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Der 4. November 1989 und eine stille Sehnsucht

(pri) Nein, zu einer großen Siegesfeier der alten Bundesrepublik über die DDR wird der derzeit allgegenwärtige Rückblick auf 1989/90 nicht werden – den verbissenen Bemühungen, möglichst alle seither in die Welt gesetzten Klischees über den anderen deutschen Staat noch einmal im Zeitraffer Revue passieren zu lassen, zum Trotz. Vielmehr entwickelt sich in diesen Tagen eine engagierte Debatte, die nicht nur dieses ideologisch geprägte Geschichtsbild in Frage stellt, sondern auch zu ergründen versucht, was denn an dieser DDR, die noch immer so viele Versteher und gar Verteidiger hat, wirklich dran war.

Denn es muss ja etwas an ihr dran gewesen sein. Gebe es nichts, was an der DDR bedenkenswert, verteidigungswert, vielleicht gar nachahmenswert ist, würde kein Hahn mehr nach ihr krähen und vermoderte das gescheiterte Experiment längst auf dem Müllhaufen der Geschichte, auf den es so viele gern befördern würden.

Gerade der heutige 4. November erinnert uns daran, war doch dieser Tag vor 25 Jahren mit seiner großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz [1] ein letzter, wenn gewiss auch schon damals aussichtsloser Versuch, die DDR zu retten, indem sie gründlich reformiert werden sollte. Die Reden dieses Tages verdeutlichten die Lebendigkeit der Utopie, die bei der Gründung der DDR eins Pate gestanden hatte, allerdings von dieser schon bald gründlich deformiert und in der Konsequenz ad absurdum geführt wurde, so dass eine Renaissance nicht mehr möglich war.

Dennoch blieben die Gründungsideen der DDR lebendig; heute, da die Gebrechen des herrschenden Systems deutlicher denn je hervortreten [2], werden sie vielleicht sogar intensiver diskutiert als zu jenen Zeiten in der DDR, da man alle Fragen bereits gültig für beantwortet hielt. Einer von jenen, die schon vor 1989 angetreten waren, in der DDR etwas zu verändern, dafür Verfolgung erdulden mussten, dann enttäuscht von der tatsächlichen Entwicklung im Osten der neuen Bundesrepublik waren und dennoch die Hoffnung nicht aufgaben, war Reinhard Schult. Aus der aktiven Politik zog er sich in den 1990er-Jahren zurück; davon handelt nachfolgender Text. Er spiegelt die Ernüchterung gut sieben Jahre nach der Wende ebenso wieder wie die ungebrochene Hoffnung, dass damit das Ende der Geschichte noch nicht erreicht sein könne. Heute engagiert sich Reinhard Schult [3] in Brandenburg konkret für Opfer von Repression und Unterdrückung in der DDR, vor allem für jene, die Überwachung und Verfolgung durch die DDR-Staatssicherheit um ihre Lebenschancen brachten.

Vielleicht muss alles noch einmal von vorn beginnen

Reinhard Schult, der »Staatsfeind« in der DDR und Störenfried in der vereinigten Bundesrepublik, hat sich aufs Land zurückgezogen – zu einer nur begrenzten »Auszeit«, wie er hofft

Der Schnaps kostet in der Fredersdorfer »Linde« eine Mark – Goldbrand oder Klarer. Einsfuffzig das Berliner Pilsner, auch die Bockwurst mit Brot. Die Kneipe hat sich kaum verändert seit den 80ern oder länger.  Zwei Spielautomaten sind dazugekommen, eine »Wernesgrüner«-Reklame. Unter dem Fernseher liegt ein Otto-Katalog, damit man vom Bildschirm mehr sieht als den Kopf des Vordermannes. Ach ja, und Blumen und Kerzen stehen auf den Tischen. Die Gäste haben sich inzwischen daran gewöhnt.

Das ist schon ein bisschen Westen, aber eigentlich noch DDR – hier in der Uckermark, nahe der polnischen Grenze. Fast jeden Abend kommt Reinhard Schult hierher, für fünf bis sechs Stunden, am Wochenende auch länger. Oft kommt er als erster und geht als letzter, denn sein Platz ist hinter dem Tresen. Er hilft der Wirtin, mit der er zusammenlebt.

1989 hatte Schult mit einem abgewetzten Pullover am Runden Tisch gesessen und meist ein grimmiges Gesicht gemacht; die meisten neben ihm trugen Hemd und Schlips und lächelten – noch immer, schon wieder oder in guter Hoffnung. Er saß da fürs Neue Forum und weiß heute, daß damals längst alle Züge abgefahren waren. Wichtiger als Runde Tische war ihm immer die Straße gewesen. Von dort musste Druck kommen. »Unsere Forderungen sollten erfüllt werden, von denen, die dafür zuständig waren. Wir brauchten keine Schwafelrunde.« Und wenn es sie schon geben sollte, dann wenigstens in aller Öffentlichkeit. Das Neue Forum hatte die Fernsehübertragungen durchgesetzt und damit auch einige Wirkung erzielt. Am Runden Tisch aber blieb es letztlich in der Minderheit. Denn die Revolution suchte sich bald einen sicheren Bahnhof und ließ ihre Kinder am Gleis stehen.

Jetzt reicht er das Bier über den Tresen und den Braunen dazu, schiebt ein gefrorenes Schnitzel in die Mikrowelle und hört auf die Gespräche. Manchmal wirft er ein Wort ein, nie eine lange Rede, denn die schätzt man hier oben nicht. Der Apparat mit dem Schnitzel tutet, eine Runde Klarer wird verlangt. Über allem liegt blauer Zigarettenqualm. Etwas gequält sagt Schult: »Es ging mir nicht schlecht damals, es geht mir auch jetzt nicht schlecht.« Er sei in einer »versuchten Reflexionsphase«: Diskutieren, aufschreiben, was in den letzten Jahren passierte. Er meint die Reste des Neuen Forums, die sich in versprengten Grüppchen an einigen Orten allein durchzuschlagen versuchen. Man habe an Auflösung gedacht, dann aber sei alles weg. So gebe es wenigstens einen Grund, sich hin und wieder zu treffen. Und trotzig: »Das, was wir zu DDR-Zeiten kritisch zum Staat und zur Politik aufgeschrieben haben, hat sich noch lange nicht erledigt, heute erst recht nicht.«

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Schults Widerstand begann in der 1. Klasse. Da wollte seine Lehrerin unbedingt als erste die 100-prozentige Pioniermitgliedschaft erreichen, und der Junge sagte beharrlich nein. Aus eigenem Antrieb, denn vom Vater hatte er den Widerspruch nicht; der war NDPD-Mitglied und beim Ministerrat beschäftigt. Und die Mutter verlangte: »Du musst dich schon zwischen Mickymaus und den Pionieren entscheiden. Beides zusammen geht nicht.«

Schult fand Mickymaus besser, und auch seine Mutter war letztlich nicht dagegen. Sie hatte ausgerechnet für den 13. August 1961 die Ausreise aus Berlin, Hauptstadt der DDR, geplant. Im Westen lagen Flugkarten, in Baden-Württemberg wartete ein Arbeitsplatz auf die Krankenschwester In der Woche zuvor war der Zehnjährige immer wieder mit der S-Bahn gen Westen gefahren, um Sachen rüberzubringen. Mit nur noch einem Koffer verbrachten sie die letzte Nacht im Schwesternheim, doch am Sonntagmorgen ging die Bahn nicht mehr. In den Straßen Berlins kannte man sich nicht aus, westliche Freunde konnten auch nicht helfen. Schult blieb DDR-Bürger und wurde endgültig zum »subversiven Element«.

Wenn er davon erzählt, lebt er auf. Dann fallen ihm immer neue Anekdoten ein und spitzbübische Geschichten, wie man die Staatsmacht leimte. Oder die Kirche, von der er nach einem Jahr Theologiestudium bereits genug hatte. Ihm war nicht nach Auslegung von Bibelstellen, er wollte etwas erreichen. Was, wusste er damals noch nicht so genau. Später wurden die Ziele konkreter: Friedensarbeit, Menschenrechte, Ökologie, Schaffung einer »Gegenöffentlichkeit« zur offiziellen Propaganda.

Die Staatssicherheit hatte ihn bald im Visier, aber auch viele Kirchenleute mochten ihn nicht. Studentenpfarrer Konrad Eimer, heute Europaabgeordneter der SPD, drängte ihn und seinen Friedenskreis aus der Evangelischen Studentengemeinde. Als er beim Berliner Kirchentag ankündigte, die »Kirche von unten« werde sich auch ohne pastorale Zustimmung Gemeinderäume für ihre Veranstaltungen suchen, drohte ihm Rainer Eppelmann mit der Volkspolizei. Manfred Stolpe machte es geschickter – »der hat uns immer wieder das Ohr abgekaut«.

Reinhard Schult hatte Maurer gelernt und zugleich sein Abitur gemacht, nach dem Studienabbruch in diesem Beruf gearbeitet. Dann wurde er, mit 25 Jahren, zur Armee einberufen, diente als Bausoldat. Kontakte zu Oppositionellen wurden häufiger, die Verhöre der Staatssicherheit auch. Man sperrte ihn für acht Monate wegen »öffentlicher Herabwürdigung« ein, als er Texte von Wolf Biermann, Reiner Kunze und Jürgen Fuchs weitergab. Danach arbeitete er auf einem Schlachthof, dann als Heizer bei der KWV und war seit 1987 laut Stasiprotokoll »ohne ARV«, also ohne Arbeitsrechtsverhältnis, in der DDR die Umschreibung für »asozial«. Gelegentliche Schwarzarbeiten brachten ihn finanziell durch. »Das war Luft für die politische Arbeit«, sagt er. – So zieht man »Dissidenten« heran.

Je bekannter Schult wurde, desto sicherer war er.  Zwar sei immer ein »nicht kalkulierbares Restrisiko« geblieben, aber Ende der 80er Jahre hätte man ihn ohne größeres Aufsehen nicht mehr aus dem Verkehr ziehen können. Man ließ es bleiben. Dennoch tauchte er in den Oktobertagen 1989 zunächst unter. Ende September war das Neue Forum gegründet worden; konnte man wissen, ob nach dem 40. DDR-Jahrestag nicht das große Aufräumen begann? Er setzte sich nach Leipzig ab, erlebte dort die entscheidende Montags-Demo – und tauchte voller Hoffnungen wieder im Berliner Prenzlauer Berg auf. Der Staat DDR war ins Wanken geraten; dennoch habe man ihn nicht stürzen wollen, aber in seine Schranken weisen schon. Freiräume wollte man erkämpfen. Die Herrschenden sollten nicht mehr tun und lassen können wie bisher. Schrittweise sei man vorangekommen, das habe noch Spaß gemacht. Aber dann…

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Nur stockend spricht Schult über den Wendeherbst. Da gibt es keine spaßigen Geschichten, nur quälendes Reflektieren, Erinnern an verpasste Gelegenheiten und die heimliche Ahnung, dass es anders gar nicht kommen konnte. Dem Sog zur Wiedervereinigung hätte sich die Bürgerbewegung nicht entziehen können; was sollte sie auch entgegensetzen? Das Vorführen des SED-Politbüros verpuffte schnell und wurde von der PDS bald rigoroser betrieben. »Da saßen plötzlich Leute, die sich für nichts verantwortlich fühlten.« Die Stasi-Auflösung wurde wichtiges Anliegen, bei der NVA ließ man Panzer über Maschinenpistolen rollen, dann wollten BND und Verfassungsschutz die Hand auf das Stasiwissen legen. All dies band die Kräfte des Neuen Forum und wurde streckenweise zum Kampf gegen Windmühlenflügel. Als der Wahltermin feststand, lief die Entwicklung längst in anderen Bahnen. »Nun ging es nur noch um Schadensbegrenzung. Wir wollten die Sache hinauszögern.« In Volkes Augen wurde die Bürgerbewegung zum Bremser – und verlor.

Von der Revolution hat Schult nur einen großen Holztisch gerettet. Er stand einst im Fraktionszimmer des Neuen Forum im Abgeordnetenhaus und steht jetzt in seiner großen Küche. Da sitzt er und isst den selbstgebackenen Kuchen und die Wurst vom Bio-Landwirt, die Eier seiner freilaufenden Hühner. Er bohrt in seinen Niederlagen und lässt keinen aus. Die Enttäuschung über den Westen: Wie zu einen »Tierparkbesuch« seien die meisten Grünen – von einigen wenigen wie Kelly oder Bastian abgesehen – zu ihnen gekommen, hätte große Augen gemacht, aber eine echte Zusammenarbeit habe es kaum gegeben. Schon 1984 erlebte er, daß der »Tageszeitung« die zeitweilig von der Ost-Opposition gestaltete Ostberlin-Seite nicht westlich, nicht pluralistisch genug war; sie wurde bald von einer West-Redaktion gemacht. Und 1989/90? »Da suchten die Grünen auch nur den Kontakt zu uns, um einen angehenden Konkurrenten auszuschalten. Und sie haben die meisten geschluckt, so wie es ihnen die anderen Parteien vorgemacht haben.«

Vorher hatte es schon die SPD versucht. Eines Tages ließ Momper, damals Regierender in Westberlin, die Bürgerrechtler kommen: Bohley, Böhme, Eppelmann und andere. »Die Macht liegt auf der Straße«, sagte er, »nehmt sie euch.« Er hatte schon eine ganze Regierungsliste dabei. Und beruhigte: »Habt keine Angst, den Apparat haben wir, wir machen das schon.« Damals haben sich alle noch geweigert, heute sind die meisten doch bei den Parteien angekommen – vorzüglich bei denen, die Pfründe zu vergeben haben. Schult zuckt die Schultern: »Auch die Politik läuft eben nach den Gesetzen der Marktwirtschaft.« Übel nimmt er ehemaligen Gefährten nur, daß sie, die es doch besser wissen müßten, sich so leicht mißbrauchen ließen.

Ambivalent ist sein Verhältnis zur PDS. Im Abgeordnetenhaus ließ sich noch manches gemeinsam mit ihr machen, aber dann verdroß ihn deren Umgang mit dem Stasithema und die Unbedenklichkeit, mit der sie neue Themen zu besetzen suchte: »Da ruft sie „Soldaten sind Mörder“ und verteidigt andererseits die Grenztruppenchefs, die ihre Soldaten schießen ließen.« Wenigstens ein PDS-Mitglied hat er ganz auf seine Seite gezogen. Karin Dörre, einst im Bundesvorstand der Partei und inzwischen ausgetreten, weil sie dort alten Geist und neuen Opportunismus sieht, teilt mit ihm das Fredersdorfer Refugium.

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Die Leute hier kennen die alten Geschichten und reden doch nicht davon. Sie haben andere Sorgen. Die Jungen haben vielleicht eine Lehre hinter sich und keine Aussicht auf Arbeit. Ich gehe zehn Jahre zum Bund, verkündete kürzlich einer beim Bier. Da geht dem Pazifisten Schult ein Stich durchs Herz. Sein anhaltender Ärger in der DDR kam ja gerade daher, daß er für eine Alternative zum Wehrdienst focht. Jetzt gibt es sie und wiederum auch nicht. »Ich habe gesagt: Viel Spaß. Da wird man dich nach Bosnien schicken.« Darauf er: »Umso besser, da kriege ich noch einen Zuschlag.«

Die Leute, so findet Reinhard Schult, lassen sich zuviel gefallen. Und das System verleitet sie dazu. Dessen Herrschaftsstrukturen sind viel verfeinerter als in der DDR. Es braucht keinen solch sichtbaren Repressionsapparat und hat ihn im Hintergrund doch, um ihn bei Bedarf einzusetzen. Alles ist undurchschaubar – das Recht, das Finanzsystem. Das schafft ein Ohnmachtsgefühl. »Sie machen wieder alles mit, wie sie es gewohnt sind.«

Wenn es Schult zuviel wird, zieht er über die Felder oder schaut nach dem Geflügel. Oder fährt nach Berlin, anderthalb Stunde über die Autobahn. Dann taucht er für einige Stunden ein in die Stadt, in der er gejagt wurde und die ihn schützte, wo er ein wenig Geschichte mitschrieb und nun kaum noch erkannt wird. Er diskutiert mit Freunden, besucht alte Bekannte – und wartet. »1989 endete die Phase der Stagnation in Ost und West«, weiß er. »Seitdem haben massivste Umbrüche stattgefunden. Vieles wird sich noch verändern.«

Er weiß nicht, welche politischen Kräfte diese Veränderungen aufgreifen werden, in welche Richtung sie sie lenken. Doch er will den Anschluß nicht verpassen. Er hat mehr Zeitungen abonniert als alle anderen Fredersdorfer zusammen. Er empfängt Gleichgesinnte. Er mischt sich ein, nicht mehr so häufig und nachhaltig wie früher Aber wenn ein Beamter kommt und seine Wasseruhr ablesen will, um danach den Abwasserpreis zu berechnen, obwohl er eine eigene Klärgrube hat, schickt er ihn weg. Und wenn bald darauf zwei kommen, müssen auch sie wieder gehen. »Als nächstes kommt vielleicht die Polizei.« Fast klingt es wie eine Sehnsucht: Vielleicht kann noch einmal alles von vorn beginnen. Und vielleicht fechten wir’s dann besser aus.

(Erschienen in »Neues Deutschland« vom 12./13. April 1997)