Hauptverwaltung Aufklärung der DDR – kurze Geschichte eines Spionagedienstes (Teil X und Schluss)

 Bei der aktuellen Debatte über die Wikileaks-Dossiers ist ein Aspekt bisher geflissentlich weitgehend übersehen worden – die Blamage, die Julian Assange mit seiner kleinen, schlecht ausgerüsteten Truppe den zahlreichen hoch gerüsteten Geheimdiensten dieser Welt zugefügt hat. Sie alle versuchen, mit riesigem Aufwand an Personen und Geldmitteln, diversen Regierungen einige ihrer zahlreichen, sorgsam verborgenen Geheimnisse zu entreißen und haben damit oft nur dürftigen Erfolg. Doch Wikileaks schaffte es, mit einem Schlag erst 77000 Dokumente zum Afghanistankrieg, dann fast 4000000 Papiere zum Irakkrieg und jetzt noch einmal 250000 geheime Botschaftsberichte aus aller Welt nicht nur auf den eigenen Tisch zu bekommen, sondern auch noch weltweit zu veröffentlichen. Und all diese Dossiers stammen nicht aus irgendeiner Bananenrepublik, sondern aus den USA, die in den vergangenen Jahren nicht nur eines der effektivsten Sicherheitssysteme der Welt aufgebaut haben, sondern auch technisch ohne Zweifel zu totaler Geheimhaltung in der Lage wären.

 Es zeigt sich jedoch an den Wikileaks-Enthüllungen einmal mehr, dass Geheimdienste nicht mehr in diese Zeit passen. Sie sind nicht nur moralisch obsolet; die heutige Zeit mit ihrem bislang ungeahnten Bedeutungszuwachs von Informationen für die Bewältigung der schnell ablaufenden Prozesse in nahezu allen Lebensbereichen legt die Ineffizienz übertriebener Geheimhaltung oder gar einer Abschottung der Informationsflüsse offen. Dass der Kreis jener, die in den USA Zugriff auf die diplomatischen Depeschen hatten, so groß war, ergab sich schließlich nicht aus leichtsinniger Vertrauensseligkeit der Behörden, sondern war Resultat der Erkenntnis, dass nur gut informierte Mitarbeiter auf allen Gebieten wirklich effektiv arbeiten.

 Auf der anderen Seite jedoch führte US-amerikanische Sicherheitshysterie dazu, dass gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit immer weniger bekannt gemacht wurde und in den Dossiers des Außenministeriums auch viel mit Geheimhaltungsstempeln versehen wurde, das nur banale Mitteilungen enthält. Diese Tendenz rügte – nach hilflos-wütender Kritik an Assange – auch die »Washington Post«, weil solche Geheimhaltung den Verdacht nahelege, die US-Regierung nehme es nicht so genau mit den Rechten der Bürger. »Die beste Art, mit Assange umzugehen, ist ihn überflüssig zu machen«, schlussfolgert das Blatt.

Solche Erkenntnisse sind so neu nicht. Bereits das Ende der DDR warf schon vor 20 Jahren ein Schlaglicht auch auf die Ineffizienz von Geheimdiensten. Denn weder hatten die westlichen Agenturen dieses Ereignis einschließlich des folgenden Untergangs des gesamten sozialistischen Systems vorausgesehen, noch konnten die östlichen Dienste diese Entwicklung verhindern – auch nicht die hochdotierte Hauptverwaltung Aufklärung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. Ihre Geschichte und Arbeitsweise wurde hier bereits auf der Grundlage einer Veröffentlichung über die HVA, die im Handel nicht mehr verfügbar ist, dem Buch »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report«, erschienen 1992 im Berliner Verlag ElefantenPress, in neun Folgen dargestellt. Auch die Kapitel über ihren langjährigen Chef Markus Wolf, den schließlichen Zusammenbruch der HVA und ihre bis in die Gegenwart wirkende Hinterlassenschaft sind an dieser Stelle bereits veröffentlicht worden. Im Schlusskapitel resümierten die Autoren aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen schon damals, dass – – Geheimdienste überholt , passé seien. Es wird hier zuzm Abschluss der Serie noch einmal wiedergegeben.

Geheimdienste passé?

Spionage wird gern als das zweitälteste Gewerbe der Welt bezeich­net, wird doch bereits in der Bibel davon gesprochen. Heute jedoch bangt die Zunft der Spione um ihre Zukunft. Denn der Untergang der Hauptverwaltung Aufklärung erweist sich vielleicht nicht nur als Spezifikum der deutschen Genesis, erklärbar aus dem Ver­schwinden eines ganzen Staates und damit auch seiner staatlichen Organe. Auch andere Geheimdienste müssen sich zunehmend Fragen nach ihrer Daseinsberechtigung stellen – im Osten wie im Westen. Dabei mag man die faktische Auflösung des sowjetischen KGB wie die armseligen Mutationsversuche der Dienste anderer osteuropäischer Staaten noch dem Umbruch im Osten, dem Ein­sturz des sozialistischen Systems zuschreiben; für die neu aufge­flammte Diskussion um die großen westlichen Geheimdienste genügt das zur Erklärung nicht. Zwar ist es richtig, dass ihnen im Gefolge all dieser Entwicklungen der »Feind abhanden« gekommen ist, wie es oft griffig heißt, aber die wahren Ursachen für die verbreitete Geheimdienst-Müdigkeit dürften tiefer liegen.

In diesem Jahrhundert war die Weltpolitik im wesentlichen durch den Gegensatz der beiden Systeme Kapitalismus und Sozia­lismus geprägt. Dieser Widerspruch entwickelte sich in aller Schärfe bis hin zur apokalyptischen Gefahr eines thermo-nuklearen Krieges. Damit einher ging eine gewaltige Propagandaschlacht, die sich aller erdenklichen Mittel bediente und mit dem Begriff des Kalten Krieges besser beschrieben war als mit dem späteren, gefälligeren der »ideologischen Auseinandersetzung«. Die beiden Weltsysteme, jeweils angeführt von ihren Supermächten USA und Sowjetunion, waren nur noch auf sich bezogen, betrachteten ihren Konflikt als »Knackpunkt« der Menschheitsgeschichte – und das war er lange Zeit wohl auch. Geheimdienste hatten in diesem Diadochenkampf ihre selbstverständliche Funktion.

Dabei übersahen beide Seiten, dass sich im Schatten der System­auseinandersetzung völlig neue und viel bedeutsamere Widersprü­che herausbildeten: der sogenannte Nord-Süd-Konflikt als Kürzel für die Verelendung der Dritten Welt, hervorgerufen von deren Ausbeutung durch die beiden anderen Welten; die ökologische Herausforderung mit im Grunde den gleichen Ursachen; das Erfordernis, die rasante wissenschaftlich-technische Entwicklung so zu gestalten, dass sie dem Menschen zum Nutzen gerät und nicht seinen Untergang programmiert. All dies ist nicht im scharfen Gegensatz unterschiedlicher ideologischer Konzepte zu bewälti­gen, sondern nur in enger Zusammenarbeit. Damit steht die Kooperation auf der Tagesordnung – und diese kann nur in einer Atmosphäre des Vertrauens gedeihen.

Da objektiv bedingt, haben sich Elemente einer solchen »Politik des neuen Denkens« in den vergangenen Jahren bereits durchsetzen können. Der KSZE-Prozeß machte den Anfang, indem er neben materielle Bereiche eines Interessenausgleichs (Sicherheit und Ökonomie) erstmals gleichgewichtig die ethisch-moralische Pro­blematik der Menschenrechte stellte. Die deutsche Vereinigung war ein beredtes Beispiel für die partielle Überwindung von Blockdenken. Und auf dem besonders sensiblen Sicherheitsbereich wurden »vertrauensbildende Maßnahmen« vereinbart – erste Schritte zu mehr Transparenz und Ehrlichkeit. Ihre Realisierung wiederum erhielt Impulse aus den sprunghaft zunehmenden weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten – sowohl durch Mediennutzung als auch im privaten Bereich.

Wer Spionage von innen her kennt, weiß, dass sie diesen Tendenzen im Wege steht. In einem Feld gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit muss sie kontraproduktiv wirken. Ihre Absichten und Methoden verdienen tiefstes Misstrauen – wie alles, was jemand hinter seinem Rücken heimlich vorbereitet, während er mir vorn lächelnd die Hand entgegenstreckt. Spionage als Kind alten Denkens in den Kategorien der Blöcke, der antago­nistischen Ideologien, kann globale Kooperation nicht befördern, sondern sie nur stören. Diese Erkenntnis setzt sich immer mehr durch – und sie ist der wahre Hintergrund für die sich verstärkenden Forderungen nach restloser Beseitigung dieser Relikte einer über­holten Zeit. Die neue Weltordnung, die heute auf der Tagesordnung steht, bedarf konspirativer Maßnahmen nicht; im Gegenteil – sie kann nur gelingen, wenn Täuschung, Verschleierung, Übervortei­lung auf dem Felde der Politik restlos ausgemerzt werden.

Wie schwer es aber ist, sich aus den Fesseln einer obsoleten Weltsicht zu lösen, zeigten gerade die von den diversen KSZE-Folgetreffen vereinbarten vertrauensbildenden Maßnahmen. Dazu gehörte die Beobachtung militärischer Manöver, die alle beteilig­ten Staaten sofort dazu veranlasste, die jeweiligen Geheimdienste mit der Ausgestaltung dieser Vereinbarung zu betrauen.

So kam es dann, dass sich die Agenten der beiden Seiten auf dem Manöverfeld gegenüberstanden – die einen als Gastgeber mit dem Ziel, das wirklich Interessante vor den Augen des »Gegners« zu verbergen, die Gäste hingegen mit der Absicht, die günstige Gelegenheit zur Aufklärung optimal zu nutzen. Während erstere zum Zwecke der Camouflage lange Erklärungen abgaben und ausgedehnte Bankette in den Stabszelten am Rande der Manöver­zonen organisierten, um die Beobachter besoffen zu reden und zu machen, hatten diese den Auftrag, mehr zu sehen und zu hören als erwünscht, und sich dazu statt mit Sektkelchen mit ausgefeilter Peil- und Lauschtechnik auszustatten. Fast noch absurder mutet die geheimdienstliche Begleitung des deutschen Vereinigungsprozes­ses an. Während das MfS seine Beobachtung der Bundesrepublik nach dem Januar 1990 notgedrungen fast völlig einstellte und damit auch die elektronische Telefonüberwachung ihr Ende fand, setzte der BND die diesbezüglichen Aktivitäten ungehemmt fort. Er machte dabei auch nicht vor der Bespitzelung des CDU-Vorsitzen­den und späteren Ministerpräsidenten Lothar de Maizière halt – lange bevor er in Stasi-Verdacht geriet. Tröstlich zu hören, dass nach der Wahl vom 18. März das Anzapfen von DDR-Telefonen »sukzessive heruntergefahren« und mit der Wahl der neuen Regie­rung am 12. April »endgültig eingestellt« wurde. Die formelle Weisung zur Beendigung aller Abhöraktionen über Richtfunk erging jedoch erst am 4. Mai. Auch danach hat aber der BND seine Quellen im Osten Deutschlands weiter berichten und sich durch seinen Spitzen-Informanten Schalck-Golodkowski sogar Tipps für erfolgversprechende Anwerbungen geben lassen. Großzügig stellte er seine Top-Quelle auch für die dilettan­tische Befragung durch einen Möchtegern-Kundschafter der neuen Regierung zur Verfügung, der auf diese Weise – in wessen Auftrag? – Material gegen seinen eigenen Regierungschef sammelte.

Die grotesken Folgen dieser Art von Geheimdienst-Spielen könnten zum Lachen verleiten, wenn der Hintergrund nicht so ernst wäre. Er verrät nämlich, dass die Konsequenzen des oft beredeten »neuen Denkens« von vielen noch gar nicht begriffen oder aber überhaupt nicht erwünscht sind. Jetzt, da es an eigene liebgewordene Machtinstrumente geht, erweisen sich viele frühere Erklärungen als platonisch. So kann man gegenwärtig landauf, landab – von Moskau bis Langley, von Paris bis Brüssel, von Köln bis Pullach – immer wieder hören, wie unverzichtbar gerade heute Geheim­dienste seien. In den Entwicklungen in Osteuropa sieht BND-Chef Konrad Porzner offensichtlich vor allem Gefahren: »Aber beden­ken Sie auch, dass durch die Auflösung des sowjetischen Zentral­staats unsere Arbeit schwieriger geworden ist. Jetzt genügt es nicht mehr zu wissen, was in Moskau geschieht. Nun müssen wir auch wissen, was in Kiew, Alma-Ata und St. Petersburg passiert.« Ver­fassungsschutz-Vizepräsident Peter Frisch wird noch deutlicher: »Unser neuer Hauptgegner sind die Staaten der Sowjetunion.« Und darüber hinaus: Rumänien, Bulgarien, Polen, China, der Nahe Osten. Gefahr drohe Deutschland auch von »kubanischen, nord­koreanischen und anderen Diensten«. Ein weites Betätigungsfeld – doch nicht nur die deutschen Geheimdienste malen neue Bedrohun­gen an die Wand.

Mitten in die Auflösung des KGB hinein sagte dessen damaliger Chef Wadim Bakatin, es brauchten »auch demokratische Staaten Geheimdienste. Deshalb heißt unsere Aufgabe nicht Auflösung, sondern Reform und Dezentralisierung«. Und der amerikanische CIA räumt zwar ein, dass das Rüstungspotential der UdSSR künftig weniger bedrohlich sei; dafür stelle aber die wirtschaftliche Kon­kurrenz Japans und Europas eine Gefahr dar. Der ehemalige CIA-Chef Stansfield Turner gab die Linie vor: »Wirtschaftliche Stärke muss mehr in den Vordergrund gerückt werden, und das bedeutet, dass wir bessere ökonomische Aufklärung brauchen.« Und er verschweigt auch die Zielrichtung dieser Wirtschaftsspionage nicht: »Nachdem wir mittlerweile mehr Nachdruck auf die Sicherung des wirtschaftlichen Knowhow legen, müssen wir auch die weiterent­wickelten Länder ausspionieren – unsere Verbündeten und Freunde, mit denen wir wirtschaftlich konkurrieren.«

Nach solcher Argumentation bestätigt jedes weltpolitische Ereignis die Notwendigkeit von Geheimdiensten. Die Auflösung der UdSSR macht sie ebenso erforderlich wie die »neuen Krisen­herde« sie verlangen. Sie müssen das jeweilige Land vor den »neuen Großmächten« (für die USA Japan und Europa) schützen, aber auch vor Terrorismus, Rechtsextremismus, Waffenhandel, Umweltkriminalität und Drogenverbrechen. Ungeniert greifen die Nachrichtendienste in polizeiliche Kompetenzen ein – nur um ihre Unersetzlichkeit nachzuweisen. Ehemalige Spionage-Praktiker begründen die Unverzichtbarkeit von konspirativer Aufklärung gleich für alle Ewigkeit und sind in ihren Gedankengängen nahezu identisch. So sei zwar die Satellitenerkundung auch nicht schlecht, aber – so der ehemalige CIA-Mitarbeiter George Carver: »Die Stimmung im Basar kann ein Satellit aus 160 Kilometern Entfer­nung im Weltall nicht ausmachen.« Und Markus Wolf teilt diese Skepsis gegenüber der Elektronik: »Aber damit lässt sich nur feststellen, was geschehen ist oder was passieren könnte – nicht aber, was in den Stäben und Regierungen geplant wird, welche Entwicklungen in den Forschungslabors laufen oder ob ein Staatsstreich bevorsteht, der die ganze Situation verändern kann.«

Hier offenbart sich ein tiefes und offenbar unausrottbares Misstrauen, das zwar durch die bisherige Weltgeschichte bestätigt zu werden scheint, dennoch aber nicht in eine Zeit passt, in der man eine völlig neue Weltordnung bauen will. Wer so denkt, taugt nicht zum »Erneuerer«, ist kein »Hoffnungsträger«, sondern verharrt in einem Denken, das seine Gefährlichkeit in unserem Jahrhundert immer wieder nachgewiesen hat und nun endgültig über Bord geworfen werden muss.

Hinzu kommt, dass der hohe Anspruch der Spionage, durch das Ermitteln der »ganzen Wahrheit« segensreich zu wirken, bisher kaum je eingelöst werden konnte. Hingegen sind die Fehleinschätzungen der Auslandsnachrichtendienste Legion und damit – oft berechtigt, mitunter zwar auch unberechtigt, aber es ändert nichts am Ergebnis – die Missachtung ihrer Prognosen. Fast alle Politiker lesen zwar gern die Dossiers ihrer Geheimdienste, aber kaum einer hat darüber ein positives Wort verloren. Und tatsächlich gehen Analysen und Einschätzungen der geheimen Nachrichtendienste in aller Regel nicht über das hinaus, was kluge Zeitgeschichtler, Politologen und Journalisten mit ihren Mitteln zusammentragen und formulieren. Brisante Einzelinformationen jedoch finden oft nicht die erforderliche Beachtung, vor allem dann nicht, wenn sie nicht ins eigene Kalkül passen und vielleicht dazu zwingen könnten, die gerade betriebene Politik zu überprüfen.

Selbst Wolf, der 40 Jahre lang die deutsch-deutsche Entwick­lung in all ihren Verästelungen verfolgen konnte, sah im Herbst 1989 nicht das baldige Ende der DDR voraus. Auch er unterlag letztlich der Scheuklappensicht, die den Aufklärern in diesen Jahren anerzogen worden war und aus der sie trotz optimaler Informiertheit nicht ausbrechen konnten oder wollten. Noch im Sommer 1991 setzte Wolf auf seine alten Vertrauten in der KPdSU-Führung – unfähig zu der Einsicht, dass es auch mit dieser und der von ihr geschaffenen Sowjetunion zu Ende ging. Er wie die gesamte Hauptverwaltung Aufklärung sind auch daran gescheitert, dass sie das objektive Wissen, das sich in ihrem Speicher ansammelte, nicht vorurteils­frei zu interpretieren vermochten.

Diesen Mangel hatte jedoch die DDR-Spionage mit allen anderen einschlägigen Diensten gemein. Der CIA lief den Entwick­lungen in Osteuropa ständig hinterher, da das Ende des Kommunis­mus in seinem stabilen Feindbild nicht vorgesehen war. Ähnlich hat der BND nicht ein einziges Mal in seinen Papieren der letzten beiden Jahrzehnte die Vereinigung Deutschlands vorausgesagt oder auch nur eine solche Möglichkeit noch im letzten Jahrhundert angedeutet. Entsprechend unvorbereitet war die Bundesregierung, als der unwahrscheinliche Fall eintrat. Der Verfassungsschutz bezog noch 1989 ein großzügiges neues Gebäude in Köln-Chor­weiler, weil auch er das Ende der weltweiten Konfrontationspolitik nicht denken konnte. Die KGB-Reste, die sich den ex­sowjetischen Republiken andienten, sind in ihrer Mehrzahl noch immer der Meinung, der Wandel der letzten drei Jahre sei das Resultat ausländischer Dienste und ihrer Agenten und Saboteure. Weil die Geheimdienste überall nur Anhängsel der Politik waren und sind, diese in ihren Auffassungen bedienen, statt unabhängig ihre Schlussfolgerungen aus den internen Materialien zu ziehen, bleiben sie weitgehend wirkungslos – ein weiteres Argument für ihre Überlebtheit.

Und ein drittes, wohl noch bedeutsameres, kommt hinzu. Die Geheimdienste haben mit einem demokratischen Staatswesen nichts zu tun. Die Entwicklung der Auslands-Spionageapparate demon­striert im Gegenteil, dass sie der Versuchung, ihre konspirativen Mittel und Methoden auch bei Operationen im Inland anzuwenden, nie widerstehen konnten und können. War auch die Kooperation zwischen Spionage und Bereichen der inneren Abwehr bei der Hauptverwaltung Aufklärung besonders eng, so ist zugleich nicht zu bestreiten, dass auch die altbundesdeutschen Dienste in dieser Hinsicht eine lange schmutzige Tradition haben, die erst vor einiger Zeit mit der sogenannten Panzeraffäre – dem heimlichen Verschieben von Kriegsgerät der Bundeswehr, das ursprünglich aus NVA-Beständen stammte, nach Israel – einen neuen Höhepunkt erreichte.

Begonnen hatte das innenpolitische Spiel des Auslandsdienstes aber bereits mit Reinhard Gehlen, der es für geradezu unerlässlich fand, durch den BND auch die »inneren Feinde« der Republik zu bearbeiten. Als der ehemalige Nazigeneral 1968 ausschied, fand sein Nachfolger Gerhard Wessel »sechs, sieben Leitz-Ordner, über den Daumen geschätzt«, mit Dossiers über 54 Politiker vor – von Heinemann bis Barzel, von Wehner bis Strauß (!). Weniger Aufhebens machte der langjährige Gehlen-Stellvertreter von den Akten über Kommunisten, Linke, Pazifisten, Sowjetunion-Freunde und andere unzuverlässige Kantonisten in den Augen seines Ex­-Chefs. Das ganze Ausmaß der Spitzeltätigkeit im Innern wie auch des ungesetzlichen Vorgehens des BND war mit der »Spiegel«-Affäre offenkundig geworden. Danach versuchte man, den Nach­richtendienst stärker unter Kontrolle zu halten, doch mit mäßigem Erfolg, wie die immer neuen Skandale zeigten. Der gescheiterte Kanzleramtsminister Stavenhagen brachte es 1991 auf den Punkt: »Die Frage, wie man Nachrichtendienste, die ja etwas andere Behörden sind, richtig kontrolliert, ist eine Frage, die mich schon lange bewegt.«

Bei aller Unterschiedlichkeit in Ausmaß und Perfektionierung sind es – wie in der DDR – auch in der Bundesrepublik stets Machtinteressen gewesen, die den Einsatz des Geheimdienstes zur Bekämpfung innenpolitischer Gegner veranlassten; nicht selten wurden sogar parteipolitische Fehden mit seiner Hilfe ausgetragen. Da ist es kein Wunder, wenn alle Versuche, das Treiben der Dienste demokratischen Regeln zu unterwerfen, scheitern mussten. Und es sieht so aus, dass das künftig noch weniger möglich sein wird. Die Tendenz der Geheimdienste, sich neue Felder zu erschließen, bringt zwangsläufig mit sich, dass konspirative Methoden nicht etwa eingeschränkt, sondern im Gegenteil noch ausgeweitet werden. »Das Gebot der Trennung von Polizei und Nachrichtendienst wird nicht mehr sauber eingehalten«, gesteht BfV-Präsident Werthebach ein. Und BND-Chef Porzner stellt sogar Forderungen nach Aus­höhlung gegenwärtiger Rechtsgrundlagen: »Nach Artikel 10 des Grundgesetzes darf das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nur mit Zustimmung eines Parlamentsgremiums durchbrochen werden. Dieses Gesetz muss allerdings überdacht werden.« Die nach der Panzeraffäre erneut in Gang gekommene Diskussion über erweiterte parlamentarische Kontrollmechanismen gegenüber den Geheim­diensten wird so schon im Ansatz unterlaufen. Es ist sicher, dass auch sie ausgehen wird, wie alle vorherigen – ohne greifbares Ergebnis.

Geheimdiensten ist ein undemokratisches Element inhärent. Es ergibt sich aus dem Grundessential ihrer Arbeit – nämlich das Auge der Öffentlichkeit zu scheuen und demokratische Mitsprache über ihre Aktivitäten nicht zuzulassen. Würden hingegen Offen­heit und wirkliche Transparenz auch im Wirken der Geheimdien­ste durchgesetzt, wäre ihnen ihr Wesen genommen; sie würden automatisch aufhören zu existieren. Wer jedoch Spionage und all die anderen klandestinen Verrichtungen verteidigen und verewigen will, plant nichts Gutes. Nach außen setzt er weiter auf die überholte Machtpolitik weniger Großer und Starker gegenüber Kleineren und Schwächeren, nicht jedoch auf das kooperative Zusammenwirken gleichberechtigter Völker. Im Inneren will er ganz ähnlich vorgehen – Kabinettspolitik betreiben statt die opti­male Mitwirkung der Bürger an den Staatsgeschäften zu ermögli­chen, die Demokratie in ihrer formalisierten Form zementieren statt neue Wege zu mehr Mitsprache und Mitentscheidung vieler zu beschreiten.

Aus all dem ergibt sich der Schluss, dass die Tätigkeit derartiger »Organe« keine Daseinsberechtigung mehr hat. Der Widerspruch ihrer Praktiken zu den heute erforderlichen Formen kooperativer, vertrauensvoller Arbeit ist so groß, dass sie sich endgültig überlebt haben. Wie die Saurier der Urzeit erweisen sich die Geheimdienste als nicht mehr lebensfähig, weil ihre einstige Funktion in die heutige Zeit nicht passt. Sie können nur noch Schaden anrichten, indem sie notwendige Entwicklungen der Weltgesellschaft verzögern. Und sie kosten viel Geld, das wahrlich nutzbringender angelegt werden könnte.

Die Hauptverwaltung Aufklärung, einst gerühmt wegen ihrer Effizienz und Professionalität, hat schon den Preis ihres Zusammenbruchs entrichten müssen; andere Dienste werden auf diesem Weg gewiss folgen – auch wenn es noch etwas dauert.

Und eines Tages wird die Zeit kommen, da Spionage nur noch das Thema spannender Bücher und Filme ist.

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