Wie umtriebiges Business die Olympiaorte Vancouver und Whistler erfand

Letzte Nacht begannen in Vancouver und Whistler die Olympischen Winterspiele. Zumindest in der Metropole am Pazifik musste man dabei ohne Schnee auskommen, was dort nichts Besonderes ist, denn in der Regel lässt das milde, beinahe schon mediterrane Klima nur sieben Schneetage im Jahr zu. Auch Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sind nicht die Norm. Richtige Winterstimmung kann so kaum aufkommen, und folglich verlegte man die Eröffnungsfeier gleich in eine Halle – mit Kunstschnee und Maschineneis. Natur braucht es nicht mehr für die große Show, zu der Olympische Spiele inzwischen geworden sind, und man muss wohl nicht allzu lange darauf warten, dass Winterspiele in Dubai stattfinden.

Denn der Winterzauber in Vancouvers BC Place Stadium ist natürlich noch steigerbar. Skihallen für Langläufer und Biathleten gibt es bereits, und eines Tages wird man auch das Problem für die Abfahrtsläufer und Skispringer gelöst haben. Heuer ist man noch auf den echten Schnee im nördlicher und höher gelegenen Whistler angewiesen, wo fast alle Skisportdisziplinen stattfinden. Der lässt zwar guten Sport derzeit auch nicht zu, aber das ist vielleicht nur ein eher ironischer Kommentar des Wettergottes zu jenem Hype, mit das Nest in den Bergen zur Olympiastadt hochgepuscht wurde. Denn hier wurde die Olympia-Idee geboren; Vancouver wurde von den umtriebigen Organisatoren später dazugenommen, um der Bewerbung nach zweimaligem Scheitern mehr Gewicht zu verleihen. Das ist letztlich gelungen, das Spektakel steht ins Haus, und – wie schon oft – scheinen bereits jetzt am Horizont die Probleme auf, die nach den Spielen durchaus zum Katzenjammer führen können. Schon bei einer sommerlichen Kanada-Reise zu einem Zeitpunkt, als von Olympia noch nicht die Rede war, wurde offenbar, wie sehr sich inzwischen Sport und Kommerz verbunden haben – und das in der Regel nicht zum Nutzen der Regionen und Menschen, die eigentlich mit dem Sportspektakel Olympia beglückt werden sollen. Hier der Report darüber:

 

… und täglich pfeift das Murmeltier

Wie umtriebiges Business die Olympiaorte Vancouver und Whistler erfand


Whistler, der kleine Ort in den kanadischen Coastal Mountains 120 Kilometer nördlich von Vancouver, ist nach einem der beiden ihn flankierenden Berge benannt – und der wiederum nach dem Pfeifen der hier verbreiteten Murmeltiere. Deren Warnruf, der vor allem vorm Weißkopfadler schützen sollte, war jahrhundertelang das auffälligste Geräusch rund um den Whistler-Berg, seinen Nachbarn Blackcomb und das zwischen ihnen gebettete Tal. Noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts trafen sich hier, am Alta Lake, einem kleinen, einsamen Weiher, nur hin und wieder schweigsame Angler. Für sie baute einer von ihnen in den 1940er Jahren die Rainbow Lodge als einfaches Quartier – bis irgendwann jemand auf die Idee kam, aus Lage, Klima und sonstigen Gegebenheiten müsse sich doch mehr machen lassen.

Das war die Geburtsstunde des Skiresorts Whistler und in der Folge der olympischen Idee für Kanadas Westküste. Erst wurden weitere Lodges gebaut und 1966 der erste Skilift. Schon für 1968 hatte man sich um die Olympischen Winterspiele beworben; geschäftstüchtige Investoren verstanden das damals als Initialzündung fürs Profitmachen. Auf der olympischen Welle sollten Skianlagen entstehen, die einmal märchenhafte Gewinne abzuwerfen versprachen. Das klappte so auf Anhieb nicht, doch die Idee blieb. Nun erbrachte man die Investition als Vorleistung, von der man Rendite erhoffte. Whistler wurde innerhalb von 40 Jahren zum größten und beliebtesten Skigebiet des nordamerikanischen Kontinents ausgebaut.

Video \“Whistler – Resort aus der Retorte\“

Mehr als 200 Pisten mit insgesamt 280 Kilometern Länge, 37 Skilifte, drei Gletscher, die Skilaufen auch in den Sommermonaten ermöglichen, ziehen jährlich zwei Millionen Urlauber an, vor allem im Winter. Bis fast auf 2300 Meter Höhe bringt der Blackcomb-Lift die Abfahrer, nur 150 Meter unter dem Gipfel – wer es sich leisten kann, sogar per Hubschrauber. Von dort können sie 1609 Meter Höhendifferenz in rasender Abfahrt überwinden. Dazu kommen kilometerlange Loipen für die Langläufer. Allein für Olympia wurden 40 Kilometer neu angelegt. Die Bobbahn gilt mit 154 Metern Höhenunterscheid als steilste der Welt. Ähnliches sagte man von der Rodelbahn, und prompt forderte die damit verbundene Pervertierung des olympischen Mottos vom Weiter, Höher, Schneller das erste Todesopfer. Superlative, so mahnt der Unfalltod des georgischen Rennrodlers Nodar Kumaritaschwili, haben ihren Preis.

Vancouver und Whistler wissen das längst. Schon lange vor Olympia fielen Tausende von Bäumen dem Skizirkus zum Opfer; jetzt wurden noch einmal 120.000 gefällt. Man kann es im Sommer an den Berghängen um Whistler sehen, wo sich lange, kahle Schneisen bis weit in die Täler ziehen. An vielen Stellen ist bereits das nackte Gestein freigelegt. Auch im Ort musste das Grün dem Bauland weichen. Parkplätze entstanden. Auf der Strecke nach Vancouver wurde der Highway 99 auf vier Spuren ausgebaut. Und natürlich verschlingen die Anlagen Energie. Die Bobbahn liefert Kunsteis, die Lifte laufen von früh bis hinein in die Dunkelheit. Whistler selbst gönnt sich zur Nacht eine anheimelnde Beleuchtung seiner schmucken Häuser. Dabei hatte früher einmal ein von Grünen dominierter Stadtrat das Verbot von Heizpilzen beschlossen.

Nutznießer dieser Entwicklung war über Jahrzehnte die Firma Intrawest, die das Skiresort auf- und ausbaute. Nichts läuft hier ohne diese Firma. Sie vermietet oder verkauft die Häuser, betreibt Bars und Restaurants, engagiert und bezahlt das Personal (meist nur mit Skipässen und Gutscheinen für diese oder jene Dienstleistung). Und sie verdiente natürlich am Olympia-Boom, so wie sie bereits jetzt erfahren muss, dass die überdimensionierten Anlagen auch in Whistler nach Olympia mehr kosten als einbringen werden. Noch während der Spiele geht Intrawest in die Insolvenz. Und nicht wenige fürchten, dass die nun folgenden Verluste wie üblich »sozialisiert« werden, also bei der Kommune, beim einzelnen Bürger durch höhere Steuern und Gebühren hängen bleiben. Schon Olympia selbst kostet Whistler mit seinen 10.000 Einwohnern acht bis 15 Millionen Dollar. Die Grundsteuern sollen um beinahe 20 Prozent steigen, Parkgebühren eingeführt werden. Immobilienpreise und Mieten sind bereits jetzt exorbitant hoch. Den Einheimischen scheint, als pfiffe wieder täglich das Murmeltier, doch warnt es diesmal vor den Folgen der Olympia-Euphorie.

Whistler sieht einer unsicheren Zukunft entgegen, sobald die olympischen Fahne eingezogen ist. Für Vancouver gilt das nicht in gleichem Maße, jedoch sind auch dort die Sorgen über Olympia größer als die Begeisterung. Weist doch die Entwicklung der Millionenstadt am Pazifik durchaus Parallelen zum Aufstieg Whistlers auf – wenn man nur 150 Jahre zurückblickt. Noch 1792 hatte Kapitän George Vancouver wenig Gefallen an der durch Inseln und Buchten stark zerklüfteten Küste im Vorfeld der Rocky Mountains gefunden. Er schlug zwar einige Pflöcke ein, um das Land als britischen Besitz zu markieren; mehr tat sich aber zunächst nicht. Erst als der Goldrausch im Norden Amerikas begann, wurde Vancouvers einstiger Landeplatz zum Anlaufpunkt für Abenteurer aus aller Welt. Davon profitierten am meisten jene, die den Goldsuchern auf ihrem Weg in die Schürfgebiete am Fraser River und in den Cariboo Mountains behilflich waren, die ihnen Unterkunft, Verpflegung, Zerstreuung boten. Einer dieser Dienstleister, der Gastwirt Jack Deighton, kam hier 1867 mit einem gefüllten Whiskeyfass an. Seine Kneipe wurde schnell zum Zentrum des entstehenden Ortes, den man nach Deightons Spitznamen »Gassy Jack« (Geschwätziger Jack) Gastown nannte. Heute ist Gastown die Altstadt Vancouvers, das 1886 offiziell gegründet wurde.

Video \“Vancouver – Perle am Pazifik\“

Es war also der tatsächliche Goldrausch, der bei Vancouvers Stadtgründung Pate stand – so wie bei jener Whistlers der Rausch des »weißen« Goldes, das mit Skianlagen zu verdienen ist. Entsprechend stürmisch verlief die weitere Entwicklung. Aus den 5000 Bewohnern des neu gegründeten Vancouver waren um 1900 bereits 100.000 geworden. Vor allem Forstwirtschaft und Handel florierten; der Hafen wurde zu einem der bedeutendsten an Amerikas Westküste. Das Finanzkapital entwickelte sich, während Industrie nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die vor allem in den letzten Jahren erfolgte Zuwanderung aus Asien, vor allem Hongkong nach dessen Übernahme durch China, beflügelte vor allem den Dienstleistungssektor, der dadurch zum Aufschwung Vancouvers als Touristenmetropole beitrug. Selbst in abgelegenen Winkeln wie in White Rock an der Boundry-Bucht ist etwas von heiterem Sommerfrischen-Flair entstanden.

Video „White Rock statt white sports“

Gleichzeitig aber verstärkten der schwache Produktionssektor und die Zuwanderung die sozialen Probleme. Vancouver gilt heute als eine der lebenswertesten Städte der Welt und ist doch zugleich ein Ort tiefer Armut und ausweglosen Elends. Man muss in Gastown nur wenige Schritte südöstlich gehen, in Richtung Chinatown, dann stößt man um die Hastings Street auf Downtown Eastside, das Elendsviertel Vancouvers. Hier sind die Häuser verfallen, Müll bedeckt die Straßen, und in den Hauseingängen kann man nicht selten Drogensüchtige sehen, die ihren Rausch ausschlafen. 12.000 Menschen sollen in Vancouver rauschgiftabhängig sein. In Downtown Eastside ist es jeder Dritte der 18.000 Einwohner. Von diesen sind 3000 obdachlos. Die Stadt hat weltweit die höchste Rate von HIV-Infizierten. Die Menschen in Vancouvers Slum haben nur das gute Viertel eines kanadischen Durchschnittseinkommens zur Verfügung.

Natürlich soll dies bei den Spielen nicht sichtbar sein. Mit Razzien versuchte man die Obdachlosen aus dem Stadtbild zu vertreiben. Zielführender war, dass viele von ihnen für ein geringes Entgelt zur Müllbeseitigung eingestellt wurden. Denn natürlich will Vancouver nicht den Eindruck einer hartherzigen, kalten Stadt machen. Es gab sogar das Projekt, zwei Drittel der Wohnungen im Olympischen Dorf als Sozialwohnungen zu vermieten. Dann explodierten die Kosten, und man reduzierte den Sozialwohnungsanteil auf 250, während 730 sehr teuer verkauft werden sollen – in Spitzenlagen des Geländes am False Creek ist von bis zu 10 Millionen Kanada-Dollar (6,6 Mio Euro) die Rede. Doch auch dagegen regt sich Widerstand. Es könne nicht sein, dass mit Steuergeldern »Sozialwohnungen mit Panoramablick« finanziert würden. Jedes Land hat eben seine Westerwelles.

Zu den Armen in Vancouver gehören nicht zuletzt die Ureinwohner des Landes, das ihnen einmal ganz allein ihr Eigentum war. Immerhin sieht Kanada in ihnen heute die anerkannten »First Nations«, doch die mit Gewalt und Tricks über Jahrhunderte geschaffenen Besitzverhältnis berührt das nicht. Zwar werden inzwischen zahlreiche Prozesse über die frühere Landnahme geführt, aber nur selten kommen die Indianer zu ihrem Recht. Und im Zuge der Olympiavorbereitung sind eher neue Ungerechtigkeiten geschaffen worden. Die Skigebiete um Whistler gehörten einst dem Stamm der Lil’wat, doch das interessierte niemanden, als vor 40 Jahren der Aufbau des Skiresorts begann. Im Gegenteil, der Erfolg weckte neue Begehrlichkeiten.

Video \“First Nations – abgefunden mit Folkore\“

Nördlich von Whistler stießen wir bereits 2000 auf ein Protestcamp des St’at’imc-Stammes, Vier, fünf rohe Stämme zu einem Gerüst aufgerichtet, darüber ein grelles Tuch. Schilder, unbeholfen bemalt mit Protestlosungen: »Stoppt die Bedrohung unseres angestammten Heimatlandes«. Ein Mitvierziger in verwaschenen Jeans spricht jeden Autofahrer an, drückt ihn einen Text in die Hand, bittet um Unterschriften. Auch dort sollte eine alpine Skianlage entstehen, im Lebensraum vieler Tiere, darunter der in diesen Breiten relativ seltenen Grizzly-Bären. Mit dubiosen Gutachten wollte sich der Investor, die »Nancy Greene-Raine Resort Consultants Inc.«, durchsetzen, weshalb die Indianer die Öffentlichkeit alarmierten. Und sie hatten bislang Erfolg. Antwortete die kanadische Regierung zunächst mit Polizeieinsätzen, wollte sie dann doch im Vorfeld der Olympia-Bewerbung und der Vorbereitung der Spiele den Protest der Ureinwohner nicht provozieren.

Nicht zuletzt deshalb erklärte sie die »First Nations« bezüglich Olympias sogar zu »First Host Nations«, also zu Gastgebern, und bezog sie intensiver in die Vorbereitung ein. Besonders die Häuptlinge der vier großen Stämme der Gegend, der Lil’wat, Musqueam, Squamish und Tsleil-Waututh, wurden von ihr umworben. Zehn Prozent der olympischen Bauaufträge in einem Wert von 54 Millionen Dollar gingen an Unternehmer,der Ureinwohner. Ihnen wurden Grundstücke übertragen, womit sie jedoch gleichzeitig die angeblichen Eigentumsrechte des kanadischen Staates anerkannten. Aber auch Ausbildungszentren, Sportmannschaften u.ä. wurde finanziert. So haben viele Indianer durchaus von den Spielen profitiert, wenn auch nur zeitweise. Bei der großen Masse jedoch kam von den olympischen Almosen wenig an, weshalb sie ihre Gastgeberrolle für eine große Heuchelei halten und sich teilweise in offenen Widerspruch zu ihren Häuptlingen setzten. »Regierungspuppen« nannte sie zum Beispiel Gordon Hill, Mitglied des Kwakwaka’wakw-Stammes, dem es vor allem um die Revision der Landnahme geht. »Keine Spiele auf gestohlenem Land«fordert er bereits sei 2002, als man noch versuchte, die Spiele in und um Vancouver zu verhindern.

Das ist misslungen, und manche Indianer sind heute durchaus stolz, dass in ihrem Stammland ein solches Ereignis stattfindet. Andere sehen sich notgedrungen veranlasst, gute Miene zu diesem Spiel zu machen. Sie können ihren geringen Verdienst ein wenig aufbessern, auch durch die Teilnahme an Ausstellungen und Kulturprogrammen, wo sie in Nationaltracht ihre uralten Tänze aufführen. Zum Protest können sie solche Auftritte allerdings nicht nutzen; das haben die Olympia-Organisatoren durch entsprechende Verträge verhindert. Deshalb lehnen viele Indianer das Spektakel ab, von dem einiges auch bei der Eröffnungsfeier der Spiele zu sehen war. »Das ist wie im Zirkus«, sagen sie. »Man zieht uns schöne Kleider an und lässt uns auf der Bühne tanzen.« Sie wollen sich nicht dadurch abfinden lassen, dass sie den folkloristischen Rahmen für Olympia liefern.

Denn wohl nicht zu Unrecht fürchten sie, dass selbst die wenigen, die jetzt von den olympischen Spielen profitieren konnten, nach Erlöschen der Flamme das alte Elend wieder einholt. Im Reservat der Lil’wat am Mount Currie sind zwei von drei Indianern arbeitslos und fristen ein erbärmliches Dasein zwischen Hunger, Alkohol und Verzweiflung. Von hier hat sich noch kaum einer der Ureinwohner-Nachfahren ins nur 40 Kilometer entfernte Whistler gefunden. Und deshalb interessiert sie Olympia auch nicht. Sie wissen aus Erfahrung, dass auch für sie das Gleiche wie fürs die olympische Feuer gilt: Wenn die Flamme verlischt, bleibt die Asche zurück.

One Reply to “Wie umtriebiges Business die Olympiaorte Vancouver und Whistler erfand”

Comments are closed.