Anhaltende Kernschmelze in der Union

(pri) Im Herbst 2010 wollte die schwarz-gelbe Koalition mit dem »Durchregieren« beginnen. Doch weder hierzulande noch im fernen Fukushima ließ sich die Welt nach dem eigenen Bilde formen.  Nicht nur Angela Merkels Atomkurs verschärft die Widersprüche zwischen den innerparteilichen Flügeln in CDU und CSU.

Manche in der CDU malen schon Horrorszenarien und sehen – wie Josef Schlarmann, der Vorsitzende ihrer Mittelstandsvereinigung – den »Markenkern« der Union beschädigt. Auch der Energiepolitiker Thomas Bareiß klagt: »Wir verabschieden uns thematisch von unserer Kernklientel und gewinnen bei neuen Wählern trotzdem keine Glaubwürdigkeit.« Eine »Kernschmelze« also auch bei der CDU – als ferner Widerhall des atomaren Super-GAUs von Fukushima?

Tatsächlich ist die derzeitige Lage der Unionsparteien alles andere als komfortabel. Sie fuhren im Verein mit ihrem Koalitionspartner FDP nicht nur in den Ländern eine vernichtende Wahlniederlage nach der anderen ein. Sie schürten mit einem verfehlten Regierungskurs in der Bevölkerung die Unzufriedenheit in einem Maße, dass außerparlamentarische Protestaktionen wie lange nicht wieder auflebten und sich die innerparteilichen Widersprüche der Regierungspartner so sehr verschärften, dass einer von ihnen, die FDP, bereits in eine existenzielle Krise geriet.

Unter der Oberfläche der Parteidisziplin

Ganz so dramatisch war die Entwicklung bei den Unionsparteien bisher nicht, doch rumort es auch bei ihnen unter der Oberfläche erzwungener Parteidisziplin viel mehr, als die Führungen offenbaren möchten. Dabei wollte die Kanzlerin doch mit dem »Herbst der Entscheidungen« gerade den Nerv vieler Unionsanhänger treffen, auch mit ihrer aggressiven Kampfansage an Andersdenkende in der Gesellschaft – ob hinsichtlich des Bahnhofsprojektes in Stuttgart oder bei der sturen Verteidigung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, ob mit der eilig nach Kassenlage zusammengeschobenen Hartz-IV-Korrektur oder der vorbehaltlosen Verteidigung des geistigen Betrügers zu Guttenberg. Und schließlich mit dem Durchpeitschen der AKW-Laufzeitverlängerung im Schulterschluss mit der Atomindustrie.

Alle diese Entscheidungen standen und stehen im Widerspruch zum Mehrheitswillen in der Bevölkerung und zeugen vom zunehmend voluntaristischen Agieren Angela Merkels – damit Helmut Kohl in dessen Endzeit vergleichbar, als er seine Entschlüsse für ebenso unfehlbar hielt wie seine Person als ihren Vollstrecker, was ihn schließlich gar in kriminelle Abgründe führte. Und wie Kohl 1998 verlieren Merkel und ihre Koalition mit der FDP erdrutschartig das Vertrauen der Bürger einschließlich der eigenen Klientel und damit Stimmen an den Wahlurnen.

Dass dies jetzt besonders an der AKW-Laufzeitverlängerung exemplarisch wurde, hing zwar auch mit der Katastrophe in Fukushima zusammen, ist aber vorrangig die Quittung für den Regierungskurs insgesamt. Hilflose Erklärungsversuche in den eigenen Reihen, die Misere liege in mangelnder Wertebezogenheit der Union oder in einer Einbuße an Großstadtkompetenz begründet, gehen fehl, zumal sich hinter den Mahnungen der »Wertkonservativen«, »mehr Verlässlichkeit« zu zeigen und die »Kernklientel« der Union nicht zu verprellen, nur schlecht kaschiert das Unbehagen ihrer Wirtschaftsvertreter und des rechten Flügels über das Scheitern der von ihnen präferierten Politik verbirgt.

In ähnlich schwere Gewässer wie die FDP dürften CDU und CSU dennoch nicht geraten, verfügen sie als »Volksparteien« doch stets über das erforderliche Maß an taktischer Wendigkeit. Beleg dafür ist ihr Umweltminister Norbert Röttgen, einst auch ein glühender Verfechter der Atomkraft, der jedoch beizeiten die Signale aus Bevölkerung und Parteibasis erkannte und schon vor der Laufzeitverlängerung davor warnte, Kernkraft zu einem Alleinstellungsmerkmal der Union zu machen.

Röttgen ist entschlossen, das Thema, bei dem CDU und CSU nicht reüssieren können, ein für allemal aus der Welt zu schaffen – und inzwischen folgen ihm auch die Vorsitzenden der beiden Parteien, wenn auch nicht aus eigenem Triebe, sondern mit Blick auf Umfragewerte und Wahlergebnisse.

Vor allem Angela Merkel weiß, dass eine offene Wunde in der Atomfrage lange zu Gunsten der Grünen schwären würde, und deshalb nimmt sie derzeit wenig Rücksicht. Weder auf die AKW-Betreiber, deren Galionsfigur Jürgen Großmann von RWE beklagte, in ihre Entscheidungen »derzeit in sehr geringem Maße« einbezogen zu sein, noch auf die FDP, die den Verzicht auf ein Ausstiegsdatum nicht durchsetzen konnte. Aber die Liberalen versuchen, einige Hintertürchen offen zu halten. Und Merkels disziplinierte Kritiker aus der eigenen Partei, die sich am Ende im Vorstand auf die Gegenstimme von Arnold Vaatz und zwei Enthaltungen marginalisierten.

Zu wenig Interesse am Austausch mit dem Bürger

Entlastung jedoch dürfte das nur vorübergehend schaffen, denn das Grundproblem der Union ist damit nicht beseitigt. Ausgerechnet der Generalsekretär der CDU Baden-Württembergs, Thomas Strobl, brachte es jüngst auf den Punkt: »Wir teilen der Öffentlichkeit (oft genug auch der Parteiöffentlichkeit) unsere abgeschlossene Position mit. An einem wirklichen Dialog, am Austausch von Argumenten, an These, Antithese und Synthese im Kontakt mit unseren Mitgliedern und den Bürgern haben wir in den letzten Jahren zu wenig Interesse gezeigt.«

Ohne gründlichen Kurswechsel in Inhalt wie Form dürfte die innerparteiliche »Kernschmelze« der Union weitergehen – nach dem Muster des so fieberhaften wie erfolglosen Herumdokterns in Fukushima.

Veröffentlicht in: Neues Deutschland vom 03.06.2011

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