»Wir dachten, die Revolution ist gleich um die Ecke…«

Wann wird eine Straße nach Ruth Werner benannt, die vor zehn Jahren starb?

Von Rudolf Hempel

 

 Als wir uns verabschiedeten, schenkte sie mir ein kleines, grünes Buch. »Carwitzer Notizen«, erschienen 1985 im Kinderbuchverlag Berlin. »Das

»Jeder Autor hat beim Aufschreiben seiner Erinnerungen Schwierigkeiten: Auswählen, komprimieren und die Wahrheit sagen, das war für mich der Weg. Mit gutem Gewissen«. Ruth Werner, 14. April 1977

habe ich mir von der Seele ge­rissen«, so ihr Kommentar. Übergabe war am 15. Juli 1991, einem sonnigen Sommertag. Diesmal hatten wir unseren – seit Ende der 70er Jahre »obligatorischen« – Termin mit Tee Made in China, zzgl. Mürbgebäck – nicht in Ruth Werners Domizil Dammweg 35 in Ber­lin-Baumschulenweg, sondern auf dem »Landsitz« in Carwitz. Das Fischerdorf nahe Feldberg, heute weithin bekannt durch das Hans-Fallada-Museum, war für sie und ihre Familie seit den 50er Jahren in den Ferienmonaten ein Ort der Erholung von der Großstadt, man trifft sich mit Freunden, denkt nach über Gott und die Welt. Und schreibt.

Beim Spaziergang blickten wir mit gemischten Gefühlen zurück und nach vorn: auf den sinkenden Stern Gorbatschows, mit Bedauern auf die schon gescheiterte DDR, mit Be­denken auf die neue, für uns aber alte Republik. Später zeigte sie mir die im Vorjahr in Lon­don erschienene vollständige Ausgabe von »Sonjas Rapport«. Da wäre jetzt, so ihr Kurzkommentar, der Klaus Fuchs drin. Kein weiteres Wort in Richtung »vollständige Ausgabe«. Das Prinzip Verschwiegenheit lässt grüßen.

Zurück in Berlin las ich den Sammelband. In ihrem Beitrag »Damals bei ihr zu Haus«, findet sich folgende Passage:

»Später als wir älter wurden und die Kinder nicht mehr mit uns kamen, waren wir fast jeden Nachmittag in Falladas Garten. An die hundert Seiten »Sonjas Rapport« gehören zu seiner Wiese, mit Blick auf den Carwitzer See; hundert Seiten dem win­zigen Rasenfleck vor dem Gemüse – und Blumengarten der Ursula Bartels mit Blick über den Dreetz, der wie ein Bergsee ins Tal gebettet liegt.«

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Möglich, dass zu dem in Carwitz Geschriebenen die Fuchs-Passage ge­hörte. Sie war, das ergeben Recherchen bei der Birthler-Behörde zur Anthologie »Funksprü­che an Sonja«, in der Rapport-Urfassung enthalten. Blieb aber, nach Konsultation mit der sowjeti­schen Seite und auf Weisung Honeckers, ungedruckt. Diverse Dokumente legen offen, welcher Sprengstoff in einem Bestseller, wie diesem und seiner Entstehungsgeschichte stecken: Ruth Werner und ihre »Verbündeten« mussten sich, hin­ter den Kulissen, mit der eigenen Macht auseinandersetzen. Noch mehr aber mit der befreundeten. Dabei ging es zwar nicht mehr, wie es möglicherweise dort in den 30er Jahren gewesen wäre, um Leben oder Tod. Immerhin ging es hier aber um Sein oder Nichtsein – von »Son­jas Rapport«.

Über die Geschichte hinter Fuchs hatte meine Freundin im Herzen und im Geiste nicht nur mir gegenüber in Carwitz kein Wort verloren. Auch die Familie blieb uninformiert. Wie in ähnlich gelagerten »Fällen« durften davon nur die üblichen Verdächtigen wissen, sonst Niemand. Erst nach Erscheinen der englischen Ausgabe, deutscher Nachwende-Presseveröf­fentlichungen, der »Helden und Verräter« genannten TV-Serie Top-Secret sowie des kom­pletten Textes im Verlag Neues Leben, wurden die wahren Konturen einer ungewöhnlichen Person augenscheinlich. Das, was sie geleistet hatte, vermittelte und stand so über den gegensätzlichen Systemen, die im Zweiten Weltkrieg Verbündete waren.

Über Ruth Werner, alias Sonja, hatten sich in der damaligen DDR schon ungezählte Leser ein Bild machen können. Ihr Bestseller ist in knapp 500 000 Exemplaren unter die Leute gekommen. Hier hatte eine Kundschafterin,  Agentin,  Spio­nin – je nach Standpunkt und/oder Standort – lakonisch Mitteilung von ihrem Leben und unse­rer Welt gemacht. Dafür wurde sie vom Freund hoch dekoriert, aber auch vom Feind gelobt und aner­kannt.

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Die am 15. Mai 1907 im Westen Berlins geborene, einem gutbürgerlichen, linksliberal orientierten jüdischen Hause angehörende junge attraktive Frau war zu Bewusst­sein gekom­men in einer Zeit, geprägt von Hoffnung auf gravierende gesellschaftliche Verän­derung: »Wir haben damals gedacht, die Revolution ist gleich um die Ecke«. Und sie kaufte vom ersten Lehr­lingsgeld, »es mögen wohl 30 Mark gewesen sein«, eine Parabellum. Daran erin­nerte sich später Ruth Werner.

Als Ruth Werner noch Ursula Kuczynski hieß, heiratete sie. Das war 1929. Ausgerüs­tet mit grenzenlosem Sendungswillen, erstaunlichem Mut und starker Energie begann für sie ein Jahr später in Shanghai eine neue Etappe ihres Lebens. Ange­worben und mit Deckname »Sonja« versehen von Ri­chard Sorge arbeitete sie 20 Jahre im Auftrag des Russischen Militärischen Geheim­dienstes GRU. Sie erlernte einen Chiffrier-Code allererster Güte, qualifizierte sich sechs Monate am Mos­kauer Arbat zur exzellenten Funkerin, knüpfte internationale Netzwerke, baute unsichtbare Sender, erwarb beim »Klassenfeind« die Fahrer­laubnis. Sie wirkte, oft unter Lebensgefahr, in China, der Mandschurei, Polen, der Schweiz. Und in England, wo sie als »Nachrichten-Bote« von Kernphysiker Klaus Fuchs mit diesem die Antihitlerkoalition stärkte, und damit dem Bündnispartner Sowjetunion half.

An ihrer Seite standen auch ihr erster Mann (Architekt Rolf Hamburger), eine Liaison (Führungsoffizier Ernst) und der zweite Ehemann (Spanienkämpfer Len Beurton). Die Väter von Michael, Janina und Peter. Mit denen im »Gepäck« zog Sonja durch eine Welt permanenter Herausforderungen. Was ein solches Leben im Klartext bedeutet, darüber mag jeder selbst seine bildhafte Vermutung anstellen.

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Ein Bild von Ruth Werner gewonnen hatten schon zu DDR-Zeiten nicht nur ihre lin­ken Nachbarn in Berlin-Treptow. Diese aber vergleichsweise anschaulicher, sie kannten die freundliche Frau oft aus nächster Nähe. Was dazu führte, dass sie dieses Bild von ihrer Kundschafterin und Antifaschistin auch nach der für viele problematischen »Wende« behalten wollten. Und das nicht nur als persönliche Erinnerung.

Auf den abgelehnten Antrag folgte am 15. Mai 2007 ein Protestmarsch, dem sich über 150 Sympathisanten anschlossen. Foto: B. Lange

Die progressiven Kräfte, zu denen neben den Treptower LINKEN wohl auch der Bund der Antifaschisten und das Bürgerkomitee zu zählen sind, entwickelten das von Jutta Matu­schek, Mitglied der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, initiierte Projekt »Straße für Ruth Werner«. Anlass war der 100. Geburtstag im Mai 2007. Dem BVV Treptow/Köpenick wurde dazu ein substantieller Antrag für einen Uferweg am Plänterwald vorgelegt, dem eine Unter­schriftendsammlung vorausgegangen war. Letztendlich wurde der Vorschlag abgelehnt.

Über das ehrenhafte Anliegen und seinen bezeichnenden Ausgang informierten damals die Medien. Inson­derheit ND und junge Welt. Die Beiträge charakterisieren den peinlichen Vorgang als das, was er ist: »Provinzposse«, »schäbiges Politspektakel«. NPD-Mann Bräuniger markierte den Tiefpunkt der Debatte. Er unterstellte Ruth Werner, sie habe sich »niederträchtig und schändlich« verhalten. Es sei »an­maßend« zu behaupten, sie habe in ständiger Bedrohung gelebt – bedroht gewesen seien ein­zig »das deutsche Volk und der deutsche Frontsoldat«.

Der Schriftsteller Eberhard Panitz bringt den Skandal im ND-Beitrag »Streitfall Straßenschild `Ruth Werner`« auf den Punkt: »Die histo­rische Wahrheit, die Lebensleistung und das mutige Engagement einer Antifaschistin, Jüdin, Kommunistin und Schriftstellerin werden auf den Kopf gestellt und zur nahezu kriminellen Untat umgefälscht«.

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Bei der Ehrung im überfüllten PRO: Linker Hans Erxleben, der Sonjas Leistung würdigte, Sohn Peter Beurton, der über die Ausstellung informierte, Journalist Rudolf Hempel, der Brisantes aus der Birthler-Behörde über die Entstehungsgeschichte von »Sonjas Rapport« offen legte. Foto: M. Weghenkel

Als sich am 10. Todestag Ruth Werners Nachbarn von damals, Genossen, Freunde und Sympathisanten in der überfüllten Begegnungstätte PRO trafen, erinnerte Hans Erxleben von der BVV-Linksfraktion Treptow/Köpe- nick an das Straßen-Projekt als Zukunftsvision.

Mit der unwürdigen Ablehnung vor drei Jahren sei das Thema nicht vom Tisch. Angeregt wurde ein in der nächsten Legislatur zu leistender neuer und vorurteilsfreier Anlauf. Er und mit ihm die LINKEN von Treptow plädieren dafür, eine wirklich machbare Version für eine Ehrung zu suchen und zu finden. »Das wäre doch dann ein schönes Geschenk zu Sonjas 105. Geburtstag im Mai 2012«. Der Forderung, den Uferweg an der Spree nach Ruth Werner zu benennen, schloss sich auch das Bürgerkomitee Plänterwald an: »Wir werden immer wieder unsere Stimme erheben, wenn es darum geht, antifaschistische Widerstandskämpfer zu ehren, die sich bis ins hohe Alter für ein besseres Deutschland einsetzten«.

Auf dem Weg dorthin sind ebenfalls die Linken von der Basisorganisation Feldberg. Sie gründeten am gleichen Tage in Carwitz einen gemeinnützigen Ver­ein. Er trägt den Namen Ruth Werner. Erste Aktivität ist die Vorbereitung der Foto-Präsenta­tion »Sonjas Vermächtnis – Einblicke in das Leben Ruth Werners« im »Scheunenla­den«. Lin­kenchefin Ingrid Becker: »Das neue Domizil soll zu einer Begegnungsstätte mit Daueraus­stellung, Exponaten und Lesungen werden. Einheimische und Urlauber können diese erstaun­liche Frau mit ihren Impulsen für eine Welt ohne Krieg, für Frieden und Fortschritt, für Tole­ranz und Naturverbundenheit kennen lernen«.

Die ab Mitte Mai dank Dr. Stefan Knüppel einige Wochen im Hans-Fallada-Museum gezeigte Präsentation ist bis 7. August montags und donnerstags, 15- 18 Uhr im PRO, Kiefholzstraße 275, Berlin-Treptow, zusehen. Sie unterliegt keiner Schweigepflicht. Ganz im Gegen­teil. Damit wäre sicherlich auch Sonja einverstanden, zu deren Leben Verschwiegen­heit gehörte. Wie in Zukunft – hoffentlich – zu einer Straße in Berlin der Name Ruth Werner.

Der Beitrag erschien in einer modifizierten Fassung
im Neuen Deutschland vom 7. Juli 2010

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