Das Buch zur DT-Serie

Gregor Gysi: Offene Worte im Dienst der öffentlichen Meinung

 

(rhe). Vor knapp neun Jahren begann im Deutschen Theater ein „Sonntags-Experiment“, das sich quasi über Nacht zu einem Volltreffer entwickeln sollte.

 Im Mittelpunkt dieses Volltreffers steht – oder besser sitzt bequem – mit Gregor Gysi ein sich hier zurückhaltender Zeitgenosse, der sonst nicht nur in seiner Funktion als Bundestagsfraktionschef DIE LINKE von sich Aufsehen macht, sondern auch als willkommener Gast diverser Talk-Show – zu welchem Thema auch immer – für Furore sorgt. Und nicht selten wegen seiner originellen und tiefsinnigen, in der Regel zutreffenden Antworten und Einwürfe nicht nur die politisch links gestrickten Lacher auf seiner Seite hat.

Erinnern wir uns: Mit 23 Jahren war der 1948 in Berlin geborene Sohn von Klaus Gysi nach einer Ausbildung als Rinderzüchter und dem Jurastudium an der Humboldt-Uni jüngster Anwalt der DDR. Er zählte zu den Organisatoren der inzwischen legendären Kundgebung aus dem Alexanderplatz im November 1989. Dann wurde er wurde zu einem der Protagonisten des politischen Umbruchs in der DDR, um bis heute in unterschiedlichen Positionen die linken Kräfte nicht nur in den fünf Neuen Ländern, sondern bundesweit zu repräsentieren.

Im vergangenen Jahr widmete sich Blogsgesang mit dem BeitragDu kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand…“ einer Zwischenbilanz des seit dem Frühjahr 2003 im DT sonntags um 11 Uhr vor ausverkauftem Haus (mit zwei Sesseln, zwei Karaffen, zwei Gläsern, zwei Goldfischen und jeweils zwei hochkarätigen Zeitgenossen) über die Bühne gehenden Spektakels. Deren Sinn und Zweck zum Matinee-Auftakt mit Peter Zadek von DT-Intendant Bernd Wilms kurz und treffen mit dem Vermögen „über den Tellerrand zu blicken“ und den vielfältigen weiteren Talenten von Gregor Gysi begründet wurde. Der als begnadeter Selbstdarsteller, Buchautor und Hoffnungsträger breiter sozialer Schichten bei vielen „einfachen“ Zeitgenossen anerkannt, bei manchen Vertretern der herrschenden politischen Klasse durchaus aber auch gefürchtet ist.

Nicht nur die Berliner Medien widmeten diesem Sonntags-Experiment ausführliche Betrachtungen. Je nach Standort wurde die Befragung prominenter Vertreter aus Kultur und Kunst, Politik und Gesellschaft zu deren Sicht auf ihr eigenes Leben, auf die Zeitläufte mit ihren kulturellen und politischen Lichtpunkten, Verwerfungen und Herausforderungen zustimmend oder ablehnend kommentiert. Einer der Autoren beschied dem DT-Experiment nur eine kurze Lebensdauer. Diese Prognose sollte sich aber als fundamentaler Irrtum erweisen.

Denn über die Jahre waren mehr als 60 „illustre Leute von Format“ der Einladung ins Deutsche Theater gefolgt. Einer der Kommentare zum seinerzeitigen Blogsgesang-Beitrag, der seine Überschrift übrigens von Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann entlehnte, (es sei, wenn man Schuld auf sich geladen habe, immer einer da, an den man sich wenden kann: Gott) verwies auf den gut recherchierten Überblick. Er anerkannte Aufwand und Sachkenntnis mit dem der Text verfasst sei. Ende der Durchsage: „Wünschens-wert wäre, die Sonntagsgespräche im Deutschen Theater  in Buchform zu edieren.“

Natürlich war es nicht der Wunsch von Blogsgesang-Leser Gert Lange allein, der dazu führte, dass im vergangenen Jahr der Verlag Neues Leben in einer Gemeinschaftsaktion mit dem Deutschen Theater Berlin das Buch „offene worte – gysi trifft zeitgenossen“ auf den Markt brachte. Und zwar exklusiv. Die wohl erfolgreichste und langlebigste Gesprächsreihe an einem deutschen Theater überhaupt kann man nicht nachhören im Internet, weder im Fernsehen noch im Radio verfolgen.

Auf der Gästeliste standen Namen wie die von Mario Adorf (Ich habe nie darunter gelitten, die Bösewichter zu spielen), Henry Hübchen (Denken allein reicht nicht aus), Wladimir Kaminer (Wir waren alle Hochstapler) und Inge Keller (Ich bin immer noch ein Glückskind). Namen wie Beate Klarsfeld (Ich wollte ein anderes Deutschland repräsentieren), Kurt Maetzig (Schluss mit den Kompromissen!), Dieter Mann (Ich lasse mir ungern erklären, wie ich gelebt habe), Hans Meyer (Ich hatte in meinem Beruf noch nie Angst), Armin Müller- Stahl (Ich wollte nicht mit lauter Verbotsschildern im Kopf durch das Abenteuer Leben gehen) und Peter Scholl-Latour (Ich war nie Pazifist). Außerdem zu Gast waren Hans-Christian Ströbele (Bis ich in Rente gehe, hat die Revolution gesiegt), Katharina Thalbach (Vielleicht bin ich einfach nur altmodisch), Klaus Wagenbach (…weil ich ein unbelehrbarer Linker bin) und Roger Willemsen (Kultur besteht aus Überforderung).

Herausgeberin Birgit Rasch, die die Gesprächsreihe von Anbeginn leitet, hat mit den gut gewählten 14 Kapitelüberschriften dem Leser zugleich  aufschlussreiche Einblicke in die Lebensphilosophie der von Gysi befragten Zeitgenossen vermittelt. Die dann mit dem originellen und sachorientierten Spiel ausgewählter Fragen und Antworten eine spezielle Art von gewinnbringender Vertiefung erfährt.

Sonntag, 11 Uhr: Zwei Zeitgenossen im Deutschen Theater

Es liegt in der Natur der „Gysi-Dinge“, dass die Herausgabe dieses Buches zugleich auch eine intensive Befragung des Zeitgenossen Gysi nach sich ziehen würde. Im Deutschen Theater stellte an einem Sonntag um 11 Uhr Freitag-Verleger Jakob Augstein „locker vom Hocker“ seine Fragen zur Person. Es war wie immer, wenn der hier Befragte selbst fragt, unterhaltsam und der Tiefgang sowohl ins Private wie ins Gesellschaftliche beträchtlich. Die Wochenzeitung selbst, so Augstein gegenüber dem Reporter,  hatte nicht die Absicht,  nachfolgend darauf einzugehen.

Sie veröffentlichte jedoch Ende Dezember das Interview „…aber nicht ohne die Linke“, in dem sich Gregor Gysi ausführlich über die Macht des Zeitgeistes, die Fehler seiner Partei im Westen und die Frage, warum die Grünen kein Garant für einen politischen Wechsel sind, äußern konnte. Aufschlussreich folgende Passage. Auf die Frage „Ist die Linkspartei denn nun dem Zeitgeist auf der Spur?“ antwortet Zeitgenosse Gysi: „Das große Verdienst von Oskar Lafontaine war, uns von den rein östlichen Scheuklappen befreit zu haben. Wenn ich Scheuklappen sage, dann sage ich damit nichts gegen den Osten. Aber ich erreiche den Arbeitnehmer in Nürnberg nun mal nicht mit einer Art westpolnischer Partei. Und für so etwas Ähnliches hat man im Westen die PDS doch gehalten. Für die Menschen in der DDR war die BRD niemals wirklich Ausland. Aber die DDR war in der Wahrnehmung vieler Westdeutscher vollkommenes Ausland. Da ist mir aufgefallen, was eine kulturelle Differenz bedeuten kann.“

Schütt befragt Gysi bei „nd im Club“

In der Reihe „nd im Club“ führte Feuilleton-Chef Hans-Dieter Schütt mit Gregor Gysi eine aufschlussreiche Personaldebatte, die letzterer mit dem Signum „Ich habe vier Leben“ versah, in der es ebenfalls im kulturelle Differenzen ging. Zum Signum: „Ich habe vier Leben! Ich bin Politiker und also in den Medien, ich bin Anwalt, ich habe mein Privatleben und darf viertens Publizist und Moderator sein.“

Allseits bekannter Zeitgenosse Gysi signiert, die unbekannten Zeitgenossen sind erfreut

Worum ging es noch? Um die Zeitspanne von 24 Stunden, die Gysi gewöhnlich zur Vorbe-reitung auf ein DT-Ge-spräch benötigt. Es ging auch um die stummen Fische im DT-Aquarium, um hörbare Widerreden seiner Gäste, auch um Peter Hacks, dessen Anwalt Gysi war. Eine der Fragen betraf  die „Lieblingsgeschichte“ von Gysis Vater, dem Kultur- und Kirchen-politiker Klaus Gysi. Schließlich durfte die Frage nach der Linkspartei nicht fehlen, „die zurück in die Erfolgsspur“ müsse: „Die Erfolgsspur besteht darin, nahe bei den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Problemen zu sein und dadurch die Akzeptanz zu erhöhen. Wenn wir das nicht leisten, sondern uns überwiegend mit uns selbst beschäftigen, dann wenden sich die Leute von uns ab.“

Wenn man Gysi beim Plaudern, dem ab und an auch die originellen Akzente nicht fehlen, zuhört, dann  ist schwer vorstellbar, dass dieser Mann  selbst in der Lage ist, längere Zeit still zu sein, wenn eine von ihm befragte prominente Person sonntags im Deutschen Theater ihre Mitteilung macht. Aber: der Gastgeber kann auch zuhören. Und er kann warten, bis die Zeit für (s)eine nächste Pointe gekommen ist.

Braucht ein Linker Staatsräson, fragt Schütt. Darauf Gysi: „In der DDR hatten wir verhängnisvoll viel davon. Man sollte dem bürgerlichen Staat gegenüber offen sein. Man muss ihn nicht mögen, aber man sollte daran denken, dass er ein wichtiges Instrument und der Garant der demokratischen Praxis und des politischen Einflusses der Bürger ist. Ich zähle zu denen, die für das Primat der Politik über die Finanzwelt und die Wirtschaft kämpfen. Leider bestimmt Ackermann, was Merkel tut. Ich möchte es umgekehrt. Vielleicht ist das die wahre Staatsräson…“ Auf die Anfrage, wie er mit der Einsamkeit umgehe, kommt: „Die kenne ich bisher nicht.“ Zusatzfrage: „Fürchten Sie denn die Einsamkeit?“ In der Antwort ist  selbstkritische Distanz unüberhörbar: „Ein bisschen. Ich möchte nicht erleben, dass ich mich mit mir langweile. Es ist eine große Kunst, von der Überzeugung abzulassen, die eigene Meinung sei der Welt unbedingt mitzuteilen.“

Die DT-Reihe und das Buch: Ein Ende ist noch lange nicht in Sicht...

Was dem Blogsgesang – Interessenten sonst noch mitzuteilen ist, findet sich im Vorwort des Buches: „Ein Ende der Veranstaltungsreihe ist noch lange nicht in Sicht“. Des Gastgebers Neugier sei unersättlich, immer wieder fänden sich faszinierende Zeit-genossen, und das Publikum wäre so treu wie zahlreich. „Ein Publikum, für das der Sonntag mit Gregor Gysi und seinen Gästen immer wieder inspirierend ist.“

Die Namen „faszinierender Zeit-genossen“  nehmen wahrlich kein En-de. Gerade im DT zu Gast waren der Protestant Friedrich Schorlemmer, der auch „nd im Club“ schon die Ehre gab, und die Kabarett-Ikone Dieter Hildebrandt. Für den 26. Februar hat sich Countertenor Jochen Kowalski angesagt. Im März wird mit Senta Berger eine weitere Ikone, diesmal aus dem Bereich der Schauspielkunst, auf die Fragen von Gregor Gysi antworten. Nimmt man allein diese Namen: Man darf wohl davon ausgehen, dass die Neuerscheinung, die übrigens auch Foto und  Vita der Befragten  enthält,  nicht die letzte ihrer Art sein dürfte. Darüber werden sich wieder vor allem jene Kulturinteressenten nicht nur aus Berlin freuen, die sich vergeblich um eine Karte – zum Einheitspreis von 10,-Euro – bemühen.

Gregor Gysi, Birgit Rasch (Hrsg.): Offene Worte. Gysi trifft Zeitgenossen. Verlag Neues Leben. (Eulenspiegel-Verlagsgruppe Berlin). 240 Seiten, brosch., 17,95 Euro

 

 

One Reply to “Das Buch zur DT-Serie”

  1. Danke für zwei Sätze, die ich mir ins Stammbuch schreibe:
    „Ich möchte nicht erleben, dass ich mich mit mir langweile“
    Und:
    „Es ist eine große Kunst, von der Überzeugung abzulassen, die eigene Meinung sei der Welt unbedingt mitzuteilen“.
    Das allerdings wäre der Tod so mancher Internet-Foren.

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