Leipziger Jubiläumsreigen

Die »Helden-Metropole« an der Pleiße erwartet in Bälde mindestens 70000 »Demonstranten«, hat aber auch Tübke, FKK, »Kali«, Oldtimer-Rundfahrten und weitere historische Ereignisse im Angebot

Von Rudolf Hempel

Die friedliche Revolution ist in diesen Tagen deutschlandweit in aller Munde. Vor allem aber in jener Stadt, in der am 9. Oktober 1989 der Zug der 70000 mit den Friedensgebeten »Keine Gewalt« und »Wir sind das Volk« die Welt verändern, in dem er Weichen gegen ein von der Geschichte überholtes System und für eine bessere Republik stellen wollte. Diese de facto aber in Richtung »Deutschland einig Vaterland« stellte, ohne dass seine Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt davon auch nur träumten.

Die Leipziger Tourismus und Marketing GmbH (LTM) und das Seaside Hotel nahmen jetzt in schöner Eintracht den bevorstehenden 20. Jahrestag des »historischen Ereignisses« zum Anlass, um Stadt und Region mit einem »Leipziger Jubiläumsreigen« Gott und der Welt (und einem deutsch-deutschen Journalistenteam) ans Herz zu legen.

Oldtimer – Jungfrau


Den revolutionären Service-Reigen eröffneten Geschäftsführerin Christine Schinke und Busfahrer Hans-Joachim Stein mit einem Oldtimer, polizeiliches Kennzeichen L-OF 555. Dieser verfügt über 230 PS, zwei Etagen, ein verschließbares Dach, knapp 80 Plätze und praktische Sitzgarnituren. Es handelt sich um eine aus der ehemaligen DDR-Hauptstadt überführte Neuanschaffung. Und also war die Fahrt des Reporterteams eine Jungfernfahrt.

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»Einsteigen bitte!« Die »Oldtimer-Jungfrau« vor dem Start

»Auf einer Jungfrau zu reisen, macht Spaß«, ließ sich ein Freier Fachjournalist aus Düsseldorf vernehmen. Woraufhin er die Antwort erhielt, das Fuhrunternehmen hätte nicht nur diese eine »Jungfrau« zu bieten, sondern auch weitere schon gebrauchte Exemplare. Man könne mit ihnen vom Zentrum aus kostengünstige Touren unternehmen. Die Inhalte seien so unterschiedlich wie die Ziel(w)orte: Panorama, Seen, Wasser am Kanal, Völkerschlacht, Mondschein, Flughafen, Mühlen, Romantik, Erotik, Hochzeit, Tanztee, Medien.

Sogar Selbstfahrer-Trabimietung sei möglich. Da hoben die aus Richtung Westen gekommenen Kollegen erstaunt die Augen. Die »Ostler« dagegen erinnerten sich vergnügt an die gute alte Zeit, als sie noch ein geschlagenes Jahrzehnt auf einen ebensolchen zauberhaften Trabi warten durften.

Asisi Panometer

Bei »Amazonien«, einer weiteren Service-Station, handelt es sich um ein Zau­berbild der Natur, das im Asisi Panometer als weltgrößtes 360-Grad-Panorama mit brasilianischem Regenwald zu besichtigen ist.

»Jede Vegetationszone hat außer den ihr eigenen Vorzügen auch ihren eigentümlichen Charakter, ruft andere Eindrücke in uns hervor… Dem Künstler ist es verliehen, die Gruppen zu zergliedern, und unter feiner Hand löst sich das Zauberbild der Natur… in wenige einfache Züge auf.«

So schrieb es Alexander von Humboldt, der Naturforscher von Weltrang. Dessen 150.Todestag für den Berliner Künstler Yadegar Asisi Anlass war, eine perfekte Simulation von Raum und Zeit zu installieren. Bereits weit über 1,2 Millionen Besucher konnten seit 2003 in den Panoramahäusern von Leipzig und Dresden auf diese bisher unbekannte Weise mit Natur und Geschichte Bekanntschaft schließen. Als künstlerisches Phänomen also ist in der »Helden-Metropole« eine Faszination der besonderen Art erlebbar.

Das wird an der Leipziger Universität im Detail erforscht. An jener jetzt namenlosen, die seit nunmehr 600 Jahren von sich reden macht. War die am 2. Dezember 1409 in Anwesenheit der wettinischen Landesherren, der Markgrafen Friedrich und Wilhelm, im Speisesaal des Thomasklosters feierlich eröffnete Ausbildungsstätte im Zeitalter der Aufklärung Mittelpunkt europäischer Wissenschaft, so stand zu DDR-Zeiten der Name des Denkers und Weltveränderers Karl Marx in ihrem Kopfbogen. Und neben dem Gewandhaus der »Weisheits-Zahn« als Wissenschaftssymbol, nunmehr allerdings zweckentfremdet und mit ungewisser Zukunft.

Stattdessen entsteht daneben mit dem neuen Campus am Augustusplatz für 200 Mio. Euro der modernste seiner Art in Europa. Dort wird am 2. Dezember der Gründungsfestakt stattfinden. Ein erstes großen Ehemaligentreffen ging schon im Juni über die Bühne. Weltweit, das sagt die Statistik, gibt es mehr als 150000 noch lebende Alumni. Leibniz, Lessing, Goethe und Heisenberg zählen nicht dazu, wohl aber die Physik-Studentin Angela Merkel und der Blogsänger vom »Roten Kloster«.

Gegenwärtig zählt die Alma mater Lipsiensis 29000 Studenten in 96 Studiengängen an 150 Instituten und gilt als klassische Volluniversität. In der Ausstellung »Erleuchtung der Welt« im Alten Rathaus wird der Besucher auf sie eingestimmt. Ein Hinweisschild enthält folgende Warnung: »Geschichte kommt zu Bewusstsein und führt zu Einsichten.«

Tübke-Retrospektive

30 - Ehemaliges Arbeitszimmer im Mendelssohnhaus_AndreasSchm
Noten-Spur im Mendelssohn-Haus

Einsichtsvoll eingestimmt wird auch an anderen Orten der Stadt. Und auch auf Jubiläen. Im Gewandhaus, im Mendelssohn-Haus, in der Edvard-Grieg-Begegnungsstätte, im Schumann-Haus, im GRASSI-Museum für Musikinstrumente. Das alles soll sich zu einer klangvollen Partit(o)ur fügen. Und kann unter dem Signum »Leipziger Notenspur« in unterschiedlichen Variationen von musikinteressierten Touristen gebucht werden. Für Einzelreisende gibt es ganzjährig das 2-Tage-Paket »Leipzig – das klingt gut« (ab 99 Euro), für Gruppen (ab 20 Personen) die Offerte »Musikstadt Leipzig« (ab 155 Euro).

Aus Anlass seines 80. Geburtstages werden im Museum der Bildenden Künste 90 Gemälde eines Mannes gezeigt, der 1929 in Schönebeck geboren und 2004 auf dem Leipziger Südfriedhof begraben wurde: Werner Tübke, ein Mann von künstlerischem Format. Er zählt zu den bedeutendsten Malern der DDR und gehört mit Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Heinz Zander zur Leipziger Schule. Als seine künstlerischen Vorbilder gelten Lucas Cranach und Albrecht Dürer. Bei einem der größten Kunstprojekte des 20. Jahrhunderts stand er lange Zeit als Frontmann auf dem Gerüst in Bad Frankenhausen. Das 14 x 123 Meter große Rundbild »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland« zeigt ihn als einen Künstler, dessen Stil weniger dem sozialistischen Realismus, als einem magischen Realismus mit surrealen Zügen entspricht.

Als ein völlig anderes Format kann Neuseeland gelten. Zu dem Phönix-Tour immer samstags unter dem Motto »Vom Bergbau zur Seenplatte« Erstaunliches zu bieten hat. Rauchten in dieser Region zu sozialistischen Zeiten noch die Braunkohlenschlote von Böhlen und Borna, so entwickelt sich hier nun, wie der Veranstalter betont, »Europas größter Landschaftswandel«.
Zukunft und Vergangenheit im Bild: Kanustrecke mit Hintergrund
Zukunft und Vergangenheit im Bild: Kanustrecke mit Hintergrund

Schon entwickelt ist der Kanupark am Markkleeberger See. Er entstand mit Blick  auf die (gescheiterte) Olympiabewer- bung. Dessen ungeachtet bereichert der Park seit 2007 eine aufstrebende Tourismusregion. Hier sind vor allem »Könner und Mutige« für Rafting- und Kajak-Touren gefragt.

Szene-Lokal »U Fleku«

Könner und Mutige sind auch gefragt bei »FKK« und bei »Kali«. Im ersteren Falle handelt es sich um das Musiktheater »FreiKörperKultur«. Dort wird man von Katrin Troendle und Bert Callenbach in einem Sommertheater mit Details zu verbotenen Plätzen geführt. Wenn es das Wetter erlaubt, unter freiem Himmel: jede Menge skurrile und nackte Tatsachen in schöner musikalischer Umrahmung.

»Kali«-Nachteulen  im Restaurant  »U Fleku« beim Schwarzbier
»Kali«-Nachteulen im Restaurant »U Fleku« beim Schwarzbier

Auch bei »Kali« – umgangssprach- liche Kurzform von Karl-Lieb- knecht-Straße – geht es mitunter skurril und nackt zu. Aber meist erst dann, wenn der Alkpegel in der Kneipenmeile hoch genug ist. Mit Peggy Enders von der Agentur evendito kann man zu mitternächtlicher Stunde selbst bei Nieselregen erleben, was das Herz begehrt. Und wenn es der Ausschank von Pilsner Urquell im sächsisch-böhmischen Restaurant »U Fleku« ist, von der Zeitschrift PRINZ zum Szene-Lokal 2009 gewählt.

Skurrile und nackte Tatsachen auch im Zoo? Nur bedingt. Hier sind Leute mit Phantasie gefragt. Wenn man den Rohbau der Tropenhalle Gondwana sieht. Dort soll – in Umsetzung des bis 2014 terminierten Masterplanes »Zoo der Zukunft« in zwei Jahren eine Riesentropenhalle entstehen: Regenwälder Asiens, Afrikas und Südamerika mit insgesamt 500 Pflanzenarten. In gewisser Weise ein Pendant zum Asisi – Panorama.

Skurrile und nackte Tatsachen auch beim Lichtfest 2009? Das den historischen Demonstrationsweg noch einmal ins rechte Licht rücken soll. Eher wohl nicht. Oder doch? An dem Projekt basteln Architekten, Lichtplaner, Designer und Künstler aus diversen europäischen Ländern. Bleibt also abzuwarten, was die 70000 »Demonstranten« und ungezählte Zuchauer an den TV-Schirmen am 9. Oktober erwartet. Eine »Oldtimer-Jungfrau« oder ein DDR-Trabi wären zwar weder skurrile und schon gar keine nackten Tatsachen. Aber immerhin: es wären Symbole einer zu Recht vergangenen Zeit, die trotzdem heute noch (oder wieder) Geschichte schreiben …

Fotos: JBHB; LTM/Andreas Schmidt