Hauptverwaltung Aufklärung der DDR – kurze Geschichte eines Spionagedienstes (Teil III)

Die unglaubliche Menge von 77000 geheimen Dokumenten von US-Behörden zum Afghanistan-Krieg ist seit einigen Tagen – ausgelöst durch einen einfachen Mausklick – im Internet zu lesen. Noch vor einigen Jahren wäre die Beschaffung solch umfangreichen Materials, ohne früher oder später aufzufallen, faktisch unmöglich gewesen. Auch seine Übergabe hätte einen Spion vor ziemlich unlösbare Aufgaben gestellt. Und selbst wenn ein solcher Coup gelungen wäre, die allgemeine Öffentlichkeit hätte davon für lange Zeit nichts erfahren.

Dass all das jetzt anders ist, hat die rasante technische Entwicklung, vor allem auf dem Informationssektor, bewirkt. Dadurch können Informationen blitzschnell verwirklicht, auf dem Funkwege rund um den Erdball geschickt und – via Internet – für jedermann sofort verfügbar gemacht werden. Und dennoch braucht es irgendwo in diesem Prozess eines Menschen, der zum einen Zugang zu diesen Informationen hat und – das vor allem – zugleich dazu motiviert ist, diese Informationen der Geheimhaltung zu entziehen und in die Öffentlichkeit zu stellen.

Insofern ordnet sich die jüngste Aktion des Internetportals »wikileaks« in das »zweitälteste Gewerbe«, die Spionage ein, auch wenn die Betreiber der Plattform dazu vielleicht gar nichts beigetragen haben. Denn schon immer gab es Geheimnisträger, die von sich aus ihr Wissen offenbarten – aus welchen Gründen und wem auch immer. Diese Erfahrung hat auch die Hauptverwaltung Aufklärung der DDR gemacht, wie in einer früh erschienenen Darstellung der Geschichte und Arbeitsweise der HVA, die im Handel nicht mehr erhältlich ist, beschrieben ist – im Buch »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report«, veröffentlicht 1992 im Berliner Verlag ElefantenPress. Im folgenden der dritte Teil:

Guillaume und Genossen

Als in den frühen Morgenstunden des 24. April 1974 vor der Wohnung des Ehepaares Guillaume in Bad Godesberg die Polizei mit einem Haftbefehl des Generalbundesanwalts stand, reagierte Günter Guillaume erschrocken und überrumpelt mit jenem Satz, der den Ermittlungsbehörden einen Stein vom Herzen fallen ließ: »Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier …« So töricht dieses Geständnis unter taktischem Gesichtspunkt war, so sehr verstand es Guillaume als Bekenntnis, mit dem er von vornherein über seine Motivation keinen Zweifel aufkommen lassen wollte.

Er reihte sich damit bewusst ein in jenen nicht unbeträchtlichen Teil von Informanten, die mit der HVA auf einer »gemeinsamen politisch-ideologischen Grundlage«, wie das genannt wurde, zusam­menarbeiteten. Vor allem einige Spitzenquellen, die über viele Jahr hinweg den DDR-Nachrichtendienst belieferten, gehören in diese Kategorie – darunter auch solche, die aus eigenem Antrieb, das heißt ohne jede Werbung, ihr Wissen präsentierten. Über die Motive für solches Handeln mag man streiten, aber trotz ihrer Mängel und immer offenkundigeren Fehlentwicklung war die DDR für viele im Westen doch eine Hoffnung, eine Ermutigung, eine Alternative zu dem, was sie im eigenen Land vorfanden und was ihren Idealen nicht entsprach. Vor allem in den 50er Jahren entschieden sich viele Weiterdenkende, die den Kurs Adenauers auf eine separate Entwicklung der Bundesrepublik ablehnten, geradezu im Interesse der deutschen Einheit und nicht selten auch mit der Zielvorstellung einer anderen als der praktizierten restaurativen Entwicklung für die heimliche Unterstützung der DDR.

Der erste spektakuläre Fall dieser Art war der Übertritt des Präsidenten des Verfassungsschutzamtes der Bundesrepublik, Otto John, in die DDR. Er hatte am 20. Juli 1954 im Westteil Berlins an einer Feierstunde für die Attentäter auf Hitler teilgenommen und sich anschließend unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen über die Grenze nach Ostberlin abgesetzt. Möglicher­weise war dieses Gedenken für den später als sensibel und sogar weich geschilderten Mann der Auslöser, um das vorhandene Unbehagen über den Abstand zwischen den Idealen der Männer des 20. Juli, denen John nahestand, und der Entwicklung in der Bundesrepublik in Handeln umzusetzen. Diese Enttäuschung hat er in der DDR immer wieder geäußert, und auch das Urteil des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe zitiert Johns Begründung für seinen Schritt, »die Entwicklung in der Bundesrepublik ziele auf Wiederbelebung des Nationalsozialismus und Militarismus, auf Krieg und militärische Aggression nach Ost und West, auf Verewi­gung der deutschen Spaltung, auf Ausschaltung der echten Demo­kraten und Beseitigung der Meinungsfreiheit«.

Dabei zeigte sich schnell, dass John keineswegs ein Anhänger des Sozialismus war. Ihm ging es offensichtlich darum, nach seinen negativen Erfahrungen mit dem westlichen Deutschland im Osten zu überprüfen, inwieweit hier seine Sehnsüchte verwirklicht würden. Die konkrete Anschauung hat ihn schnell ernüchtert. Schon nach knapp anderthalb Jahren kehrte er wieder in die Bundesrepublik zurück und nahm dort eine vierjährige Haftstrafe in Kauf. Verraten hatte er nichts. Seine Unterlagen waren vor der Fahrt in den Osten im Westberliner Hotel zurückgeblieben. Ihn trieb die Suche nach dem wahren neuen Deutschland. Er fand es weder im Westen noch im Osten.

Sein Beispiel belegt aber die Anziehungskraft, die der andere deutsche Weg damals noch besaß, und einige Male wurde das politische Bonn auch in den Jahren hernach durch die Offenbarung oder Enttarnung hochrangiger HVA-Informanten erschüttert. Am 21. August 1954 war der damalige Bundestagsabgeordnete Karl­franz Schmidt-Wittmack aus Hamburg in die DDR gekommen. Auch er begründete seinen Schritt damit, »dass das starre außen­politische Festhalten des Kanzlers an der EVG (der damals geplanten Verteidigungsorganisation Westeuropas unter Einschluß der Bundesrepublik – d. Verf.) in keiner Weise den Interessen des Volkes entspricht«. Zu ihm hatten bereits zuvor Kontakte des IWF bzw. der HVA bestanden. Aufsehen erregte auch die Tatsache, dass der Foto-Großhändler Hanns-Heinz Porst, ein einflußreiches FDP-Mitglied, seit 1953 für den DDR-Nachrichtendienst spioniert hatte. Für ihn waren ebenfalls politische Gründe maßgebend.

Später begannen sich die langfristigen, perspektivischen Maß­nahmen der HVA auszuwirken. Die Übersiedlungen der 50er Jahre trugen erste Früchte – darunter besonders das Vordringen von Günter Guillaume bis in die Spitze des Bundeskanzleramtes zur Regierungszeit von Willy Brandt. Die Guillaumes waren 1957 in die SPD eingetreten und machten dort bald Karriere – Günter Guillaume über die »Ochsentour« durch die örtlichen Parteigremien in Frankfurt/Main, seine Frau Christel als Sekretärin beim Chef der Hessischen Staatskanzlei. Guillaume schaffte schließlich den Sprung auf eine Stelle im Bundeskanzleramt und konnte sich dort allmäh­lich in zwar nach außen nicht sehr auffällige, aber doch für einen Geheimdienst äußerst ergiebige Positionen hocharbeiten. Zuletzt begleitete er Brandt auf wichtigen Reisen, durch seine Hände gingen Top-Materialien, die der Berliner Zentrale Auskunft über alle wichtigen Details der Bundespolitik gaben.

Die Guillaumes handelten aus Überzeugung. Günter Guillaume beschrieb später, wie er fast zwanzig Jahre konspirativen Lebens und Arbeitens in der Bundesrepublik durchhalten konnte: »Es war der Auftrag, der mich vor der Persönlichkeitsspaltung schützte, es war der Auftrag im Interesse der besten Sache der Welt, der alles zusammenhielt. Das Entscheidende ist, dass man selbst im Schlaf nicht vergisst, wer man wirklich ist: ein Kundschafter im Dienste von Frieden und Sozialismus.«

Es ist die Tragik der Guillaumes wie vieler anderer Aufklärer der DDR, dass ihr Einsatz zwar in der jeweils konkreten Situation nicht umsonst war, aber aus historischer Sicht ohne Wirkung blieb. Ihre Ideale und Utopien ließen sich in und mit dem Staat, dem sie dienten, nicht verwirklichen. Das Engagement mit ihrer ganzen Person erwies sich letztlich als sinnlos – und das nicht nur, weil es dieser Staat DDR überhaupt nicht verdiente, sondern auch wegen lies Versagens ihrer Zentrale. Damit sind weniger die operativen Fehler gemeint, die – neben anderem – zur ihrer Enttarnung beitrugen, als vielmehr die Motive, zum Beispiel für das Belassen eines Spions an der Seite von Willy Brandt.

Sehr spät hat Markus Wolf Bedauern über diese Entscheidung geäußert; nur zögernd mochte er sie als Fehler einordnen. Dabei isi klar, dass der Rücktritt Brandts aus politischer Sicht erheblich mehr Schaden – und nicht nur für die DDR, sondern weit darüber hinaus – verursachte, als die Aufklärungsergebnisse Guillaumes Nutzen brachten. Diesen schätzte auch Wolf später als begrenzt ein: »Vieles, was in der Politik diskutiert wird, kann man meist kurze Zeit später in anderer Form in der Presse nachlesen. Das war im Fall Guillaume nicht anders.« Um so unverantwortlicher war, jenen, die Brandt damals ohnehin los sein wollten, dafür auch noch die Munition zu liefern.

Daß Guillaume weiterarbeitete, war zwar zum gewissen Teil auch seine Entscheidung – Resultat des ihm anerzogenen anti­sozialdemokratischen Feindbildes, der alten sektiererisch-kommu­nistischen Auffassung, daß der »Sozialdemokratismus« eine größere Gefahr als der Konservatismus darstelle, aber bestimmt auch Ergebnis eigenen Ehrgeizes. Vor allem aber war es Folge einer Fehlentscheidung der HVA-Führung, die es sich nicht versagen mochte, das Ohr im »Allerheiligsten« der Bundesregierung zu haben, ungeachtet des geringen operativen Gewinns. Um so mehr konnte man mit einer solchen Position vor der eigenen »Partei- und Staatsführung« glänzen, und der schwoll denn auch gleich der Kamm! »Wir haben nicht die Absicht, Berichte unseres Geheim­dienstes über die Lage in der Bundesrepublik Deutschland, in der Bonner Regierung, in der Führung der CDU/CSU oder des Bonner Verteidigungsministeriums zu veröffentlichen«, prahlte Erich Honecker in einer Rede zur Auswertung des IX. Parteitages der SED 1976 vor dessen Zentralkomitee. »Es besteht aber kein Zweifel, daß wir etwas besser informiert sind.« Der Nachrichten­dienst als Selbstbefriedigungsinstrument für die Herrschenden?

Die Aufklärer im Westen arbeiteten dennoch weiter für die DDR, sahen darin eine Möglichkeit, ungeachtet der widersprüch­lichen Politik dieses Staates etwas für den Frieden zu tun. Denn die Politik ihrer eigenen Regierungen bereitete ihnen noch größere Sorgen, Die Studentenbewegung 1968 in vielen westeuropäischen Ländern und das Ringen in den 70er Jahren um eine europäische Nachkriegsordnung waren Ausdruck des Sehnens vieler Menschen nach einem Ende des Kalten Krieges und damit sowohl nach einer demokratischen Entwicklung im Innern als auch nach Beendigung der Konfrontation zwischen den Systemen. Das verbesserte die operativen Möglichkeiten des Auslandsgeheimdienstes der DDR in beträchtlicher Weise. Die Reisetätigkeit nahm in jener Zeit sprunghaft zu; viele Jugendliche aus Westeuropa wollten den zweiten deutschen Staat kennenlernen, an dem sie viel auszusetzen hatten, der aber doch noch starke Faszination auf sie ausübte. Sie kamen als Wohlwollende und waren durchaus aufgeschlossen, wenn ihnen Möglichkeiten einer aktiven Tätigkeit für die Friedenssicherung oder gar eine Alternative zu ihrer bürgerlichen Gesellschaft aufge­zeigt wurden. Sie lehnten oft die restriktive Politik gegen die DDR – Nichtanerkennung, Isolation, Wirtschaftsboykott, Embargo, ideologische Verketzerung – ab. Das Argument, als Aufklärer viel mehr für die eigenen Ziele tun zu können als durch spektakuläre Aktionen auf der Straße, leuchtete nicht wenigen ein. Sofern sie durch ihr Engagement nicht schon ins Blickfeld der heimischen Abwehrorgane geraten waren, eigneten sie sich für eine Kundschaftertätigkeit, zumal dann, wenn die Möglichkeit des Eindringens in wichtige Objekte bestand – und das war bei jungen Wissen­schaftlern und Studenten möglicherweise der Fall. Natürlich waren die meisten nicht hochkarätig. Viele besetzten lediglich Positionen in der zweiten oder dritten Reihe, manche beobachteten das Geschehen gar nur vom Rande her. Aber gerade die Fülle der von ihnen übermittelten Informationen ermöglichte der HVA ein reali­stisches und stets aktuelles Lagebild.

Schon in der Vergangenheit hatte sich erwiesen, da die Vielfalt der Informationsquellen schnellen und sicheren Aufschluß über politische, militärische und wirtschaftspolitische Positionen der anderen Seite ermöglichte. Ein Beispiel dafür war der 13. August 1961, als von den Staaten des Warschauer Vertrages die Entschei­dung zum Bau der Mauer getroffen wurde. Sie war verhängnisvoll l’iir die weitere Entwicklung in Deutschland und Europa, wie wir heute wissen. Die langfristigen Konsequenzen waren damals noch nicht absehbar, aber es standen unmittelbare Folgen zu erwarten. Immerhin war Westberlin auch in der Diktion des Westens zur »Frontstadt« ausgebaut worden, wurde die Teilstadt als »Symbol der Freiheit« angesehen. Ein so schwerwiegender Eingriff in ihre Lebensfähigkeit hätte durchaus zu einer Kurzschlussreaktion führen können, und tatsächlich standen sich am Checkpoint Charlie schon bald amerikanische und sowjetische Panzer gegenüber.

In dieser Situation rief Staatssicherheitsminister Mielke bei der HVA an und fragte, ob die USA zum Schießen bereit seien. Aufgrund sofort nach dem Mauerbau beschaffter Informationen konnte er beruhigt werden: Es gibt keinerlei Entscheidungen der westlichen Regierungen, nur große Ratlosigkeit und zum Teil sogar Erleichterung. Denn immerhin hatte die Fluchtbewegung der Jahre 1960/61 aus der DDR viele Unwägbarkeiten geschaffen, die nun offensichtlich gemindert waren. Die HVA konnte eine solche Antwort geben, weil alle ihre Westberliner Quellen schon in den ersten Stunden des 13. August berichtet hatten. Sie nutzten unter anderem dazu das sehr effektive Mittel des Infrarotsprechverkehrs, das es ermöglichte, ohne direkten Kontakt über die Mauer hinweg akustische Signale auszutauschen, die kaum geortet werden konnten. Nahezu stündlich wurde so die HVA von ihren Quellen über den neuesten Stand unterrichtet. Später kamen die Informationen aus den westlichen Hauptstädten hinzu; sie alle ließen keinen Zweifel, dass die Maßnahmen der DDR an ihrer Grenze hingenommen wurden.

Ein anderes Feld der Spionagetätigkeit, über das zwar nicht so häufig gesprochen wurde, das aber dennoch existentielle Bedeutung für die DDR hatte, war die Wirtschaftsaufklärung. Schon bei der Bildung des Instituts für wirtschaftswissenschaftliche Forschung wurde der Bereich, dem der neugeborene Nachrichtendienst seinen Namen gab, zu einer der Säulen. Das war kein Zufall, denn nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Wirtschaft im östlichen Teil Deutschlands schwer darnieder, zumal dieses Gebiet auch vor dem Kriege nicht zu den führenden Wirtschaftszonen des Reiches gehört hatte. Die Verbindungen zu den Industrieschwerpunkten an Rhein, Ruhr und Saar waren abgeschnitten, und zudem begann schon damals die ökonomische Diskriminierung der DDR. Aus der einen Abteilung der Anfangsjahre entwickelte sich schnell eine verzweigte Struktur mit vielfältigen Aufgabenstellungen. Bereits Mitte der 60er Jahre war die Wirtschaftsaufklärung so groß geworden, daß sie in mehrere Abteilungen aufgeteilt und unter dem Dach des »Sektors Wissenschaft und Technik« (SWT) zusammen­gefaßt werden mußte. Gleichzeitig baute der SWT-Bereich in einer Reihe von DDR-Fachministerien sogenannte legale Residenturen auf, die für einen engen Kontakt zum Auftraggeber sorgten und außerdem die Arbeitsbeziehungen des jeweiligen Ministeriums ins Ausland nutzten.

Leiter der Wirtschaftsaufklärung war Heinrich Weiberg, der sich aus einfachen Verhältnissen zum Ingenieur und späteren Wirtschaftswissenschaftler hochgearbeitet hatte. Er wusste genau, was die junge DDR an wissenschaftlichen Erkenntnissen brauchte, und beherrschte exzellent das, was heute modisch als »Preis-Leistungs-Verhältnis« umschrieben wird. Ihm wird nachgesagt, daß er einmal einem Chemiker, der mit Fach-Chinesisch zu beeindrucken versuchte, kurz ins Wort fiel: »Was haben Sie zu bieten? Wie Seife gemacht wird, wissen wir alleine!«

Weibergs Experten waren auf allen wichtigen Gebieten von Wissenschaft und Technik tätig – in der Kernphysik, der Elektronik, der Biotechnologie, der Chemie und Kunststoffproduktion sowie natürlich der Militärtechnik. Als 1979 der SWT-Offizier Werner Stiller die Fronten wechselte, brachte er allein aus seiner Abteilung XIII Materialbegleitlisten mit, deren Kurztitel auf Informationen verwiesen, die in siebzehn Leitz-Ordner gepasst hätten. Der Verfas­sungsschutz stellte denn auch nüchtern fest, dass er die Wirtschafts­spionage der DDR gründlich unterschätzt hatte. Nach Darstellung des Innenministeriums bewies die durch Stiller enthüllte Struktur vom SWT »nicht nur die überragende Bedeutung der Wirtschafts­spionage für die DDR, sondern setzt gleichzeitig voraus, daß entsprechende Aufklärungserfolge gegeben sein mussten, die eine solche organisatorische Verstärkung rechtfertigen«.

Verschwiegen wurde in jenem Bericht, dass die Beschaffung neuester Militärtechnik einer der Schwerpunkte der SWT-Tätigkeit war. Bereits Anfang der 60er Jahre hatte die DDR über die gesamte Technologie zur Herstellung von Legierungen für Raketenmäntel Kenntnis. Später beschafften die Späher der HVA das sogenannte NATO-Gewehr, eine moderne Handfeuerwaffe, der allerdings die sowjetische Kalaschnikow kaum nachstand.

Eine der vier SWT-Abteilungen, die Abteilung V, war allein für die Auswertung des ungebremst fließenden Materials zuständig. Mitunter traf es kofferweise ein; die beschafften Muster füllten auch schon mal eine Wagenladung. Die Auswerter waren weder nach Zahl noch nach Ausbildung in der Lage, diese Fülle und die damit oft verbundene Spezifik des Inhalts zu bewältigen. In abgedeckten Außenstellen saßen Spezialisten, die die Aktenordner durchsahen. Viele Materialien wurden auch direkt an besonders verpflichtete Auswerter in Forschung und Industrie gegeben.

Mit seinen Beschaffungsaktionen tat der SWT – wenn auch mit besonderer Perfektion – weitgehend etwas, das zwischen großen Konzernen und um marktbeherrschende Anteile kämpfenden Unternehmen schon lange gang und gäbe war: der Bereich betrieb Industriespionage. Diese verlangte oftmals nicht soviel Aufwand wie die Auskundschaftung politischer oder militärischer Vorgänge. In vielen Fällen genügte eine bestimmte Geldsumme, um in den Besitz eines Bauplans oder auch des Prototyps einer Neuentwick­lung zu gelangen.

In der HVA selbst wurden die SWT-Mitarbeiter mitunter beneidet. Mit relativ geringem operativem Aufwand konnten sie Ergebnisse präsentieren, deren Wert sich meist auch noch exakt in Millionen Valuta-Mark ausdrücken ließ.

Die Arbeitsergebnisse des »Sektors Wissenschaft und Technik« waren für die ständig mit Schwierigkeiten kämpfende DDR-Wirtschaft von großer Bedeutung, konnten aber nicht einmal annähernd genutzt werden. Einerseits haben sie ihr über manche Durststrecke hinweggeholfen und einen Beitrag dazu geleistet, daß die DDR nach außen hin mehr zu leisten schien, als tatsächlich der Fall war. So konnten viele wissenschaftlich-technische Großtaten nur mit SWT-Hilfe erreicht werden. Herausragendes Beispiel ist die Kreation des l-Megabit-Chips durch das Kombinat »Carl Zeiß« Jena. Aber zugleich wurde damit von den Forschungsinstituten und den Wirtschaftsunternehmen der Zwang genommen, sich selbst einen Kopf zu machen. Es war bequemer, schon vorgedachte Forschungsergebnisse aus westlichen Gefilden nur nachzuvollzieivulhen als etwas Eigenes auszudenken oder auf das Beschaffte noch Selbstentwickeltes drauf zu setzen. Insofern wirkten auch die Auf­klärungsergebnisse vom SWT ambivalent. Kurzfristig verschafften sie der DDR-Wirtschaft eine Atempause; langfristig aber enthoben sie scheinbar von der Notwendigkeit, eigene Anstrengungen zum Erreichen des immer wieder beschworenen »Weltstands« zu unter­nehmen. Und dort, wo aus den Erkenntnissen der Wirtschafts­aufklärung tatsächlich hätten Entscheidungen abgeleitet werden können – über strategische Richtungen der Produktion, über die Beschränkung auf effektive Hochtechnologien auf der Basis tradi­tioneller Stärken der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur, über Schritte zur Behebung permanenter Defizite, zum Beispiel auf dem Ener­giesektor – sperrte sich die SED-Führung gegen jede Einsicht. Gegen die Dogmen des Politbüros kamen die stichhaltigsten Argumente nicht an.

Gerade diese Schwächen der DDR-Wirtschaft haben darüber hinaus zum Teil verhindert, dass die durch die HVA beschafften Materialien in einem adäquaten Umfang genutzt werden konnten. Zudem hätte die Wirtschaftskraft des 17-Millionen-Landes ohnehin nicht ausgereicht, all das in materielle Größen umzusetzen, was da auf dem Papier bekanntgeworden war. Die Tonnenideologie, die Gigantomanie, die auch hier walteten, schufen mehr Probleme, als sie Antworten auf herangereifte Fragen zu geben vermochten.

Die spektakulären – und von den Medien oft noch übertriebenen – Erfolge der HVA stärkten ihr Image als professionell perfekter und effizienter Geheimdienst. Das wurde zunehmend auch vom KGB anerkannt, und die HVA erhielt die Möglichkeit, auch auf Feldern aktiv zu werden, die bis dato die Domäne der sowjetischen Spionage waren. Unter anderem galt dies für die CIA. Ende der 70er Jahre war zwar eine Arbeitsteilung zwischen den Geheimdien­sten der UdSSR und der DDR vereinbart worden, nach der die Spionage der einen Supermacht ausschließlich im Blickfeld der anderen bleiben sollte, aber schon nach kurzer Zeit wurde diese Entscheidung revidiert. Unter dem rabulistischen Motto »Hauptfeind ist die CIA, unsere Hauptobjekte sind die BRD-Geheimdienste« stieg die HVA wieder voll in die Bearbeitung des amerikanischen Dienstes ein. Sie konzentrierte sich dabei auf dessen Dienststellen und Objekte in der Bundesrepublik und Westberlin, wobei das personelle Interesse insbesondere den Zivilbeschäftigten unter­schiedlichster Nationalität galt.

Zu diesen gehörte der Türke Hussein Yildirin. Er arbeitete in einer Autowerkstatt der Westberliner US-Mission. Aus Sympathie gegenüber der sozialistischen Idee, vermischt mit etwas Abenteu­rertum und dem Drang, sich in einem anderen Metier zu bestätigen, vor allem aber aus finanziellen Gründen arbeitete er mit der HVA zusammen und konnte ihr einen Hinweis auf James W. Hall geben, der Mitarbeiter des zentralen Objektes der fernmelde-elektronischen Spionage der USA auf dem Berliner Teufelsberg war. Hall brauchte Geld und war für ein lohnenswertes Geschäft zu einem hohen Risiko bereit. Er hatte Zugang zu Dokumenten der aller­höchsten Geheimhaltungsstufe – nicht nur hinsichtlich der ameri­kanischen Lauschangriffe auf deutschem Territorium, sondern auch zu allen wichtigen amerikanischen Geheimdienstoperationen gegen andere Länder, einschließlich der Verbündeten in der NATO. So beschaffte er die »National Sigint Requirements List« (NSRL), den Zielkatalog aller amerikanischen Dienste für ihre weltweiten Operationen. Auf 4.000 Blatt waren da deren Informationsinteres­sen, aber auch die des State Department und anderer zentraler Regierungsbehörden zusammengefasst – jeweils mit dem Vermerk, ob und wie durch Abhören des Funk- und Fernmeldeverkehrs die gewünschten Informationen beschafft werden könnten. Das Papier gehört zu den wenigen HVA-Dokumenten, die nicht vernichtet wurden. Es ist 1990 der Gauck-Behörde übergeben worden.

Ein weiteres sehr wertvolles Papier, das Hall, der unter dem Decknamen »Ronny« agierte, der DDR-Spionage übergab, war das »Canopy Wing«, die detaillierte Auflistung aller Möglichkeiten der elektronischen Kriegführung zur Neutralisierung der Führungszen­tren der Sowjetunion und des Warschauer Paktes. »Canopy Wing« sollte dartun, wie ein »Enthauptungsschlag« gegen den Osten geführt werden könne. Es war ein Maßnahmekatalog dafür, »dem sowjetischen Oberkommando die Fähigkeit zu nehmen, effektiv konventionelle Hochfrequenz-Verbindungen zur Führung und Kontrolle der Streitkräfte einzusetzen«. Dabei wurde nichts ausge­spart. Unter anderem hieß es: »Es gibt ein Potential zur Durchfüh­rung von verdeckten und schwer beweisbaren Sabotageakten, wie zum Beispiel Außerbetriebsetzung von Übertragungs- und Strom­leitungen oder die Anwendung von Kampfstoffen.«

Die Kenntnis derartig geheimer Dokumente versetzte die Staaten des Warschauer Paktes in die Lage, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu treffen; ihre Beschaffung war von unschätzbarem Wert. Entspre­chend verfuhren die amerikanischen Behörden 1988 nach der Enttarnung des inzwischen nach Hause zurückgekehrten James W. Hall. Er wurde zu 40 Jahren Zuchthaus verurteilt. Wie peinlich der Fall für die USA war, zeigte, dass sie ihn selbst 1990 noch nicht zugeben wollten. Als die genannten Dokumente in der Presse auftauchten, versuchten sie das mit noch immer tätigen DDR-Spionen zu erklären. Obwohl Hall längst hinter Gittern saß, stellte sich der mittlerweile pensionierte Ex-CIA-Chef in der Bundesrepu­blik, Thomas Polgar, dumm: »Eine menschliche Quelle, möglicher­weise in Stuttgart. Beim Hauptquartier der Amerikaner. Man wird da wohl jetzt eine gründliche Untersuchung einleiten müssen.«

Sicher wussten die Amerikaner, weshalb sie diese eklatante Niederlage nicht an die große Glocke hängten. Bekannt gewordene Spionagefälle lösten in der Regel nicht etwa Panik unter den Agenten im Operationsgebiet aus, sondern spornten eher an, weckten Ehrgeiz, nicht schlechter zu sein als die Enttarnten oder gar die Schlappe auszugleichen. Der Überläufer Stiller berichtete, wie sich die Festnahme Guillaumes auf das HVA-Netz im Westen auswirkte: »Mehrere meiner Kollegen hatten festgestellt, daß nach dem Fall Guillaume sonst eher ruhigere Agenten wieder arbeiteten. Kontaktpersonen, deren Anwerbung als zweifelhaft gegolten hatte, ließen sich nun mit dem MfS ein …«

Auch wenn die Dienste der Bundesrepublik die Ergebnisse de HVA nicht zuletzt deshalb übertrieben, weil sie damit die eigene Erfolglosigkeit begründen konnten, so spielte das Ansehen de DDR-Spionage – neben politisch-ideologischen Motiven – doch bei nicht wenigen Anwerbungen eine wichtige Rolle. Und es war wohl auch ausschlaggebend für die hochrangigen Überläufer, die die HVA bis in die 80er Jahre hinein registrieren konnte.

Beim Münchener Prozeß 1991 gegen die Gebrüder Alfred und Ludwig Spuhler bekannte sich ersterer, der seit 1968 beim Bundesnachrichtendienst arbeitete, zur bewussten Unterstützung des DDR-Dienstes, weil er begriffen hatte, »dass es dem Westen nicht um die Herstellung des militärischen Gleichgewichts ging. Vielmein galt der Ausspruch eines amerikanischen Präsidenten: >Wir werden sie an die Wand rüsten, bis sie quietschen!<« Alfred Spuhler kannte die Maßnahmen des Westens zur »elektronischen Kampfführung« gegen die östlichen Länder und wollte einen Beitrag zur Neutralisierung der sich daraus ergebenden Gefahren leisten. Aus seinen eigenen Arbeitsergebnissen schlussfolgerte er, »dass die von westlicher Seite ständig geschürte Angst vor der militärischen Überlegenheit des Warschauer Pakts eine glatte Lüge war«.

Das bestätigten übrigens immer wieder in aller Öffentliehki auch westliche Politiker, indem sie auf die Methode dei US-Administration verwiesen, vor der Beratung des Verteidigungshaushalts im Kongress die militärische Überlegenheit der UdSSR zu beschwören. »Es ist immer die gleiche Lüge, die vorgebracht wird, wenn das amerikanische Volk überredet werden soll, für die Beibehaltung einer amerikanischen Überlegenheit zu zahlen«, sagte schon 1982 Daniel Ellsberg, unter der Präsidentschaft Kennedys dessen Militärberater. Und zwei Jahre später räumte die NATO selbst in einer Studie ein, dass sie in den Jahren zuvor die sowjetische Rüstung überschätzt habe. Alfred Spuhler, der seine Dienste selbst anbot, lieferte unter anderem an die HVA jene »Lageberichte Ost« des BND, die die westlichen Erkenntnisse über die damaligen sozialistischen Länder auflisteten. Sie enthielten wenig Schmeichelhaftes über den »realen Sozialismus«; schon deshalb dürfte die Aussage vor dem Münchener Gericht zutreffend sein, daß das SED-Politbüro diesen Berichten wenig Bedeutung beimaß. Sie passten einfach nicht in den Streifen. Spuhler jedoch steht zu seiner Tat. Er sagte vor Gericht, daß er aus seiner Überzeugung heraus nichts zu bereuen brauche.

Letztlich ideologische Wurzeln hatte auch die mehrjährige Spionagetätigkeit von Lothar Lutze im Verteidigungsministerium. Er warb darüber hinaus sowohl seine Ehefrau Renate als auch das Ehepaar Wiegel für die HVA an. Lutze war zwar bereits als Elfjähriger mit seinen Eltern aus Thüringen in die Bundesrepublik gekommen, jedoch wirkten nach eigenen Angaben die Kindheits­erlebnisse als Junger Pionier so stark nach, daß er sich schon in seiner Wehrdienstzeit bereit fand, die DDR-Aufklärung über Vor­gänge an seinem Luftwaffen-Standort zu informieren. Zu einem Top-Spion wurde er Anfang der 70er Jahre, als er die Sekretärin im Verteidigungsministerium, Renate Übelacker, heiratete und diese ihn ebenfalls auf der Hardthöhe unterbrachte. Als Verschluß­sachenbeauftragter der Rüstungsabteilung konnte er bis zu beider Festnahme 1977 ebenso brisantes Material liefern wie seine Frau als Chefsekretärin der Sozialabteilung. Beide schwiegen in ihrem Prozeß und wurden zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Während sie bereits 1981 ausgetauscht werden konnte, mußte Lothar Lutze – auch auf NATO-Interventionen hin – seine zwölfjährige Haftstrafe absitzen.

Von anderem Kaliber waren die beiden Überläufer des Bundes­amtes für Verfassungsschutz, Hansjoachim Tiedge und Klaus Kuron. Tiedge war Referatsgruppenleiter in der Abteilung Spionageabwehr des BfV; seine Aufgabe die Enttarnung von DDR-Spionen. Kuron war einer seiner Mitarbeiter, zuständig für die Führung von Doppelagenten, also solchen Spionen, die mit Wissen des Verfassungsschutzes für die DDR arbeiteten. Tiedge kam am 19. August 1985 in die DDR, ohne mit ihr zuvor politisch sympathisiert zu haben. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die HVA aber schon drei Jahre lang über Informationen, die ihr Aufschluss über alle »Counterman«-Aktionen des BfV sowie über zahlreiche andere Maßnahmen der bundesdeutschen Spionageabwehr gaben – von Kuron. Unter anderem erfuhr die HVA so die Verfassungs­schutz-Erkenntnisse über Reisewege ihrer inoffiziellen Mitarbeiter und hatte es leicht, diese Wege umzulenken, so dass beabsichtigte Fahndungsmaßnahmen ins Leere griffen.

Noch rätselt der Verfassungsschutz darüber, ob auch Tiedge schon einige Jahre vor seinem Übertritt für die HVA arbeitete oder ob die durch Kuron gewonnenen Erkenntnisse als die seinen dargestellt wurden, um die wertvolle Quelle im BfV zu schützen. Das eigene Wissen jedenfalls schrieb Tiedge in einer 245seitigen Doktorarbeit an der Berliner Humboldt-Universität nieder; ihr Titel lautet: »Die Abwehrarbeit der Ämter für Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland«. Kuron seinerseits spielte bis zum letzten Tag des Auslandsnachrichtendienstes der DDR eine bedeut­same Rolle.

So unterschiedlich die Motive der Männer und Frauen des Verfassungsschutzes, des Bundesministeriums für Verteidigung und des BND für eine Zusammenarbeit mit der HVA gewesen sein mögen – Anfänger oder Träumer waren sie gewiss nicht! Sie handelten meist aus Überzeugung, immer aus einem Gefühl des Vertrauens. Immerhin wussten sie durch ihre Arbeit, wem sie sich in die Hand gaben – und auch, was oder wen sie an die gegnerische Seite verrieten. Sie kannten die Praktiken beider Geheimdienste, waren Profis durch und durch, konnten auch die Risiken einschät­zen – und entschieden sich für die Hauptverwaltung Aufklärung der DDR. Entsprach aber der HVA-Nimbus, dem sie erlagen, tatsäch­lich der Wirklichkeit? Wie gut war die DDR-Spionage tatsächlich?