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Vor 25 Jahren – Vom Runden Tisch an die Spitze des Kabinetts

(pri) Heute vor 25 Jahren fanden in der DDR die letzten Volkskammerwahlen statt – erstmals mit konkurrierenden Parteienlisten und einem erbitterten Wahlkampf. Sieger dieser Wahl wurde die »Allianz für Deutschland«, eine von der westdeutschen CDU erdachte Schöpfung, die unter Helmut Kohls maßgeblicher Leitung sechs Wochen zuvor in Westberlin aus der Taufe gehoben und zwei Wochen vor dem Wahlgang in Bonn mit einem Programm versehen worden war. Ihre Hauptkraft war die damalige DDR-CDU unter ihrem Vorsitzenden Lothar de Maizière [1]. Dieser, ein Rechtsanwalt und Mitglied der Synode der evangelischen Kirche in der DDR, hatte sich im Herbst 1989 stark in der Oppositionsbewegung engagiert und gehörte zu den Initiatoren der »Runden Tische«. Jetzt wechselte er in eine völlig andere Rolle, und fünf Jahre nach diesen Ereignissen, im Januar 1995,  fand sich Gelegenheit, den inzwischen aus Regierungs- und Parteiämtern Ausgeschiedenen nach seinen Erfahrungen zu befragen.

Auch wenn Lothar de Maizière zu erkennen gibt, dass er Formen der direkten Demokratie nicht für sonderlich zielführend beim Regieren hält, sind seine in ganz konkreter historischer Situation gewonnenen Erkenntnisse und Wertungen von Interesse, weshalb sie im folgenden dokumentiert werden – als authentischer Beitrag zur Wendegeschichte, von der vieles heute schon der Vergessenheit überlassen werden soll.

Am 7. September 1989 tagte erstmals der Runde Tisch in Berlin. Sie waren damals gerade CDU-Vorsitzender geworden und trafen sich mit bisher Ausgegrenzten, Bekämpften der DDR-Gesellschaft, von denen Ihnen einige gleichwohl aus Ihrer Anwaltstätigkeit bekannt waren. Fühlten Sie sich damals als jemand, der Geschichte macht, oder war die Situation eher skurril?

Um den Runden Tisch werden inzwischen viele Legendengewoben, als sei er die einzige Sternstunde deutscher Demokratie gewesen. Die evangelische Kirche hatte bereits seit 1986 den Dialog gefordert, so zu Bildungsfragen, zur Ökologie, zur Ökonomie, vor allem zur Subventionspolitik. Ich erinnere an ein Schorlemmer-Papier (Friedrich Schorlemmer war seit 1978 Pfarrer in Wittenberg und einer der profiliertesten Oppositionellen in der DDR – pri), das, verkürzt gesagt, forderte: Weg von der Sachsubvention, hin zur Personensubvention.

Die Tendenz der DDR in den letzten Jahren war aber so, dass der Dialog immer mehr verweigert wurde. Dann kam die Agonie des Staates, beginnend mit den Kommunalwahlen des Jahres 1989 (bei denen Bürgerrechtler die öffentliche Auszählung kontrollierten und Belege für Wahlfälschung fanden – pri). Da hatte man den Eindruck: Das Land wird nicht mehr regiert.Zwar hatten noch viele Vorstellungen, dass es Veränderungen nur im von der Partei gesetzten Rahmen geben könne, aber die Fragestellte sich damals schon anders. Dann kamen die Bilder aus Ungarn (wo Tausende DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft flohen, um ihre Ausreise zu erzwingen – pri). Vor allem die Jugend lief damals davon.

Insofern wurde schon im Vorfeld im Kirchenbund diskutiert, dass wirjetzt eine Form finden müssten, in der die Gesellschaft dasGespräch führen kann. Die Eisenacher Synode im September 1989versuchte, den Weg dorthin zu weisen. Ich erinnere auch an den 9.November in der Friedrichstadtkirche, wo alle Parteien undGruppierungen sich vorzustellen versuchten – als erster Schritt hinzum Runden Tisch. Wir waren noch am Grübeln und Zweifeln, wie dasaufgenommen werden würde nach den vorherigen Reaktionen, auch im»Neuen Deutschland« (die grundsätzlich negativ waren – pri). Wir hofften, dass eine Form von Gesprächzustande kommt, von der wir damals nicht glaubten, dass sie historisch sein würde.

Als es dann begann, im Bonhoeffer-Haus (Tagungszentrum der Evangelischen Kirche in Ostberlin – pri), fand ich es als jemand, derzum Strukturieren neigt, ausgesprochen chaotisch. So war es wohlkein Zufall, dass ich nach einer oder anderthalb Stunde den Entwurfeiner Geschäftsordnung einbrachte, die bis auf eine Änderungangenommen wurde, wobei das eine sehr wesentliche Änderung war:Auch Minderheitsvoten sollten zulässig sein, akzeptiert undfestgehalten werden. Denn das Wesen der Kritik war ja, dass Minderheiten keine Stimme kriegten in diesem Land. Diese Geschäftsordnung hat bis zuletzt gehalten, und wir haben siefotokopiert, und sie ging auch an andere Runde Tische des Landes.

Wichtig war auch das erste Papier vom Selbstverständnis mit seinerSpannung vom Wissen um die nicht gegebene Legitimation und demBeanspruchen von Legitimation. Auch die andere Seite, dieRegierung, war ja ohne Legitimation. Es gibt aber auch eineLegitimation der Betroffenheit. Wenn ich mich von einem Zustandbetroffen fühle, habe ich das Recht, mich und meine Betroffenheit zu artikulieren.

Fürchteten Sie nicht, dass dieser damals unerhörte Vorgang nicht mehr zu kontrollieren sein würde?

Die Kirche stand tatsächlich vor der Frage, ob sie sich diesen Dialog an denHals ziehen solle, und da sahen wir uns mit Ziegler (Martin Ziegler war seit 1983 Oberkirchenrat in Berlin – pri) und Stolpe (Manfred Stolpe war seit 1982 Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg – pri) um, wie es in Ländern um uns herum gelungen ist. Einziges Beispiel war Polen, wo man den Runden Tisch für einen sanften Übergang der Gesellschaft gewählt hatte. Auch wir hatten nicht die Vorstellung, dass es imoffenen Kontra gehen könnte. Der Zement von 45 Jahren und dasWissen um 500 000 Sowjetsoldaten im Land gaben uns das Gefühl, dasswir uns da auf dünnes Eis wagten.

Was hat der Runde Tisch erreicht?

Erstens ist der Dialog in Gang gekommen.

Zweitens muss man die Fernwirkung des Runden Tisches bis in dieKommunen hinein nennen. Partizipation war wieder möglich geworden.Die Menschen hatten das Gefühl, sie können sich um ihre Dingeselber kümmern. Wir werden nicht bekümmert, sondern wir kümmernuns. Das Gefühl, aus den Objekten der Geschichte zu ihrenSubjekten zu werden. Vielleicht ist es heute schon wieder einStück des Frustes der Menschen, dass sie erneut das Gefühl haben, nur Objekte der Geschichte zu sein.

Drittens haben die Runden Tische dafür gesorgt, dass wir gesittetzu freien Wahlen gekommen sind. Ohne Hungern, ohne Frieren, ohneChaos, ohne Blut. das war ja alles nicht abwegig. Wenn dieBergarbeiter nur eine Woche nicht gearbeitet hätten, wären dieLichter ausgegangen in der DDR. Es war auch nicht sicher, ob dieArmee noch einmal einen Winter in die Braunkohle gehen würde.Zwischen Weihnachten und Neujahr 1989 mussten wir statt der üblichen 800 Interzonenzüge 3500 Züge auf die Schiene bringen.Dafür musste der gesamte Gütertransport durch die Armee geleistetwerden.

Die Kommunalwahlen 1989 hatten zu einer großen Legitimationskrise auch der örtlichem Räte geführt. Die Vorsitzenden der Räte der Kreise waren weggejagt worden oder gingen von sich aus. Weit über die Hälfte aller Städte und Kreise war ohne Verantwortliche, und das war in der Struktur, wie sie die DDR hatte, gefährlicher noch als anderswo. In einer Marktwirtschaft funktioniert die Versorgung allein, aber in der DDR erforderte sie staatliche, planerische Maßnahmen. Dass das einigermaßen funktionierte, darin liegt eigentlich das wesentliche Verdienst der Runden Tische. Was die Qualität der Beschlüsse angeht, da wird man manches nachsichtig und freundlich beurteilen müssen. Z.B. wie damals Eigentumsverhältnisse verändert wurden, ohne auch nur einmal ins Grundbuch zu sehen.

Schließlich hat der Runde Tisch durch die ständige Fernsehübertragung auch deutlich gemacht, dass es unterschiedliche Positionen über das »Wie weiter?« gibt und damit den Blick für Pluralität geschärft. Wir waren ja die Einheitsgesellschaft gewohnt, aber was sollten freie Wahlen, wenn die Bürger nicht wussten, woraus sie auswählen sollen.

Gerade diese letzte Wirkung verbrauchte sich aber rasch. Warum?

Da hatte ich ein Schlüsselerlebnis beim Taxifahren. Als der Runde Tisch begann, hatte ein Taxifahrer die ganze Zeit die Übertragung an und hörte gespannt zu. Wochen später hatte der gleiche Taxifahrer AFN an, und als ich ihn nach dem Runden Tisch fragte, sagte er nur: Auch Quatsch, die Quasselbude kann ich nicht mehr hören.

Das lag wohl daran, dass sich der Runde Tisch zunehmend mehr mit intellektuellen Problemen befasste, von denen die Menschen den Eindruck hatten: Das sind nicht unsere Tagesprobleme. Dem Bürger war es nicht so wichtig, wie die künftige Verfassung aussieht. Zwar ist die Verfassung eines Gemeinwesens schlecht, wenn sie nicht verfasst ist, aber die Leute interessierten ganz andere Dinge: Wie geht es wirtschaftlich weiter? Wie werden wir den Zustand ändern, dass wir mit Begrüßungsgeld (nach der Grenzöffnung wurden jedem DDR-Bürger 100 DM Begrüßungsgeld ausgezahlt – pri) als Almosenempfänger durch die Landschaft fahren statt mit eigenem Geld, das wir selbst verdient haben.

Der Runder Tisch hob ab …?

Die an den Runden Tisch kamen, stellten eine gewisse intellektuelle Schicht dar, die bisher nicht zu Wort gekommen war. Diese Spannung gibt es auch in anderen Gesellschaften: Wie weit befindet sich eine intellektuelle Elite noch in Übereinstimmung mit der allgemeinen Volksmeinung. Die intellektuelle Elite neigt sehr schnell und sehr leicht dazu zu sagen: Der tumbe Tor, für den müssen wir vordenken. Und der sagt dann irgendwann, ich lasse mir nicht ständig vordenken. das kann ich auch alleine. Bei vielen kam es schon nach dem Sturm auf die Normannenstraße (hier befand sich die Stasi-Zentrale, die am 15. Januar 1990 besetzt wurde – pri) zu solch einer Haltung: Nun lasst doch mal gut sein, das war es denn auch. Nun wollen wir uns mal wieder den Tagesaufgaben widmen.

Außerdem wurde Mitte Januar der Termin der Volkskammerwahlen vom 6. Mai 1990 auf den 18. März vorverlegt. Den Vorschlag machte auch für mich überraschend Modrow. Ullmann (Wolfgang Ullmann war Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung »Demokratie Jetzt« und ihr Vertreter am Runden Tisch – pri) vermutete sogar etwas Handstreichartiges zwischen Modrow und de Maizière und wer weiß wem noch. Richtig war aber die Erkenntnis, dass diese Regierung bis zum 6. Mai nicht stabil bleiben würde. Deshalb auch die Forderung, die Oppositionsgruppen mit in die Regierung zu nehmen und damit in die Verantwortung. Das war auch meine Haltung, weil sich am Runden Tisch eine Konfrontation der neuen Gruppen gegen die Altparteien herausgebildet hatte.

Ich sah nicht ein, dass wir die Kärrnerarbeit machen, das Tagesgeschäft des Staates am Leben zu erhalten und uns dafür noch beschimpfen zu lassen. Entweder wir gehen alle mit rein, oder wir gehen auch raus aus dieser Koalition. Hinter diesen Begriff sind zwar Fragezeichen zu setzen, aber immerhin war es eine ausgehandelte Konstellation unter der Voraussetzung, dass der Führungsanspruch der SED gestrichen war. Ich habe mich dann mit Gerlach (Vorsitzender der DDR-Blockpartei LDPD und 1989/90 Vorsitzender des Staatsrates der DDR – pri) unterhalten, und wir fanden, dass wir mehr in die Verantwortung rein müssen. Wir wussten, wenn wir und die Liberalen aus der Regierung rausgehen und Modrow mit seinem SED-Restkabinett übrigbleibt, dann besteht das nicht mehr lange. Aber wir wollten auch nicht die Prügelknaben sein.

Zu diesem Zeitpunkt hatte auch schon der Wahlkampf begonnen und damit waren auch Prozesse, die vorher möglich waren, nicht mehr möglich. Wir hatten vorher Beschlüsse gefasst, wo Mehrheiten über die Oppositions- und Regierungsgrenzen hinweg gefunden wurden. Danach gab es eigentlich nur noch die Entscheidung: Entweder setzt sich die Koalition oder die Opposition durch. Dieser Zustand wurde erst nach der Volkskammerwahl wieder teilweise aufgebrochen.

Tatsächlich war erstaunlich, in wievielen Fragen diese unterschiedlichen Leute am Runden Tisch einige Wochen lang immer wieder Übereinstimmung herstellten. . .

Die Runden Tische hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den Synoden der Kirche – bis hinein in Körpersprache und Gestik. Und Synode heißt ja ursprünglich: der gemeinsame Weg. Am Ziel des Glaubens und des Glaubensgehorsams halten wir alle gleichermaßen fest. Wir streiten nur um den Weg, nicht um das Ziel. Ein bisschen ist davon in den Geist der Runden Tische eingeflossen. Wir stritten nicht so sehr um das Ziel einer freieren, pluralistischen, gerechteren Gesellschaft, sondern darum, wie kommen wir dahin. Der Weg war eigentlich schon das Ziel – wie beim Bergsteigen. Das zweite ist, dass die Runden Tische tatsächlich Möglichkeiten boten, Mehrheiten aus den merkwürdigsten Konstellationen heraus zu finden. Die Sachzwänge, die Probleme aufgrund der Defizite waren so sinnfällig, so auffällig, dass man auf die Notwendigkeiten sofort gestoßen ist.

Dennoch gibt es nur wenige, die an den Sinn eines solchen Runden Tisches in der heutigen Zeit glauben. Fast alle ziehen ihm die bewährten Formen des Parlamentarismus vor. Warum eigentlich?

Das ist die Frage, die letztlich hinter der verfassungsrechtlichen Dauerdiskussion über plebiszitäre Elemente steht. Je tiefer im Gemeinwesen die Ebene, desto tiefer sollten plebiszitäre Elemente sein, je höher, desto weniger machen sie Sinn. Es gibt ja richtigerweise das Staatsaufbauprinzip der Subsidiarität. Man sollte die Dinge dort entscheiden, wo die größte Sachkompetenz ist. Ich halte plebiszitäre Elemente in einer bundesstaatlichen Ordnung für sehr problematisch, wenn nicht gar für fehlerhaft. Volksbegehren eher ja, Volksentscheid eher nein. Beim Volksentscheid bestimmt das Ergebnis oft der Fragesteller. Volksentscheide haben Ja-Nein-Fragen. Die Probleme sind oft zu komplex und zu groß, als dass sie einfach mit Ja oder Nein beantwortbar wären. Und wenn sich das Ergebnis eines Volksentscheids als fehlerhaft herausstellt, muss der Wähler dann erneut an die Urnen? Oder kann ein Parlament, das eine geringere Legitimation als der Volksentscheid hat, das aufheben? Die Demokratie ist ja immer auch eine Stimmungsdemokratie. Was wäre da z.B. beim Asylrecht herausgekommen?

Es gibt jetzt nach fünf Jahren Versuche, die Runden Tische in gewisser Weise wiederzubeleben. Stichworte: Sachsen-Anhalts rot-grüne Minderheitsregierung, Brandenburger Toleranz. Entwickelt sich da nicht doch eine neue politische Kultur?

Das ist ein Stück Nostalgie. Das Herbstgefühl hatte ja etwas unglaublich Befreiendes: Ich kann es noch einmal packen, mein Leben selbst ordnen. Ich kann meine Kinder noch einmal zueiner Meinung erziehen. Bei Höppner (Sachsen-Anhalts Ministerpräsident der SPD-geführten Minderheitsregierung – pri) ist es wohl so, dass er angesichts unklarer Mehrheitsverhältnisse nach Instrumentarien sucht, um dieses labile Gleichgewicht zu stabilisieren. Man muss sehen, wie lange das trägt. Ich glaube nicht, dass er über die gesamte Legislaturperiode kommt.

Warum werden parlamentarische Mehrheiten eigentlich für legitimer gehalten als die ständige Mitsprache des Bürgers, obwohl der Wähler, der Souverän, nur einmal in vier Jahren über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden kann?

Das ist eine uralte Frage, die Churchill einmal so beantwortet hatte: Die Demokratie ist eine furchtbare Regierungsform, aber ich kenne keine bessere. Sie beruht eben darauf, dass Mehrheiten entscheiden. Demokratie heißt Verleihung von Macht auf Zeit. DieseMacht sollte genutzt und nicht schon am Tag nach der Wahl wieder begonnen werden, auf die Mehrheit bei der nächsten Wahl zu schielen.Dadurch würden Probleme, die einer praktischen Entscheidung bedürfen, mit einem Minikompromiss nur scheinbar gelöst, mit demErgebnis, dass sie im nächsten Jahr wieder auf der Tagesordnung stehen. Ich wüsste nicht, wie das bei einem 80-Millionen-Volk funktionieren sollte. Vielleicht sollten wir darauf vertrauen, dass der Abgeordnete in seinem Wahlkreis hört, was der Wähler will und dann von seiner  Unabhängigkeit Gebrauch macht.

Tut er das, oder ist er nicht viel zu sehr von der Parteihierarchie, den Lobbys abhängig?

Diese Frage ist so alt wie die parlamentarischeDemokratie selbst. Auch Politikverdrossenheit ist kein neues
Phänomen, hat früher vielleicht bloß andere Namen gehabt. Es istdies immer die Spannung zwischen Pluralität und Meinungsbildung.Man kann ein Parlament haben mit vielen Parteien oder einePräsidialdemokratie und viele andere Varianten. Aber am Ende müssenWege gefunden werden, um Entscheidungen zu treffen. Wenn man vorlauter Minderheitenvoten kein Mehrheitsvotum zustande bringt, wirdnichts entschieden.

Befürworter Runder Tische sagen, dass die Suche nach Mehrheiten dazu zwingt, stärker auf die Argumente der Bürger einzugehen, und dass es dadurch zu Entscheidungen kommt, die sachgerechter sind, vom Bürger eher angenommen werden, auch wenn das schwieriger ist.

Für solche Modelle treten in der Regel jene ein, die sichin einer Minderheitenposition befinden. In der Mehrheit redet mananders. Politische Tätigkeit wäre dann immer nur auf das kleinstegemeinsame Vielfache gerichtet. Dann käme noch mehr hilfloser Pragmatismus heraus. Die wirklichen Themen würden nicht mit dernotwendigen Entschlossenheit angegangen. Denken Sie nur an dasProblem der inneren Sicherheit. Dort würde man beiBerücksichtigung der verschiedenen Stammtische nie zu einer Lösung kommen.

Wären da Minderheiten nicht besonders wichtig, um Schlimmes zu verhüten?

Das würde ich für einen Polizeistaat so sehen, und sichermuss man angesichts des Missbehagens in der Bevölkerung überpolitische Entscheidungen auch bei uns darüber nachdenken. Ichglaube aber nicht, dass die stärkere Berücksichtigung vomMinderheitenvoten die Lösung sein kann. Viel mehr wird die Fragesein, wie finden wir einen breiten Konsens bei bestimmten Fragenin der Bevölkerung? Dazu gehört eine bessere Wechselwirkung vonPolitik, Wissenschaft, Kultur, Medien usw. Politik ist sicher zupragmatisch, aber andere, die hier auch gefordert wären, schweigen. Alternativen werden zu wenig angeboten.

Die Regierung scheint daran aber auch nicht sehr interessiert.

Ich höre aber auch kaum etwas Entsprechendes, wobei ich einräume, dassdas vielleicht ein ganz normaler Prozess ist. Denn ein Blick in dieGeschichte lehrt, dass es nach großen Brüchen immer eine Weiledauerte, ehe eine geistige Reflexion erfolgte. Vielleicht brauchtein großer Bruch die Atomisierung der Bausteine, ehe etwas Neuesgedacht und geschaffen werden kann. Der Aufbau eines neuen geistigen Gebäudes braucht mehr als fünf Jahre.

Wir sollten also Geduld haben …

Die Geschichte denkt nicht in Jahren, nicht einmal in Generationen. Tausend Jahre sind da wie ein Tag.

Und Schuld währt ebenso lange? Einen Schlussstrich kann es nicht geben?

Es gibt keine schuldigen Strukturen, sondern es gibtStrukturen, die in Schuld führen. Daher muss uns interessieren, wie wir künftig Strukturen verhindern, die in Schuld führen. Die Geschichte sollte man den Historikern überlassen. Das ist ihrBeruf und nicht Aufgabe der Juristen. Historiker haben die Aufgabe,von einer Summe von Einzeltendenzen zu abstrahieren und einebestimmte Tendenz erkennbar werden zu lassen. Und wenn wir uns fürdiese Strukturen interessieren, dann müssen wir die fragen können, die dieseStrukturen mit Leben erfüllt haben. Wenn wir aber deren ehrlicheAntwort unsererseits mit einem Ermittlungsverfahren beantworten,machen sie von ihrem uralten Recht der Aussageverweigerung Gebrauch.

(Teilweise veröffentlicht in »Neues Deutschland« vom 21. Januar 1995)