettkampf und den an diesem Abend Besseren.

Mit solcherart Berichterstattung wird der Leichtathletik ein Bärendienst erwiesen. Sie wird damit unter Wert verkauft, und manche nehmen die daraus erwachsenden Probleme, an deren Schaffung sie schließlich selbst mitgewirkt haben, zum Anlass, der Königsdisziplin des Sports die Daseinsberechtigung abzusprechen oder zu fordern, sie zu einem leicht verdaulichen Fastfood-Produkt herabzustufen. Der Qualitätsverfall, der im Kulturbetrieb seit längerem zu beobachten ist, wird auch dem Sport als Allheilmittel angepriesen.

Leichtathletik ist tatsächlich eine Sportart, die nicht nur an die Athleten hohe Anforderungen stellt, sondern auch an die Zuschauer. Sie ist meist nicht so nebenbei konsumierbar wie ein Boxkampf, wo man die Wirkung der Schläge sofort im Gesicht des Getroffenen erkennen kann, wie Beachvolleyball mit seinen eleganten Hechtsprüngen im Strand-Outfit oder der Fußball mit seinen spektakulären Toren. Leichtathletik verlangt den intelligenten Zuschauer, der beim Lauf jenseits des Sprints die taktischen Finessen erkennt, der begreift, warum ein Springer sich an der einen Höhe versucht und die andere auslässt, der aus der Drehung des Kugelstoßers oder aus dem Armzug der Speerwerferin ablesen kann, ob das Gerät weit fliegen wird oder nicht.

Die Attraktivität der meisten leichtathletischen Disziplinen erschließt sich erst dann, wenn man sich als Beobachter voll darauf einlässt, mitdenkt, mitrechnet, mitkombiniert. Anders als beim Sprint ist zum Beispiel bei den Mittel- und Langstreckenläufen nicht die Zeit das Maß aller Dinge, sondern das Rennen selbst mit seinen Positionskämpfen, seinem Hin und Her und schließlich dem Finish. Die Zeiten der einsamen Weltrekordläufe, bei denen der Hauptakteur zwei oder drei »Hasen« engagierte und bezahlte, die ihm als Zugpferde dienten und Windschatten lieferten, ist lange vorbei; allzu absehbar war da der Ausgang des Rennens, das Muster des Kurzstreckenlaufs mit seiner Fetischisierung der Zeit funktionierte hier nicht. Meetingveranstalter achten seither darauf, wenigstens zwei ebenbürtige Läufer in den Rennen zu haben. Den Sieg vergolden sie mit vielstelligen Dollarschecks und erhoffen sich auch davon das, was die Spannung der Leichtathletik ausmacht: das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Temperamente, ausgeklügelter taktischer Varianten und starker Kämpfernaturen. Bei den Sprungkonkurrenzen und technischen Wettbewerben treten an die Stelle des direkten Kampfes Mann gehen Mann oder Frau gegen Frau die spannunsgeladenen Versuche, die jeweiligen Bestleistungen zu übertreffen und dabei nicht nur die Leistungspotenz, sondern auch das Nervenkostüm oder den taktischen Fahrplan zu offenbaren.

Zuschauer, die das zu würdigen wissen, saßen ganz überwiegend diese Woche im Berliner Olympiastadion; leider nicht so zahlreich waren sie hinter den Reportermikrofonen oder den Laptops der schreibenden Zunft. Die Journalisten ließen oft Fachwissen vermissen, ohne dass man es ihnen von vornherein absprechen sollte. Natürlich kommentierten bei ARD und ZDF Experten, aber sobald sich ein Sportler mit dem rot-gold-schwarzen Trikot der Deutschen zur Wettkampfstätte begab, blendeten die öffentlich-rechtlichen Anstalten das sonstige Geschehen im Stadion oft aus. »Unsere« wurden nicht nur ausführlich vorgestellt, sondern bei jeder banalen Verrichtung gezeigt; die Trainer, gern auch die Familie kamen ins Bild. Ex-meister wurden zu meist nichtssagenden Kommentaren animiert, während die Geräuschkulisse im Hintergrund kund tat, dass im Stadion allerhand passierte, was der Bildschirm aber nicht zeigte.

Natürlich konnte man dann auf Eurosport umschalten, wo die Regie auf solch – zurückhaltend ausgedrückt – lokalpatriotisches Gebaren verzichtete; dafür musste man die unsäglich alberne und über weite Strecken kaum von Sachkenntnis getrübte Moderation der beiden »Berichterstatter« ertragen. Derlei schlechte Comedy hätte nicht einmal bei Dieter Bohlen eine Chance; leider mutete sie der Sender den Sportenthusiasten zu, die besser bedient waren, wenn sie den Ton ausschalteten und sich anhand der Bilder selbst orientierten. Die Presseberichterstattung lag irgendwo zwischen zwischen den beiden TV-Angeboten, tendierte jedoch überwiegend mehr zum Boulevard; Personality-Stories waren ihr in der Regel wichtiger als fachlich-sachliche Begleitung. Leider steht dem Sportjournalismus eine »Cindy aus Marzahn« inzwischen offensichtlich näher als eine »Betty (Heidler) aus Marzahn«, unsere Silbermedaillengewinnerin im Hammerwerfen.

2 Replies to “Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft und das Elend des Sportjournalismus”

  1. Über die Berichterstattung kann ich mir kein Urteil erlauben , aber als Zuschauer kann ich nur sagen, dass es das reine Vergnügen war, die beeindruckenden Leistungen der Athleten, die entspannnte Atmosphäre im Stadion und die überraschend unparteiische und keineswegs nur nach Höchstleistungen der eigenen Landsleute fiebernde Begeisterung der Zuschauer erleben und genießen zu dürfen.
    Sterbenslangweilig war der 100 m Lauf schon deshalb nicht, weil immerhin die 8 schnellsten Menschen der Erde gegen einander antraten, und natürlich machte es Spaß, den Schnellsten aller Zeiten miterlebt zu haben. Ganz gewiss interessieren sich die Teilnehmer für die jeweiligen Konkurrenten, schließlich wollen sie sie besiegen, nicht mehr und nicht weniger. Ob sie sich womöglich gar mit Sympathie begleiten oder mit „sportlichen“Gesten nur das Bedürfnis der Zuschauer nach coubertainscher Wunschvorstellung bedienen, wen interessierts? Hat Ariane Friedrich mit rhythmischem Klatschen und Umarmung wirklich die Konkurrentin gemeint – oder nur ihr eigenes Image mal tüchtig aufpoliert? Man weiss es nicht und will es eigentlich auch nicht wirklich wissen.
    In einer Zeit, in der auch ein sportlicher Erfolg eine Zukunftsperspektive eröffnen kann, haben junge Leute mit einem spektakulären Auftritt eine reelle Chance auf eine halbwegs gesicherte Zukunft, und mit ein paar Showeffekten und Medieninteresse gelingts vielleicht noch besser – gönnen wirs ihnen. Sie haben hart dafür gearbeitet, kein Vergleich mit den Größen der reinen Unterhaltungsbranche, die ungleich fürstlicher entlohnt werden.

    Ob irgendwelche „Stimulanzen“ Herrn Harting ein paar Meter mehr beschert haben, weiss keiner und wird wohl auch keiner erfahren. Aber es muss auch erlaubt sein, die derzeitige Inflation von Höchstleistungen und Rekorden mit einiger Skepsis zu betrachten. Allerdings bleibt der Trost, dass entweder alle …. oder keiner … – oder doch nur fast alle …. ??
    Bei der Leistungsdichte eher unwahrscheinlich.

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