Nicht einmal Bundestagsabgeordnete sind frei

(pri) Wolfgang Bosbach gehörte stets zu den treuesten Bundestagsabgeordneten der CDU. Was auch immer die Medien ihn fragten, er stand stets unerschütterlich zur politischen Linie seiner Partei. Das wurde von den Parteioberen wohlwollend registriert, gab ihm aber nicht das Recht, auch einmal die eigene Meinung zu sagen und im Parlament zu Protokoll zu geben. Als er das jetzt in der Frage der Griechenland-Hilfe dennoch tat, wurde er binnen Stunden zum Aussätzigen in seiner Fraktion. Der Kanzleramtsminister aus seiner Partei erklärte ihm, »seine Fresse« nicht mehr sehen, »seine Scheiße« nicht mehr hören zu können.

Nun ist die Empörung groß, obwohl Bosbach lediglich widerfuhr, was in den Bundestagsparteien gang und gäbe ist. Keine Fraktion lässt zu, dass im Plenum jemand das Wort ergreift, der nicht die vorgegebene Position der Partei vertritt. Und wenn jemand anders als die Mehrheit der eigenen Leute abstimmen will, wird er unverzüglich in die Mangel genommen, in der die Walzen immer enger gestellt werden – bis hin zur Drohung, für folgende Wahlkandidaturen die Unterstützung zu versagen. Dann bekommen die Wähler einen anderen, der Parteiführung genehmeren Kandidaten vorgesetzt.

Bundestagspräsident Norbert Lammert wollte diese Praxis, die sogar die BILD-Zeitung zu einem von ihr selten gebrauchtem Vergleich veranlasste, durchbrechen und erteilte kraft seines Amtes zweien der Andersdenkenden in der Regierungskoalition das Wort, was nicht nur in deren Fraktionen, sondern in ausnahmslos allen Parteien heftige Proteste auslöste. Das ganze System breche zusammen, wenn solche Freiheiten üblich würden, ließ Unions-Fraktionschef Volker Kauder verlauten – und hat damit wohl recht. Wirkliche Freiheit bringt auch dieses System in Gefahr. Und zwar so sehr, dass selbst die einst alternativ denkenden Grünen ihrem »Abweichler« Hans-Christian Ströbele die Darlegung eigenständiger Gedanken im Bundestag verweigern – ganz zu schweigen von der SPD.

Deren parlamentarischer Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann wünschte sich zwar mit Blick auf den politischen Gegner: »In einem demokratischen Prozess ist es wichtig, das ganze Spektrum in einem vernünftigen Verhältnis zur Geltung kommen zu lassen.« Doch auch die politische Praxis der SPD ist eine ganz andere. Davon könnte zum Beispiel deren sachsen-anhaltinische Bundestagsabgeordnete Waltraud Wolff berichten, die 2003 bei der Abstimmung über Schröders »Agenda 20120« eine andere Meinung als ihre Parteiführung hatte. Damals wurde sie zur »Dissidentin« und geriet prompt in ein Dilemma, das im folgenden noch einmal nachgezeichnet werden soll.

 

Das Dilemma einer »Dissidentin«

Wenigstens diskutieren will die SPD-Bundestagsabgeordnete Waltraud Wolff, ehe sie eine schmerzhafte Entscheidung trifft

Der SPD-Sonderparteitag hat die »Agenda 2010« gebilligt. Das Mitgliederbegehren steht vor dem Scheitern. Nun geht es um die eigene Mehrheit der Koalition im Bundestag – für das kleine Häuflein der Aufrechten gegen Sozialabbau in der SPD-Fraktion eine schwierige Situation.

Wenn es um den Steuersatz beim Agrardiesel geht, dann hat Waltraud Wolff selbstverständlich das Wort. Auch zur Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung meldet sich die agrarpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Und entschlossen kämpft sie für die Aufrechterhaltung des Branntweinmonopols – bei besonderer Würdigung hochprozentigen gebrannten Korns, den sie gern zu einem ähnlichen Markenzeichen im Spirituosensektor machen würde, wie es Grappa, Ouzo, Cognac oder Tequila für ihre Herkunftsländer sind. So weit, so gut und lobenswert, meinen ihre sozialdemokratischen Bundestagskollegen, aber als nahe an der Schnapsidee müssen es offensichtlich einige dann empfunden haben, dass sich die Wolmirstedter Sonderschullehrerin in diesem Frühjahr in die Reihe jener »Dissidenten« stellte, die an des Kanzlers »Agenda 2010« herummäkelten.

Aufmüpfig aus Erfahrung

Mit acht anderen Parlamentariern und weiteren linken Sozialdemokraten brachte Waltraud Wolff im April ein Mitgliederbegehren auf den Weg, das – unter anderem – Kürzungen bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Krankengeld verhindern und stattdessen die Vermögenssteuer wieder einführen wollte – Forderungen, die die Parteiführung sofort strikt ablehnte. Und so war auch der Gegenwind in der Fraktion beträchtlich. Nach der Osterpause schlug den neun Aufmüpfigen, zu denen sich inzwischen drei weitere gesellt hatten, ein frostiger Wind entgegen. Selbst als es um die Frage ging, wer in der nächsten Bundestagssitzung das Spezialthema der »Modulation von Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik« behandeln sollte, hielten einige das Mitglied im Bundestagsausschuss »Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft« plötzlich für nicht mehr geeignet: »Was denn, so eine darf noch im Plenum reden?«

Dabei ist Waltraud Wolff gerade für Sozialfragen außerordentlich kompetent, kommt sie doch aus Sachsen-Anhalt, jenem Land mit der bundesweit höchsten Arbeitslosigkeit. »Ich konnte gar nicht anders«, sagt sie, »das Krankengeld privatisiert, noch mehr private Altersvorsorge, das Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau, ABM zurückgefahren, Wegbrechen der Qualifizierungsmaßnahmen – mit all dem konnte ich nicht mehr guten Gewissens durch meinen Wahlkreis gehen.« Nach der Wende arbeitete sie als Leiterin der Gerhard-Schöne-Schule in ihrer Heimatstadt, einer Sonderschule für geistig Behinderte. Sie kennt die Probleme der Schwächsten in der Gesellschaft, sie weiß, wie schwierig es gerade für sie ist, ein würdevolles Leben zu führen. Auch ihre Schule musste und muss um jeden Euro kämpfen, oft betteln. Viel Fantasie bringen Lehrer wie Förderer allein dafür auf; erst kürzlich organisierten sie ein Benefiz-Fußballturnier, um einen Schulbus finanzieren zu können. Auch der Namensgeber der Schule, der Liedermacher Gerhard Schöne, war dabei, sang seine Lieder, die oft die »kleinen Leute« zum Thema haben, aber auch ihre Kraft, ihren Mut.

Kraft und Mut brauchte auch Waltraud Wolff, nachdem sie nun zum »dreckigen Dutzend« in der 251-köpfigen Fraktion, wie deren Führung die »Abweichler« nennt, gehörte. Denn sie ist ein sozialer Mensch, möchte gern mit ihrer Umwelt in Frieden und Harmonie leben. »Jeder braucht ein Umfeld, auch zur eigenen Selbstgewissheit«, sagt sie. »Da merke ich schon, wenn die Kollegen reservierter sind, und es ist mir nicht einerlei.«

Es ist für sie auch nicht die erste Erfahrung dieser Art. Schon im August 2001, als es um den Einsatz deutscher Soldaten in Mazedonien ging, hatte sie im Bundestag Nein gesagt. Die evangelische Christin war immer gegen Krieg und Militär gewesen; jahrelang gehörte sie zu den treuesten Teilnehmern der monatlichen Aktionen gegen den Truppenübungsplatz in der Colbitz-Letzlinger Heide. »Schon da fand ich damit nicht nur Beifall«, erinnert sie sich, »sogar absolutes Unverständnis. ›Du bist für die SPD in den Bundestags gegangen‹, hörte ich, ›da musst du deren Entscheidungen mittragen‹. Doch andererseits hatte ich in dieser Frage einen Riesenrückhalt bei meinen Wählern.« Wie sollte sie sich verhalten? Immerhin hatten 43,3 Prozent sie 1998 direkt gewählt, vier Jahre später sogar 45,1 Prozent. Damals hatte sie darüber nachgedacht, ob sie wirklich im Parlament bleiben kann, denn sie ahnte, dass es immer wieder zu schwierigen Entscheidungen kommen würde.

Aber Waltraud Wolff blieb, denn sie lernte allmählich die sozialdemokratischen Tugenden. »Ich bin zwar von 45 Prozent gewählt worden«, sagt sie heute, »aber ich kann nicht nur das tun, was sie wollen.« Und natürlich sei sie keine grundsätzliche Gegnerin der »Agenda 2010«, sondern wollte mit den anderen nur erreichen, dass die SPD sie nicht nur einfach abnickt und basta, sondern darüber diskutiert. »Die Partei sollte wieder sprachfähig werden«, sagt sie, und das sei schließlich doch erreicht worden. Der Sonderparteitag, ursprünglich abgelehnt, habe stattgefunden. Jetzt gingen die Debatten im Bundestag weiter. Der turnusmäßige Parteitag im November werde wichtige Probleme erneut beraten. Und auch inhaltlich habe es Fortschritte gegeben, so zusätzliche Maßnahmen zu Bildung und Qualifizierung im Osten, Sonderregelungen für über 55-jährige Arbeitslose in strukturschwachen Gebieten, eine nur schrittweise Absenkung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau, die Fortsetzung der Diskussion über eine Ausbildungsplatzumlage: »Das sind abrechenbare Erfolge, die so in der ursprünglichen Agenda nicht standen.«

Immer wieder verweist Waltraud Wolff auf die Notwendigkeit der Diskussion: »Das muss die SPD auszeichnen, sonst gibt es nur Lähmung, Wut und Resignation. Wir müssen uns streiten und Kompromisse finden, denn natürlich kann nicht jeder seine reine Lehre durchsetzen. Alle müssen kompromissfähig sein.« Da ist die Abgeordnete schon ganz nah bei Eduard Bernstein und seinem oft kolportierten Wort von der Bewegung, die alles sei, das Ziel dagegen nichts. Und natürlich auch bei ihrem Vorsitzenden Gerhard Schröder, der sich beim 140-jährigen Parteijubiläum ausdrücklich zu dem reformistischen Denker bekannte. Bernstein nannte das Rechtsgefühl, das Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit »das dauernde Element in der Bewegung, das alle Wandlungen der Doktrin überlebt, aus dem sie zu allen Zeiten immer wieder neue Kraft schöpft«. Ein Satz, den Waltraud Wolff wohl lieber auf sich beziehen würde als das böse Wort vom »Unsicherheitsfaktor«, das ihr und den elf anderen in der Fraktion angehängt wurde. Schließlich hätten sich die »Dissidenten« auf sozialdemokratische Grundwerte besonnen, »und der Parteitag zeigte doch, dass unsere Klagen in die richtige Richtung gingen«.

Besonders unverständlich ist ihr die Haltung ihres sachsen-anhaltischen Landesverbandes, der sie hart kritisierte, dann aber in einem eigenen Antrag für den Sonderparteitag die Sachforderungen des Mitgliederbegehrens aufgriff. »Legen Sie diesen Antrag und das Mitgliederbegehren nebeneinander – und Sie werden staunen!«, erklärt sie kopfschüttelnd. 1991 war sie, die zuvor politisch Abstinente, in die SPD eingetreten, seit 1994 sitzt sie im SPD-Landesvorstand Sachsen-Anhalt, seit 1995 ist sie Vorsitzende des Kreisverbandes Ohrekreis. Da schmerzte es schon, dass ihre Genossen zwar ihre Forderungen aufgriffen, ihren Weg aber, wie der Landesvorsitzende Manfred Püchel, für falsch erklärten. Und es tut zugleich gut, wenn sie andererseits bei ihren Wählern gewachsenen Respekt spürt, einer sie vor dem Sonderparteitag sogar in Berlin auf der Straße ansprach und bestärkte: »Machen Sie weiter so!«

Abwägen bis zur letzten Sekunde

Und das hat Waltraud Wolff auch vor. Zwar plädierte sie dafür, nicht mehr viel Kraft für das absehbar zum Scheitern verurteilte Mitgliederbegehren aufzuwenden, doch nun gelte es, über die ins Plenum eingebrachten Gesetze zu streiten, gegenwärtig die Vorlage zur Gesundheit. »Bis zur letzten Sekunde müssen wir die Chance nutzen, Veränderungen herbeizuführen.« Nicht nur sie, auch die Fraktionsführung solle kompromissbereit sein. Daher sei ihr Abstimmungsverhalten im Bundestag nach wie vor offen. »Wir müssen noch einmal genau hingucken, und dann werden wir sehen«, sagt sie unbestimmt.

Sie spricht es zwar nicht aus, sieht sich aber wohl doch in einem Dilemma. Denn weder möchte sie einen Blankoscheck ausstellen noch von vornherein die Ablehnung verkünden. Aber auch nicht, dass Zustimmung zu den Gesetzesvorlagen nach allem, was aus ihrer Sicht erreicht worden ist, als Einknicken ausgelegt wird. Der Druck der Fraktionsmehrheit ist bei ihr wie den anderen »Dissidenten« nicht ohne Folgen geblieben. »Die Herde zusammenzuhalten«, hat der bayerische Fraktionsvize Ludwig Stiegler als Losung ausgegeben, und auch Waltraud Wolff räumt ein, dass das Klima unter den sozialdemokratischen Mandatsträgern rauer geworden ist. Doch an ein Aufgeben des Mandats denkt sie diesmal nicht. »Meine Wähler wollen, dass ich im Bundestag bleibe«, sagt sie. »Ich diene ihnen nicht, wenn ich aufgebe.« Was das aber heißt, wird man immer erst dann wissen, wenn der Bundestagspräsident zur Abstimmung ruft.

(Veröffentlicht in: Neues Deutschland vom 25.06.03)

Man kann sich schon wundern: In der freiheitlichen Bundesrepublik sind nicht einmal die obersten Volksvertreter wirklich frei.