Vor 20 Jahren – Sturm auf die Stasi-Zentrale

Eins der wenigen gewalttätigen Ereignisse der Wendezeit 1989/90 fand heute vor 20 Jahren in der Berliner Normannenstraße statt. Hier residierte die geheimnisumwitterte Zentrale der DDR-Staatssicherheit, in der die Arbeit anscheinend unbeeindruckt vom Geschehen des letzten Vierteljahres auf den Straßen weiterzugehen schien. In den Bezirken der DDR waren die MfS-Verwaltungen bereits Bürgerkomitees übergeben worden; nur in der Hauptstadt schien sich diesbezüglich nichts zu tun. Das weckte zunehmendes Unverständnis, gepaart mit Ungeduld. Für den 15. Januar 1990 war zu einer Demonstration vor dem Hauptangang der MfS-Zentrale aufgerufen worden. Ausdrücklich sollten dazu auch Steine mitgebracht werden; man wollte die Tore des Stasi-Ministeriums symbolisch zumauern, um seine weitere Arbeit zu unterbinden. Bald zeigte sich jedoch, dass Steine auch anderweitig verwendbar waren. Die Masse vor dem Tor nahm eine immer bedrohlichere Haltung ein. Irgendwann beschlossen die verbliebenen Verantwortlichen der Staatssicherheit gemeinsam mit Bürgerrechtlern, die sich längst im Inneren des Komplexes befanden, die Öffnung der Tore.

Was dann geschah, ist dieser Tage immer wieder ausführlich beschrieben worden. Nur wenig beachtet wurde dabei jedoch, dass eine große Diensteinheit des MfS, die sich »Hauptverwaltung Aufklärung« nennende Spionageabteilung, vom Sturm auf die Zentrale fast völlig verschont blieb. Folgender Text, der in den Jahren 1991/92 entstand und – hier geringfügig verändert – in dem Buch »Wolfs Westspione. Ein Insider-Report« veröffentlicht wurde, wandte sich gerade diesem Phänomen zu, beschrieb es, suchte also eine Antwort auf die Frage:

Hauptverwaltung Aufklärung – eine Insel im Sturm?

Der 15. Januar 1990 ist ein kühler und regenfeuchter Tag. Noch vor 16 Uhr bricht die Dämmerung herein, und eine Stunde später ist es stockdunkel. Vor dem riesigen Gebäudekomplex zwischen Frankfurter Allee und Normannenstraße im Berliner Stadtbezirk Lichtenberg stehen jedoch tausende Demonstranten im gleißenden Licht der Scheinwerfer und Lampen, die stets unbehinderte Sicht auf die Außenmauern des Ministeriums für Staatssicherheit gewährleisten sollten. Noch vor einigen Wochen hätten sich die Menschen nicht gewagt, hier länger als irgend nötig zu verweilen – und wenn, sie wären schnell durch die aufmerksamen Wachtruppen zum Weitergehen aufgefordert worden.

Heute ist es anders. Der Umbruch des Herbstes 1989 hatte dazu geführt, dass bereits im Dezember die örtlichen Verwaltungen des MfS in allen Bezirksstädten der DDR besetzt und anschließend von Polizeikräften gesichert wurden, um den Spielraum der Staatssicherheit einzuschränken. Da war es nach Auffassung aller Beobachter nur eine Frage der Zeit, wann die Berliner Zentrale dieses Schicksal teilen würde. Für diesen 15. Januar hatte das Neue Forum hatte zu einer Demonstration aufgerufen, zu der Steine mitgebracht werden sollten, um damit symbolisch die Zugänge zum Ministerium zuzumauern und so seine Weiterarbeit zu unterbinden.

Das Geschehen entwickelte sich jedoch in ganz anderer Weise, denn wie in den Bezirksstädten verlangten die Demonstranten Zugang zu den Diensträumen, wollten sie die verhasste Unterdrückungszentrale endlich von innen sehen, vielleicht ihre Akte suchen und die MfS-Mitarbeiter zur Rede stellen. Das Wachpersonal, bestehend aus Volkspolizisten, gibt diesem Druck bald nach. Auch die im Innern befindlichen Vertreter der Bürgerrechtsgruppen – sie hatten seit Wochen Zugang zu allen Diensteinheiten des Ministeriums – sehen keinen Grund, den Demonstranten den Zutritt zu verweigern, und das umso mehr, als vor dem Tor allmählich eine bedrohliche Situation entsteht.

Die Angehörigen des früheren MfS bzw. des AmWestspionetes für Nationale Sicherheit, wie es seit Amtsantritt der Modrow-Regierung heißt, befinden sich nur noch in geringer Zahl in den Arbeitsräumen. Sind sind seit langem entwaffnet und seit dem Wochenende zuvor bis auf einen kleinen Rest beurlaubt. Am Freitag und Sonnabend hatten sie ihren meist langjährigen Arbeitsplatz für immer verlassen, die letzten persönlichen Gegenstände – Bücher, Bilder, Blumen usw. – mitgenommen. Nun war ein Kapitel ihrer Biografie abgeschlossen. Die meisten verfolgten das Geschehen des Montags am Fernsehapparat – und wer es bis dahin nicht wahrhaben wollte, wusste nun, dass es kein Zurück mehr gab.

Die Besetzung der MfS-Zentrale Normannenstraße war zu erwarten gewesen; daher tut niemand etwas, um sie zu verhindern. Das Wachregiment war schon vor einiger Zeit abgezogen worden; die wenigen in den Dienstobjekten verbliebenen Mitarbeiter schreiten nicht ein. Die Demonstranten wenden sich dem protzigsten Bau auf dem Gelände zu, ( / dem erst vor einigen Jahren fertiggestellten Versorgungstrakt. Einige jedoch erweisen sich als erstaunlich ortskundig und marschieren zielstrebig zum Gebäude der inneren Spionageabwehr. Deren bisher streng gesicherte Arbeitsräume sind plötzlich auf den TV-Schirmen zu sehen, wie sie ganz offensichtlich gezielt durchstöbert werden. Der stellvertretende Leiter dieser Hauptabteilung II, Oberst Wiegand, hatte sich bereits im Dezember 1989 in Obhut des Bundesnachrichtendienstes begeben. Ausgestattet vielleicht mit seinen Lageskizzen dürften die BND-Agenten mehr gefunden haben als Parteitagsbroschüren, Konservenbüchsen und leere Dienstformulare.

All das verläuft ohne nennenswerte Gewalt, ohne Blutvergießen, beinahe friedlich. Ein Geheimdienst, der fast vierzig Jahre lang Angst und Schrecken verbreitet hatte, fällt zusammen wie ein Kartenhaus. Es zeigte sich, dass er bereits seit langem ein Koloss auf tönernen Füßen war, der weder eine Basis in der Bevölkerung noch den erwarteten Rückhalt in den eigenen Reihen besaß. Wer Augen hatte zu sehen und Ohren, um zu hören, der begriff, dass es dieses System nicht mehr wert war, verteidigt zu werden – zu zerrüttet war die Wirtschaft, zu unzufrieden war das Volk, zu starr und unbelehrbar die Führung von SED und Staat. Radikale Änderungen waren dringend vonnöten, und das Volk war in seltener Einmütigkeit entschlossen, diese herbeizuführen.

Dem konnten viele Mitarbeiter der Staatssicherheit durchaus zustimmen. Bis auf fanatische Hardliner, die entweder das Gespenst der Konterrevolution an die Wand malten oder die Ereignisse engstirnig nur als temporäre Erscheinungen verstanden, sahen sie in der großen Mehrheit keinen Anlass mehr, die dringend nötige Katharsis zu verhindern. Sie hatten zwar durch ihre Arbeit dem Regime zu seinem langen zerstörerischen Leben verholfen, doch jetzt war ihre Bereitschaft, es weiter gewaltsam zu schützen, verloren gegangen. Daraus erklärt sich nicht zum geringsten der friedliche Verlauf der kommenden Ereignisse. Selbst jenes Organ, das von SED-und DDR-Staat zur eigenen Machtsicherung herangezüchtet worden und zu einem gigantischen Apparat gewuchert war, versagte faktisch seinen Befehlsgebern die Gefolgschaft. Zwar konnte es sich nicht zu eigenem aktiven Handeln entschließen, aber es griff dem Rad der Geschichte auch nicht in die Speichen.

Und mehr noch: Mit einer Reihe von Personen, mit denen das Ministerium seit langem – wenn auch auf sehr ungleicher Basis – zusammengearbeitet hatte, wurden stillschweigende Übereinkünfte gefunden, die die Gewaltlosigkeit von beiden Seiten sicherstellten. Natürlich spielte dabei lange auch die Hoffnung eine Rolle, das Ministerium – in welcher Form auch immer – zu erhalten, denn so weit ging die Selbstverleugnung seiner Mitarbeiter nicht, dass sie ohne weiteres bereit waren, die eigene Dienst- und Arbeitsstelle zu opfern. Nun aber spielte selbst das keine Rolle mehr; dazu war die Entwicklung zu weit fortgeschritten. Während auf der einen Seite ein bewusstes Schüren des »Volkszorns« vermieden wurde, sorgte das AfNS dafür, dass Hunderttausende offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums ihre Tätigkeit ohne nennenswerten Widerstand für immer beendeten. Dieses Handeln, das sich in beiden Lagern heute mit dem Vorwurf des Verrats auseinander zu setzen hat, war wesentlich für den friedlichen Verlauf des Wendeprozesses.

Ein Beispiel für dieses insgeheime und zum Teil sicher auch unbewusste Einverständnis war der Umgang zwischen Bürgerbewegung und Hauptverwaltung Aufklärung an diesem 15. Januar 1990. Zwar verirren sich auch einige Grüppchen der Demonstranten in den 16-stöckigen Eckbau an Frankfurter Allee und Ruschestraße; sie ziehen sich jedoch zurück, als sie erfahren, dass es sich hier um den Spionagedienst der DDR handelt. Die Hauptverwaltung Aufklärung bleibt eine Insel im Sturm auf die Stasi-Zentrale an der Normannenstraße.

Warum diese Vorzugsbehandlung? Und war eine solche Rücksichtnahme berechtigt?

Das Verhalten der Bürgerrechtler entsprach den Vereinbarungen zwischen ihnen und der Leitung der HVA, das auch von der Anfang Januar 1990 gebildeten Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches getragen wurde. Die Bürgerrechtler hatten bereits im Dezember Gespräche mit Vertretern der Aufklärung aufgenommen. Sie trafen dabei auf einen Mann, der vom ersten Moment an einen gewinnenden Eindruck machte, beredsam war und offensichtlich ohne Einschränkung Auskunft geben wollte. Es war der stellvertretende Leiter der Auswertungsabteilung der HVA, Oberst Dr. Heinz Busch. Aufgrund genannter Eigenschaften hatte ihn die Generalität, die – in der Hoffnung auf eine nahtlose Weiterarbeit im angestrebten und von der Modrow-Regierung auf Empfehlung ihres Beraters Markus Wolf, des früheren Chefs der DDR-Spionage, zugesagten »neuen« Auslandsnachrichtendienst – im Hintergrund bleiben wollte, für diese heikle Aufgabe ausgewählt. Busch entledigte sich ihrer mit Bravour. Er trat den Bürgerrechtlern offensichtlich unbefangen entgegen, mit ausgesuchtem Zuvorkommen und ohne jene Feindseligkeit, die andere MfS-Offiziere im Umgang mit ihren einstigen »operativen Vorgängen« nur schwer verbergen konnten. Er erläuterte, dass die HVA keinerlei Anteil an den Verbrechen des MfS habe, dass ihre Arbeit immer auf die Erhaltung des Friedens gerichtet gewesen sei und dass es nun gelte, die derart verdienstvollen Quellen vor dem Zugriff der anderen Seite zu schützen. Das verstanden die Bürgerrechtler. Ihre humanistische Grundhaltung und wohl auch der Respekt vor den Kunbdschaftern in den westlichen Ländern veranlassten sie, die HVA weitgehende Handlungsfreiheit zu lassen. Sie glaubten auch, dass die Aufklärung in das Unterdrückungssystem nicht integriert gewesen sei.

Busch beeindruckte seine Gesprächspartner – wohl auch deshalb, weil er vieles von dem, was er sagte, ehrlich meinte. Er hoffte zwar auf eine Fortsetzung der nachrichtendienstlichen Arbeit, wollte sie aber auf eine andere Grundlage gestellt sehen. Eine Sicht, die seine Chefs nicht teilten. Für vorgeschoben, geeignet für den Zweck des Zeitgewinns und wohl auch der Täuschung. Busch erkannte das zu spät, begriff aber im Januar, dass der Glaube an die Schaffung eines »neuen« Auslandsnachrichtendienstes Illusion war.

Er zog seine Konsequenz. Als er am 15. Januar vor dem Runden Tisch erneut die Interessen der HVA vertreten und sich auf diese Weise nun vor der gesamten Republik dekonspirieren sollte, wechselte er die Seite. Jetzt ist er ein Betreuungsfall des Bundesnachrichtendienstes. Seinen Part vor dem Runden Tisch übernahm daraufhin Oberst Ralf Devaux, ein Stellvertreter des Wolf-Nachfolgers Werner Großmann. Er war für die Dienste der Bundesrepublik ebenfalls kein Unbekannter, hatte er doch jahrelang die »legale Residentur« der HVA bei der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn geführt. Devaux kam nicht mehr zu Wort vor dem Runden Tisch. Die Ereignisse an der Normannenstraße eskalierten und führten zur Unterbrechung der Beratungen. Und danach war das Schicksal des MfS besiegelt – und damit auch seines Spionagedienstes, der Hauptverwaltung Aufklärung.

Aus heutiger Sicht waren alle Überlegungen des Herbstes 1989, noch etwas von der DDR-Aufklärung zu retten, lediglich Wunschträume. Zu sehr war die HVA in den zurückliegenden Jahren in den Verband der MfS-Diensteinheiten mit ihrer auf die Bespitzelung des »inneren Feindes« gerichteten Hauptaufgabe integriert worden, als dass sie sich guten Gewissens ganz und gar vom Gesamtministerium distanzieren konnte. Seit sie Mitte der 50er Jahre zur Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit wurde, war sie mit dessen Schicksal auf Gedeih und Verderb verbunden.

Die HVA profitierte von dem, was die Bereiche der Abwehr taten. Sie hatte Zugang zu den Erkenntnissen der Abwehr-Dienteinheiten und nutzte natürlich diese Möglichkeit für ihre operative Arbeit. Un d sie revanchierte sich dafür, indem sie geeignete Informationen der Abwehr übergab. In der HVA war die von Mielke und der Abwehr praktizierte »flächendeckende Überwachung« nahezu des gesamten Volkes gewiss nicht sonderlich geschätzt und wurde von ihr schon gar nicht forciert. Denn nicht selten behinderte sie dieses Misstrauen gegen jeden und alles in ihrer eigenen Arbeit, die sich ganz anderer Methoden bedienen musste, wollte sie erfolgreich sein. Aber die HVA hatte sich der falschen Sicherheitsdoktrin auch nie entgegengestellt, sondern von ihren Resultaten genommen, was ihr nützte. In dem Bestreben, die eigene – für notwendig und nützlich erachtete – Arbeit möglichst effektiv tun zu können, hat sie Kompromisse geschlossen und Zugeständnisse gemacht, die im Endeffekt dazu führten, dass sie später neben andere Diensteinheiten des MfS auf die Anklagebank gesetzt wurde.

Und doch ist Differenzierung vonnöten! Denn die Grundaufgaben der HVA waren natürlich andere als die der Abwehrbereiche. Es ging tatsächlich um eine Tätigkeit, die in nahezu allen Staaten dieser Erde nichts Besonderes darstellt, obwohl sie stets und in jedem Falle gegen die Interessen eines anderes Landes verstößt, mit dem man in der Regel normalen, wenn nicht gar freundschaftlichen Kontakt pflegt. Dass sich die Staaten in dieser Weise ausforschen, wird von allen augenzwinkernd akzeptiert; ungemütlich verspricht es nur für die daran beteiligten Staatsbürger des jeweils eigenen Landes zu werden, sobald man ihrer habhaft wird. Diese geheimdienstliche Tätigkeit richtet sich nach außen und hat – sofern der Dienst konsequent ist (was man in den meisten Fällen aber nicht voraussetzen kann) – nichts mit der Spitzeltätigkeit nach innen zu tun. Die HVA konnte sich vom unmittelbaren Mittun tatsächlich weitgehend fernhalten, gab es doch im MfS Bereiche, die sich dieser spezifischen Aufgabe eigenverantwortlich – und auch eifersüchtig gegenüber jeder Kompetenzeinschränkung – widmeten. Dazu jedoch hatte die HVA Amtshilfe geleistet, ohne Scheu kooperiert und vieles stillschweigend akzeptiert – weil sich so die Arbeit bequemer machen ließ.

Die HVA war keine Insel im Ministerium für Staatssicherheit; dazu gab es zu viele Brücken und Übergänge zwischen ihr und den Abwehrbereichen. Insofern fragten später viele, ob sie es »verdient« hatte, dass die Sturmwellen des Protestes sie damals verschonten. Und sie gaben auch die Antwort, indem sie den Spionageapparat letztlich auch ächteten – als einen voll mithaftenden Bestandteil der Stasi.