Gysi trifft Zeitgenossen

Seit dem Frühjahr 2003 steht im Spielplan des Deutschen Theaters Berlin »Gregor Gysi trifft Zeitgenossen«. An einem angemessenen Ort also befragt der Bundestagsfraktionschef DIE LINKE prominente Gäste nach deren Leben und Sicht auf die Zeitläufte mit ihren kulturellen und politischen Lichtpunkten, Verwerfungen und Herausforderungen. Genügend Zeit, um Zwischenbilanz über ein DT-Unternehmen zu ziehen, das sich ungebrochener Zuwendung erfreut. 

  

»Du kannst nie tiefer fallen

als in Gottes Hand…«

  

Text und Fotos: Rudolf Hempel

Die Schlange vor der Kasse wäre so lang wie vor jeder Premiere, schreibt anerkennend der FREITAG am 14. März 2003 im Beitrag »Gespräch vor Goldfischen«. Allerdings sei »das Objekt der Begierde« keine neue Inszenierung, sondern eine neue Gesprächsrunde, die am Sonntagmorgen im Deutschen Theater Berlin aus der Taufe gehoben werde. Deren Sinn und Zweck zum Matinee-Auftakt mit Peter Zadek von DT-Intendant Bernd Wilms mit »Blick über den Tellerrand« und Talenten von Gysi begründet wird, »die uns Theaterleuten nicht unsympathisch sind«, was genau er damit auch gemeint haben mag. 

Gysi-Zadek, das also ist der Auftakt. Inzwischen gibt es mehr als 50 dieser Begegnungen der besonderen Art. Auf  jenen Brettern, die seit 1850 quasi systemübergreifend und einander ausschließend – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR, wiedervereintes Deutschland – weit mehr als nur die (Theater) – Welt bedeuten. Der Gastgeber erwarb sich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten deutschlandweit einen guten Ruf. Man kennt ihn im Osten wie im Westen. In maßgeblichen Parteiämtern stieg er als streitbarer Denker, begnadeter Selbstdarsteller, Buchautor und Hoffnungsträger zum Verkünder linker Glaubenssätze auf. Zunehmend wird er ob inhaltlicher Kompetenz und volksnaher Originalität auch vom politischen Gegner akzeptiert. Nicht nur im Bundestag. 

Politische Gegner dürften unter den Zuhörern im DT  eher die Ausnahme sein. Hier dominiert offensichtlich ein vornehm gekleidetes Berliner Bildungsbürgertum. Die Sympathisanten kennen sich. Gestenreich artikulieren Damen und Herren mittleren und höheren Alters ihre Erwartungen an den zeitgenössischen Disput, ehe sie heiter gestimmt Platz nehmen. 

Exorbitante Gästeliste

Nicht ganz so dominierend, originell, anregend und unterhaltsam wie Gysi das politische Spektrum des Landes mit der Farbe Rot versieht, erleben ihn die zur Hälfte seinetwegen, zur anderen Hälfte um der Gäste willen Gekommenen knappe zwei Sonntagsstunden. Auf der von einer eher kühlen Rückwand, designlosen Sesseln und einem Goldfische-Aquarium bescheiden dominierten Bühne kann (und will?) sich der Moderator nur eingeschränkt entfalten. Strahlkraft und Potential seiner Gesprächspartner aus Kultur, Politik, Wissenschaft, Sport, Literatur und Journalismus sind geradezu exorbitant. Der Gästelisteabriss spricht Bände. 

Auf Zadek folgen im »Startjahr« Daniel Barenboim, Frank Castorf, Günter Gaus und die »Intimfeinde« Martin Walser (»Tod eines Kritikers«) und Marcel Reich-Ranicki. Denen schließen sich Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, Egon Bahr, Oskar Lafontaine und Gesine Schwan an. Es folgen 2005 Alfred Hrdlicka, Benno Besson, Heiner Geißler, Walter Jens und Berlins Regierender Klaus Wowereit. Danach sitzen Armin Müller-Stahl, Klaus Maria Brandauer, Klaus Staeck und im Jahre 2007 Hermann Kant, Wolfgang Leonhard, Peter Scholl-Latour und Filmregisseur Kurt Maetzig dem Fragensteller mit dem Wikipedia-Zettelkasten gegenüber. 

Zwei Sessel, zwei Karaffen, zwei Gläser, zwei Goldfische: zwei Personen - Gysi und Käßmann

Heinz Florian Oertel und Fußballtrainer Hans Meyer sowie die über längere Zeiten eng mit dem DT liierten Bernd Wilms, Gisela May und Inge Keller folgen. Ehe sich Günter Wallraff, Norbert Blüm, Peter Sodann, Hape Kerkeling, der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom und »Multiprovokateur« Christoph Schlingensief im Sessel platzieren. Zu Jahresbeginn ist Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann zu Gast. Sie sorgt schon vor dem Gespräch, noch viel mehr aber danach, für Schlagzeilen. 

So unvollständig diese Aufreihung auch ist, sie  vermittelt doch wenigstens eine herausfordernde Ahnung über die durch Gysi und Gäste provozierten neuen Erkenntnisse und tieferen Einsichten. und den Wert von Unterhaltung, die den Namen auch verdient. Bei allen Unterschieden in  Temperament und Tiefgang, Bildung und Unterhaltung kommen am Sonntag nie zu kurz. Die Bühnenakteure  als personifiziertes Spiegelbild deutscher Politlandschaft: Nur selten ist Revolution angesagt, Reform dominiert. Das Bildungsbürgertum sieht sich eher bestätig als herausgefordert. Gysi hat für beide Varianten Verständnis und auch Vorschläge. 

Zustimmung und (fragwürdige) Kritik

Keine Frage, dass auch die Medien eine DT-Premiere der besonderen Art mit ihrem Kommentar begleiten. Im Neuen Deutschland komprimiert Hans-Dieter Schütt: »Das Gespräch erzählt ein Leben«. Der Beitrag »Heiter zwischen allen Stühlen« konstatiert »knallvoll bis unters Dach«, analysiert tiefschürfend und umfassend das Phänomen Zadek. Über dessen Äußerungen zu Brecht, zum BE und dessen (gescheitertem) deutsch-deutschen Viererdirektorium-Experiment. Integriert an passender Stelle ein zustimmendes Publikum. Erwähnt am Schluss Gysis Ehrenrettungsversuch in eigener Sache: reiner Pragmatismus ruiniere einen Politiker ebenso wie ein Schwelgen in Visionen, das ohne Bodenhaftung im realen Leben der Gesellschaft bleibe. 

Soweit die sozialistische Tageszeitung. Es gibt aber auch kritische Stimmen. In Theater heute 04/03 ist unter »Meister und Musterschüler« zu lesen: »Gysi, der als Politiker meist als pointensicherer Paradiesvogel daherkam, ist als Talkmaster ein Papiertiger…« Um dann den so kühnen wie – auf Gysi bezogen – fragwürdigen Schluss zu präsentieren: »Politiker sind anscheinend nur eitel, nicht aber neugierig auf andere Menschen«. Der Tagesspiegel attestiert in »Der ewige Provo« dem Moderator immerhin ein Reaktionsvermögen der besonderen Art. Nachdem Zadek sich eine Stunde lakonisch und witzig über seine Lehr- und Meisterjahre geäußerte habe, sei er plötzlich mit der Bemerkung »Ich muss mal pinkeln« aufgestanden und von der Bühne verschwunden. Gysi aber hätte das Treffen mit dem – vorübergehend – abwesenden Zeitgenossen fortgesetzt, so als wäre der weiterhin anwesend. Und spricht über Weltgeschehen, Sicherheitsrat und Politik. 

Die Berliner Morgenpost, mit ihrer braunen Vergangenheit bekanntermaßen in rechter Richtung meilenweit entfernt von linker Offenbarung Gysischer oder Schüttscher Prägung, schreibt in »Zettelwirtschaft«: »Er klebte am Zettelkasten, vollgestopft mit allerlei Angelesenem über einen der berühmtesten Regisseure Europas«. Mit herablassendem Unterton formuliert das Blatt: »Alles ein bisschen wie auf der Volkshochschule, die ihren Theaterkurs krönt mit einem Superstar, der in gelassener Weisheit ein wenig im Nähkästchen kramt«. Konstatiert in gleicher Tonlage, mit Seiten-blick auf den Gast, das Gespräch sei »keine verlorene Zeit«. Um schließlich die Grundsatzfrage zu stellen: »Aber muss man dafür extra einen Sonntagvormittag opfern? Oder anders: Muss man dafür einen Gysi engagieren? Wahrscheinlich kommt der nur als Solist in Hochform.« 

Antwort des Publikums

Es ist das gute Recht der MoPo solche Fragen so zu stellen. Das Deutsche Theater hat die Antwort darauf, grundsätzlich und auch bezüglich des »Hochform-Verdikts«, schon vorher gegeben. Birgit Rasch, sie betreut die Gysi-Reihe, über das DT-Konzept: »Im Mittelpunkt der Matinee steht der Gast. Es geht um seine Biografie, sein künstlerisches und politisches Werk, seine Sicht auf die Welt. Gregor Gysi versteht sich als Gastgeber, stellt Fragen und macht kurze Anmerkungen.« Das Publikum akzeptiert diesen Anspruch grundsätzlich und honoriert ihn dauerhaft: Bis heute sind die »Treffen der Zeitgenossen« ausverkauft. Stammgast Dr. Siegfried Weidauer: »Unser Freundeskreis kommt schon allein wegen Gysi. Der Mann hat einfach politisches Format. Das ist selten in diesem Land. Er ist immer ziemlich gut vorbereitet, stellt kurze, präzise Fragen und verhält sich, was ihn selbst angeht, im Gegensatz zu anderen öffentlichen Auftritten hier eher zurückhaltend. Der Matineebesuch ist für mich,  meine Frau und die Freunde ein echter Gewinn. Natürlich auch wegen solch unterschiedlicher  Prominenz wie Nooteboom,  Kerkeling oder Christoph Schlingensief.« 

Der Mediziner im Ruhestand und Fußballfan aus Passion ist auch dabei, als der aus Jena stammende Fußballtrainer Hans Meyer – der Retter von Hertha, Mönchengladbach und Nürnberg – im März 2008 Überlegungen und Sprüche rund ums runde Leder zum Besten gibt. Hier beweist Gysi, dem man alles, aber wohl kaum das Prädikat »Fußballfachmann« anhängen kann, sogar Taktgefühl in doppelter Hinsicht. Weder stellt er Fragen nach Meyers Ehescheidung im Zuge der Rettungsaktionen, noch berührt er das heikle Thema »Profit der Profis«. 

Dagegen hat »Familiäres« bei Castorfs Besuch im Mai 2003 größeren Raum. Nicht zuletzt wegen der Liaison zwischen Gysis Schwester Gabriele und Castorf, als dieser noch als Oberspielleiter in Anklam das Publikum polarisierte. Aber auch wegen Castorfs Eltern – der Vater war privater Eisenwarenhändler in Berlin und, für Gysi im Gespräch, »irgendwie ein Teil der Opposition« – um die sich dieser Gysi auf  Anfrage des Sohnes mal ein bisschen kümmern sollte. Vielleicht weil Castorf Junior annahm, dass dem Eisenwarenhändler das volle Verständnis für seine provokatorischen Inszenierungen fehlte. 

Um provokatorische Inszenierungen geht es auch in der im Oktober 2009 vom Moderator G.G. hinterfragten Vita von Hape Kerkeling. Der als Comedian, Parodist, Kabarettist, Entertainer, Schauspieler, Sänger und Kanzlerkandidat Horst Schlämmer in einer Person seit über 20 Jahren Preise sammelt, nachdem ihm die Oper über einen Wellensittich missglückt war. 

»Der Schöpfer wirft uns in die Luft, um uns am Ende überraschenderweise wieder aufzufangen. Es ist wie in dem ausgelassenen Spiel, das Eltern mit ihren Kindern spielen. Und die Botschaft lautet: Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein.« (Zitat Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg...)

Vor knapp zehn Jahren nimmt sich der Allrounder eine Auszeit, macht sich als Pilger auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela und landet mit den Tagebuchaufzeichnungen »Ich bin dann mal weg – Meine Reise auf dem Jakobsweg«  (Piper, 2009) einen weiteren Besteller. DT-Besucher können das Buch für 9,90 Euro kaufen, signieren lassen und sich gelegentlich der Signatur mit dem Autoren über den tieferen Sinn solcher Sprüche wie »Die Deutschen können sich nicht ertragen – und strahlen das auch noch aus« oder »Das größte Hindernis im Leben ist man selber« ins Benehmen setzen. 

Gisela May und Inge Keller

Überhaupt nicht verwunderlich das Signal »Ausverkauft«, wenn es um Gysis Gespräche mit zwei herausragenden Damen der deutschen Theaterlandschaft geht. Gisela May und Inge Keller geben im Herbst 2008 (als das Haus erneuert wird), erstere im Zelt vor dem DT, die andere in den Kammerspielen nicht nur den Blick frei auf ihre familiäre Herkunft und deren zeitgebundene Verhältnisse zur und mit der jeweiligen Macht. Sie offenbaren auch, angemessen, ihre Affinität zu Männern, geben Erinnerungen preis an Wolfgang Heinz, Bert Brecht, Helene Weigel oder Fred Düren. Brillieren mit Zitaten. Die bei der Keller im Falle Volker Braun von dem im Publikum befindlichen Autor ergänzt werden. Und die bei der May zu einem perfekten »Auftritt« führen. Bei dem dann Gysi, seiner Jacke entledigt, von der Sessellehne aus Beifall spendet. Theatergeschichte pur. 

»Ich schaue aus dem Fenster und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen.« (Buchzitat Schlingensief)

Ähnlich ist es bei Christoph Schlingensief, der im Dezember 2009 im DT zu Gast ist. Dieser mit gegenläufigen Superlativen überhäufte Theaterregisseur und Filmemacher hat wie kaum ein Zweiter als »Provokateur« in widersprüchliche und kritikwürdige Gesellschaftsprozesse eingegriffen. Der Heilsbringer verstummt auch dann nicht, als ihn der Krebs mit seiner Todesbotschaft heimsucht. Ein Messias greift zum Stift. »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein« (Kiepenheuer & Witsch, 2009) nennt der Sterbelehrer seine Botschaft an Betroffene und Gefährdete. Die er nach dem Treffen, angeliefert ins DT von der Krimibuchhandlung »totsicher« aus Prenzlauer Berg, signiert. Nicht ohne dabei auf die Anteilscheine á 50,-Euro für sein Festspielhaus in Afrika zu verweisen. 

Gysi wird bei Schlingensief zum Stichwortgeber, das Treffen zu einem Anekdotenfestival. Das  Goethe mit  dem Wohlwollen eines Dichterfürsten kommentiert hätte. Denn ihm gelten »eine Sammlung von Anekdoten und Maximen für den Weltmann (als) der größte Schatz, wer die ersten an schicklichen Orten ins Gespräch einstreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß« 

Was für eine Geschichte…

Nootebooms Urteil über Gysi als Befrager: »Gut«

Auch Cees Nooteboom, Ex-Klosterschüler und Tramper, Reisender von Beruf und Berufung, steckt voller Anekdoten und Maximen. Er zählt zu den Autoren, die »im trefffenden Falle sich zu erinnern wissen«. Geschichten über Jahrzehnte in aller Welt sammeln, in Buchform bringen und im November 2009 vor vollem Haus im Stile eines Souverän holländischer Herkunft ausbreiten, das ist Nooteboom, sonntäglich in Samt und Seide gekleidet.  

Zur Rede kommt, dass er als Reporter 1956 über den Ungarn-Aufstand, 1963 über den VI. SED-Parteitag, 1968 über die Studentenunruhen in Paris und ab November 1989 über den Zusammenbruch der DDR berichtete. Ein Weltbürger, dem auch der Sinn für Reiseromantik und Liebessehnsucht nicht fehlt. Das wird in seiner 1991 bei Suhrkamp erschienenen Novelle »Die folgende Geschichte« – mit der er nach einer Lobpreisung  Reich-Ranickis (der im September 2003 bei Gysi war) in Deutschland den kommerziellen Durchbruch erzielte – sinnfällig. 

»Du brauchst mir nicht mehr zu winken, ich komme schon. Keiner der andren wird meine Geschichte hören, keiner von ihnen wird sehen, daß die Frau, die da sitzt und auf mich wartet, das Gesicht meiner allerliebsten Kriton hat, das Mädchen, das meine Schülerin war, so jung, daß man mit ihr über die Unsterblichkeit sprechen konnte. Und dann erzählte ich ihr, dann erzählte ich ihr DIE FOLGENDE GESCHICHTE.« 

Die Novelle – ein ganz und gar belangvoller, aber nicht weniger mysteriöser Text. Dessen Ende offen bleibt… 

 Ähnlich wie die folgende, scheinbar unendliche Geschichte der Margot Käßmann. Die im Januar des Jahres bei Gysi zu Gast war und zu diesem Zeitpunkt als Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende nicht nur in Insiderkreisen durch ihre außerordentliche, nicht unumstrittene Kirchen-Karriere sowie ihre familiären Offenbarungen von sich reden machte. Mit ihrer in der Heiligabendpredigt 2009 in der Marktkirche zu Hannover geäußerten Kritik am Bundeswehreinsatz im Afghanistankrieg erntet sie breite Zustimmung beim »Volk« und große Vorbehalte der herrschenden politischen Klasse. 

»Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden… Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen 

Gysi nach der Matinee im Gespräch mit Besuchern

Mit den öffentlichen, von manchen Medien als naiv bezeichneten Überlegungen das Gastes im Hinterkopf befragt an diesem Sonntag ein bekennender Atheist eine überzeugte Christin. Und markiert die »Vorwürfe gegen eine Frau, die nicht für den Krieg ist«, als das, was sie sind, als »einen einzigartigen Skandal«. Margot Käßmann, über fünfzig, geschiedene Mutter von vier erwachsenen Kindern, Buchautorin, wie Schlingensief in Krebs-OP-Nachsorge, heute im schwarzen Hosenanzug, macht Gysi und den Besuchern selbstbewusst, humorvoll und nachdenklich ihre gegenwärtige Sonderstellung im öffentlichen Leben deutlich. Sie habe ihre Predigt noch einmal gelesen. Keine Frage, auch heute habe sich ihre Meinung nicht geändert. Und – sie bleibe dabei. Deshalb sei sie, trotz Erwägung abzusagen, hierher gekommen. Das Publikum dankt hörbar. 

Innerhalb des Dialogs Gysi-Käßmann kommt der Gast auch auf die Wahl zur Bischöfin der Evangelisch – Lutherischen Landeskirche von Hannover zu sprechen. Sie habe gedacht, ein solches Amt passe nicht zu ihr. Als sie das äußerte, wurde sie mit den Worten beruhigt, sie werde ohnehin nicht gewählt. Es ginge nur um »eine Frau auf der Liste«. Als sie dann aber doch gewählt wurde, dachte sie: 

«Lieber Gott, wenn du es jetzt so eingerichtet hast, musst du sehen, wie wir damit klar kommen.« 

Als bekannt darf wohl vorausgesetzt werden, dass der Gysi-Gast ein paar Wochen nach seinem DT-Auftritt – exakt am 20. Februar gegen 23 Uhr – in Hannovers Innenstadt unter Alkohol mit dem Dienstwagen VW Phaeton eine rote Ampel überfuhr. Und welche Konsequenzen dieser »so schlimme Fehler« bis dato für die höchste evangelische Würdenträgerin hat. Einschlägigen Medien scheint dieser Tatbestand so etwas wie eine »unhimmlische Botschaft« für die streitbare Frau Gottes zu sein. Bestimmte Kreise vermuten gar, dass auch auf solche Weise »unbequeme Personen« aus dem öffentlichen Verkehr gezogen werden können. Daran ändert auch die Flut von inzwischen über 2000 Briefen und 12.000 Mails nichts, in der dieser mutigen, aber unvorsichtigen Frau mit Sinn für Reiseromantik (?) überwiegend Anteilnahme, Ermutigung, Respekt und Mitgefühl zuteil wird. 

Unter Bezug auf das offene Ende von Nootebooms »Folgende Geschichte«, auf die von der frisch gewählten Landesbischöfin geäußerten Bitte an den lieben Gott und, auch unter Bezug auf die Überschrift zu diesem Report dürfte es sich im »Falle Käßmann« wohl um eine der seltene Merkwürdigkeiten im Leben eines Menschen handeln, deren Hintergründe für immer und ewig im himmlischen Dunkel bleiben. 

Nächster Zeitgenosse: Thomas Langhoff

Den nächsten ZEITGENOSSEN trifft Gysi am 24. April. Es ist der kürzlich mit dem Berliner Kunstpreis ausgezeichnete Thomas Langhoff. Dieser stand von 1991 bis 2001 dem Theater an der Reinhardtstraße vor. In einer Prominenten-Reihe, zu der neben Max Reinhardt, Heinz Hilpert, Wolfgang Heinz, Hanns Anselm Perten, Gerhard Wolfram, Rolf Römer, Dieter Mann auch sein Vater Wolfgang Langhoff (Intendant von 1946-1963) zu zählen ist. 

Wer sich über den Gast im Vorfeld kundig machen will, dem sei das Buch von Hans-Dieter Schütt »Spielzeit/Lebenszeit – Thomas Langhoff«, Verlag Das Neue Berlin empfohlen. 

Schon heute steht fest, das DT verfügt auch für Gysi-Langhoff nur noch über Restkarten an der Kasse. „Ausverkauft“ ist erneut programmiert. Ein weiteres Beispiel für die Resonanz dieser Veranstaltung. Für die, wen sollte es wundern, es  auch Interessenten aus dem TV-Bereich gibt. Dazu Helena Huguet, DT-Kommunikation: 

»Anfragen von Fernsehsendern, die Gespräche zu übertragen, gibt es immer wieder. Wir haben uns aber bewusst dagegen entschieden, um die Einmaligkeit und den intimen Charakter zu bewahren.« 

Überlegenswert scheint dem Autor allerdings eine Nachbereitung von »Gysi trifft Zeitgenossen« in Buchform zu sein. Zur Erinnerung: Der Linke mit Fortune veranstaltete Ende der 90ziger Jahre in seinem Berliner Wahlkreis Hellersdorf/Marzahn die Gesprächsreihe »Über Gott und die Welt«. Seine ersten Gäste waren Daniela Dahn, Lothar de Maiziere, Hans-Otto Bräutigam und Lothar Bisky. Das dann von Dietmar Keller und Jürgen Reents herausgegebene gleichnamige Buch erschien 1999 bei Schwarzkopf & Schwarzkopf. Es ist und bleibt ein unterhaltsames Dokument von hohem Zeitwert. Ein Prädikat, dass dieser DT-Matinee allemal ausgestellt werden darf. An Interessenten dürfte es in einem Kulturkreis, der weit über das sonntägliche Bildungsbürgertum hinausgeht, nicht mangeln.

3 Replies to “Gysi trifft Zeitgenossen”

  1. Das trifft sich gut!
    Liebe Bloger,

    schon seit einiger Zeit lausche ich Euren Gesängen. Sowohl den „politisch-garstigen“, als auch den „kulturell-kritischen“. Mit viel Genuss. Besonders obiger Artikel hat mein Interesse durch das Zitat (es ist doch ein Zitat?) „Man kann nie tiefer fallen, als in Gottes Hand“ geweckt. Lieber Blog-Sänger Hempel, könntest Du mir bitte sagen, wo Du dieses Zitat her hast?

  2. Liebe Blog-Leserin Cornelia Weise (Nancy)
    ein solcher Kommentar freut natürlich Vorsänger Peter Richter, wie Co-Sänger Rudolf (Rudi). Noch dazu, wenn sich beim Lesen Genuss einstellt.
    Was die Frage angeht:
    Das Zitat „Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand“ stammt von der Landesbischofin und EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann.
    Sie hat es am Schluss ihrer Rücktrittsbegründung geäußert. Und damit zugleich kundgetan, dass -aus ihrer Sicht – immer einer da ist, an den mann sich wenden kann, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, Schuld auf sich geladen hat: Gott.
    Die Blogsänger bemühen sich weiterhin um „politisch-garstige“ wie „kulturell-kritische“ Beiträge, die von ihren Lesern zustimmend aufgenommen werden.
    In diesem Sinne weiterhin gute Unterhaltung…
    Rudolf (Rudi)

  3. Ein ausgezeichneter Überblick, mit großem Aufwand und gediegener Sachkenntnis geschrieben. Gratulation! Wünschenswert wäre, diese Gespräche in Buchform zu edieren! Gert Lange

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