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In Thüringen hat der Souverän gewonnen

(pri) Nach wochenlanger Debatte um das Für und Wider, nach teils verständlicher, teils künstlich hochgeschaukelter Erregung, nach Schlammschlacht und dem rumpelstilzchen-ähnlichen Gebaren der Führung der Landes-CDU hat am Ende doch Volkes Stimme gesiegt. Die Thüringer wollten nach 24-jähriger Herrschaft der Union den Wechsel, und drei Parteien – die Linke, die SPD und die Grünen – haben ihn professionell organisiert. Natürlich geht er den Anhängern der CDU und jenen, die in der DDR gelitten haben, gegen den Strich, und auch manch anderer mag über die Konsequenz der eigenen Wahlentscheidung oder seiner Nichtwahl im September erschrocken sein [1], aber letztlich waren auch die Nichtwähler das Resultat der CDU-Dauerherrschaft. Auch sie hatten genug, ohne freilich einen eigenen Standpunkt zu artikulieren.

Das Für und Wider reichte am Ende bis in den Landtagssaal, in dem Bodo Ramelow im ersten Wahlgang scheiterte, wohl auch im zweiten – wie das Stimmergebnis vermuten lässt – scheitern sollte, aber einer aus dem Lager rechts der neuen Koalition mochte mehr an das Land und sein Wohlergehen gedacht und sich den ideologischen und machtversessenen Grabenkämpfen der CDU-Führung verweigert haben; auch das ein Zeichen, dass der Wechsel bis weit hinein ins bürgerliche Lager als wünschenswert empfunden wurde.

Nun kann also Politik gemacht werden [2], und sowohl die rot-rot-grüne Koalition als auch die Opposition aus CDU und AfD werden beweisen müssen, dass sie zu konstruktiver Sacharbeit in der Lage sind. Ramelow hat dafür in seiner Antrittsrede ein Angebot unterbreitet, sein vermutlicher Hauptgegenspieler Mike Mohring von der CDU hat es erst einmal zurückgewiesen. Vielleicht ist es ja die Union, die die größeren Schwierigkeiten hat, ihre künftige Rolle zu finden. Aber auch die Koalition wird es nicht leicht haben, gegen überwiegend feindselige oder zumindest skeptische Akteure – vom Bundespräsidenten über die Kanzlerin, die Bundesführung der SPD und teils wohl auch jene der Grünen bis hin zu nicht wenigen alten »Klassenkämpfern« in der Linkspartei – ihre Ziele zu verfolgen. Wenn sie, wie es der Koalitionsvertrag aussagt, dabei stets die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Thüringens im Auge behält, muss ihr nicht bange sein. Sie entscheiden nach spätestens fünf Jahren über Erfolg oder Misserfolg – nicht die selbsternannten politischen Auguren mit ihren dogmatischen Positionen von gestern.

Was den neuen Ministerpräsidenten angeht, so kann man an seinem Werdegang leicht nachprüfen, inwieweit er zu seinen Worten steht und das, was er sich vorgenommen hat, auch umzusetzen versuchen wird. Ramelow war 1990 aus der alten Bundesrepublik nach Thüringen gekommen, um dort die neuen Gewerkschaften mit aufzubauen. Von Anfang an suchte er dazu Verbündete über Partei- und weltanschauliche Grenzen hinweg. Im Januar 1997 gehörte er zu den Initiatoren der »Erfurter Erklärung« [3], die für ein Zusammengehen aller warb, die Fehlentwicklungen in der neuen Bundesrepublik beklagten und ein demokratisches, ein sozial gerechtes Deutschland wollten. Vieles von dem, was die rot-rot-grüne Koalition heute in Thüringen anstrebt, stand bereits damals auf der Tagesordnung. Der nachfolgende Text über Bodo Ramelows Engagement für die Ziele der »Erfurter Erklärung« zeigt, dass er seinen Visionen treu geblieben ist – die erste, wenn auch längst nicht die einzige Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirken als Ministerpräsident Thüringens.

Erfurter Erklärung

Der Riss geht quer durchs Land

Warum Gewerkschafter, Pastoren, Wissenschaftler, Dichter und viele andere eine gemeinsame Sprache fanden

Als vor drei Wochen die »Erfurter Erklärung« vorgestellt wurde, glaubte mancher, nach einer kurzen Meldung und einigem Streit würden alle wieder zur Tagesordnung übergehen. Das ist nicht eingetreten, denn das Papier hat einen Nerv getroffen.
Bodo Ramelow findet es eher amüsant und zugleich spannend. Da wird Heino Falcke, zu DDR-Zeiten als Erfurter Probst unablässig im Stasi-Visier, als »alter und neuer Linksreaktionär« bezeichnet, der über das Verschwinden einer realsozialistischen Alternative zur Bundesrepublik verbittert sei. Friedrich Schorlemmer, einer der mutigsten und von der DDR-Obrigkeit gefürchtetsten Bürgerrechtler, wird von Helmut Kohl zum »Wasserträger des DDR-Regimes« erklärt, und ansonsten seien »Alt-Linke« und »Sozialfanatiker« am Werk – solche wie vielleicht Ramelow selbst; er ist Thüringer Vorsitzender der Gewerkschaft HBV und gerade 40 Jahre alt.
»Die alten Schubladen stimmen nicht mehr« – für den Gewerkschafter eine hoffnungsvolle Entwicklung. »Früher sagte man mir im Westen: Geh doch rüber! Nun bin ich hier, und man will mich wieder los sein. Warum? Man ist auch hier auf dem nackten Boden des kapitalistischen Deutschland angekommen.«
Von »gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven«, von »radikaler Umverteilung zugunsten der Einfluss-Reichen«, vom »Kalten Krieg gegen den Sozialstaat« spricht die Erklärung. Edelbert Richter, Weimarer SPD-Abgeordneter im Bundestag, verteidigt die harten Worte, die auch manchem aus der sozialdemokratischen Fraktion im Thüringer Landtag – Koalitionär der heftig kritisierten CDU – die Ohren schmerzen lassen: »Wenn wir etwas ändern wollen, muss es Trouble in der Gesellschaft geben, muss sich etwas Ähnliches abspielen wie 1968 im Westen oder 1989 im Osten. Wir wollen Mut machen, sich zu äußern, die Gesellschaft mobilisieren. Nur so kann sich der Zeitgeist ändern.«

Vielleicht stand am Anfang Bischofferode

Ramelow kam im Februar 1990 nach Thüringen – und war entsetzt. »Ich traf eine gelähmte, handlungsunfähige und ratlose Bevölkerung. Alles brach zusammen, aber statt zum Arbeitsgericht gingen die Leute brav zum Arbeitsamt. Und wer noch Arbeit hatte, kuschte vor den neuen West-Chefs.« Schon bald wollte er wieder weg, aber dann fand er in Stefan Heyms »Fünf Tage im Juni« die Frage, warum die DDR eigentlich ihre Menschen bewachen müsse, warum sie ihrer Ideologie nicht glaubten. »Das ist für mich das Schlimmste, was die DDR hinterlassen hat – die geistige Entmündigung der Bevölkerung. Nur so war es möglich, dass sie mit ihrem Kinderglauben vom Kapitalismus in diesen hineinschlitterte und damit nicht umgehen konnte.«
Dann kam Bischofferode – und ausgerechnet im »schwärzesten« Winkel des Landes, im Eichsfeld, der Widerstand gegen das Dulden. Heym las vor den Streikenden. Auch Ramelow war dort, wie viele andere Gewerkschafter. Sie trafen sich nicht am Sitzungstisch, sondern mitten in den Konflikten. Danach wussten sie besser, was sie voneinander zu halten hatten. »Dass so viele DGB-Funktionäre die >Erfurter Erklärung< unterschrieben, ist keine Selbstverständlichkeit. Gewerkschaften sind naturgemäß wesenskonservativ; das will ich gar nicht kritisieren. Wir aber sagten uns: Es muss etwas geschehen …«
Manche der Bischofferoder trafen sich wieder, als um das Deserteursdenkmal auf dem Erfurter Petersberg gekämpft wurde. Und es kamen neue hinzu: Junge Wehrdienstverweigerer, Pazifisten aus bitterer Erfahrung, Pastoren. Am Abend, als die Bundeswehr in Erfurt einen öffentlichen Zapfenstreich veranstaltete, stand Heino Falcke in der ersten Reihe der Gegendemonstranten und hielt ein altes Schild hoch: Schwerter zu Pflugscharen. Hinter ihm Bodo Ramelow, dessen HBV den Protest organisiert hatte.

Kein Konflikt zwischen Ost und West

So kamen sie zusammen, in der Aktion, in der Gemeinsamkeit der Ziele. »Zuerst hörten sich die Menschen zu«, beschreibt Ramelow, »dann unterstützten sie sich. Und keiner fragte zuerst: Zu welcher Partei gehörst du?« Jeder kannte jemand, der ähnlich dachte. Die Dinge reiften, weil immer mehr nach einer Alternative suchten, weil sie begriffen: Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen. Und irgendwann im letzten Dezember trafen sie sich. Der Schriftsteller Dieter Lattmann hatte eingeladen und moderierte ein wenig die Diskussion. Da waren die Gewerkschafter Spieth und Freitag, Schmitthenner und Ramelow, die Schriftsteller Dahn und Zwerenz, der Wissenschaftler Paech, der Ex-Minister Schirmer und andere. Schorlemmer konnte nicht kommen, schickte aber ein eigenes Positionspapier. »Alles Einzelpersonen, aber mit ähnlicher Grundüberzeugung.«

Edelbert Richter war nicht dabei, aber als man ihn fragte, unterschrieb er sofort. »Dabei geht es uns nicht um irgendwelche Koalitionsfragen, auch wenn das jetzt in den Vordergrund geschoben wird. Wir wollen Veränderungen in der Gesellschaft. Und wer das auch will, wird nicht ausgeschlossen.« Der promovierte Theologe räumt ein, dass er das nicht immer so sah. Auch er lernte – an den Verhältnissen. »Heute ist die Lage so, dass wir uns nicht auf Nebenkampfplätzen aufhalten können.«
Für Ramelow scheidet die »Erfurter Erklärung« die Spreu vom Weizen. Er weiß, dass Richter, Schorlemmer und auch Daniela Dahn aus dem »Demokratischen Aufbruch« kamen, dessen »offizielle« Thüringer Vertreter das Papier heute »falsch und demagogisch« nennen, als »Etikettenschwindel« abtun. Jetzt zeige sich, wer in der DDR eine wirkliche Alternative wollte und wen ausschließlich der verständliche Hass gegen die SED bewegte. »Wer dabei stehenblieb, ist heute verbrannt, weiß nicht wie weiter und flüchtet sich zu der neuen Macht.«
Gleichzeitig werde eine künstliche Trennlinie zur PDS gezogen. »Der wirkliche Riss aber verläuft anders.« Die deutsche Einheit werde zum massivsten Umverteilungsprozess von unten nach oben missbraucht, hatte man in Erfurt formuliert, und: »In Ost und West gemeinsam sehen sich jedoch Millionen Mitbürger durch immer schwerwiegendere Belastungen vor unlösbare Probleme gestellt.« Für Ramelow gibt es nicht vordergründig einen Ost-West-Konflikt, sondern jenen zwischen Arm und Reich, Oben und Unten.
Deshalb auch kann er Ostalgie nicht viel abgewinnen, sieht sie sogar als Gefahr für das Zusammenwirken. Die Mauer trennte seine Familie. »Meine Brüder im Osten kannten ihren Vater nicht, und ich erfuhr erst spät, dass es sie überhaupt gab.« Er sagt es wie nebenbei, denn er will nicht in Pfarrer Hintzes Trompete blasen. Aber verteidigen kann er es auch nicht.
Ihn stört das Gerede von der »Siegerjustiz«, denn die Richter und Staatsanwälte dieser Bundesrepublik hätten in den 40 Jahren zuvor nicht anders geurteilt, als sie es heute tun. Sie haben Spione verurteilt, Berufsverbote vollzogen, Wehrdienstverweigerer bestraft. Sie urteilten aus ihrer ideologischen Position, und dennoch sei ihnen in der Bundesrepublik – anders als der gleichgeschalteten Justiz in der DDR – einiges abgetrotzt worden. »Ich jedenfalls hatte 40 Jahre meines Lebens lang die Freiheit, meinen Mund aufzumachen, wann immer ich das wollte, und ich konnte den Schutz gegen jene organisieren, die mir das nehmen wollten.« Hätte es nur ein wenig davon auch in der DDR gegeben, wäre es vielleicht gar nicht zum Jahr 1989 gekommen.

Pfarrer Hintze und die Ostalgiker

Bodo Ramelow kommt aus dem Westen und sieht sich trotz aller Kritik an den Ostdeutschen, trotz mancher Ungeduld nicht als der »Besserwessi«, zu dem ihn manche stempeln wollen. Er kann nicht akzeptieren, dass an allem Schlechten in der früheren DDR heute der Westen und die Wessis schuld sind und viele nur mit Wehmut an die DDR denken. »Ich werfe mich nicht in den Staub«, sagt er, »und ich bin auch nicht nett. Ich sage dem Duckmäuser und dem Arschkriecher, was er ist. Aber ich habe auch keine Angst vor der Kommunistischen Plattform. Vielmehr sorgen mich jene in der PDS, die rückwärtsgewandt denken. Auf sie möchte ich zugehen, sie müssen wir gewinnen. Denn wenn sie letztlich im Osten die Oberhand gewinnen, würde uns das alle lähmen.« Die Hintzes im Westen und die Nostalgiker im Osten sind für ihn nur zwei Seiten einer Medaille. Solange sie gegeneinanderstünden, wäre eine Alternative nicht möglich.
Gerade deshalb ist die PDS-Passage in die Erklärung aufgenommen worden mit voller Absicht. »Es war für uns eine Frage der politischen Ehrlichkeit, dass wir uns da nicht herumdrücken. Und wir lassen die PDS nicht im Unklaren, was wir von ihr erwarten«, sagt Ramelow Er freut sich über die Zustimmung, die von dieser Seite kommt. Aber er will klarmachen, dass es mit Zustimmung allein nicht getan ist. In Bischofferode, beim Erfurter Zapfenstreich und anderswo – da hätte sich vor Ort entschieden, was mit wem wie gut geht. Das stehe noch aus.
Nicht um »Koalitionsfragen, sondern um Sachfragen« gehe es, hat Schorlemmer die häufige Verkürzung der bisherigen Diskussion um die »Erfurter Erklärung« kritisiert. Nicht »wer mit wem« sei die entscheidende Frage, sondern »Was?«, hat ihm Falcke sekundiert. Sie wollen sich weder vereinnahmen noch an den Rand stellen lassen. Und richten den Blick nach vorn: »Lassen wir uns an der Schwelle zum neuen Jahrtausend den Wert von Visionen nicht ausreden und beginnen wir zu handeln.«

(Erschienen in »Neues Deutschland« vom 30. Januar 1997)