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Angela Merkel und die Flüchtlinge

(pri) Dass sie den Kontakt zur Wirklichkeit verloren habe, kann man Angela Merkel gewiss nicht vorwerfen, dass sie aber aus den Realitäten kaum einmal rechtzeitig Konsequenzen zieht, schon. Zwar ist es beruhigend, wenn die Kanzlerin im offensichtlichen Notfall schnell und entschlossen handeln kann; noch beruhigender aber wäre, wenn sie damit nicht wartete, bis das Kind schon fast in den Brunnen gefallen ist. Bereits 2011, als die Nuklearkatastrophe von Fukushima ausbrach, demonstrierte sie die eine Tugend wie das andere Manko; jetzt wiederholte sich der Vorgang angesichts der dramatischen Entwicklung des Flüchtlingsgeschehens in Richtung Europa.

Die von ihren medialen Hofberichtersftattern zu besonders cleverer, gar ausgebuffter Regierungsmethodik hochstilisierte Praxis [1] des Abwartens und Zauderns, des Unbestimmten und letztlich Reagierens auf Stimmungen und demoskopische Trends hat immer wieder ihre begrenzte Tauglichkeit bewiesen; in den beiden genannten Fällen Atomkatastrophe und Flüchtlingsgeschehen war und ist sie ausgesprochen schädlich, weil sie lange absehbare Probleme ignorierte und die Lösungsmöglichkeiten dadurch verkomplizierte und verteuerte.

Es sind in der Regel keine sachlichen, sondern ideologische Gründe, die die Bundesregierung daran hindern, rechtzeitig und nachhaltig die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Vor vier Jahren war es der in der damaligen schwarz-gelben Koalition verbreitete Glaube an die Unfehlbarkeit der Atomkraft in technisch hochentwickelten Ländern und der Druck der Nuklearindustrie, die das Risiko ignorieren ließen – mit der Folge eines überstürzten und unvorbereiteten Atomausstiegs, der noch auf lange Zeit Probleme bereiten und vor allem viel Geld kosten wird.

Noch dramatischer könnte sich die Situation durch die Flüchtlinge entwickeln. Hier begann die verfehlte Politik bereits bei der von Deutschland wesentlich betriebenen Durchsetzung des Dublin-III-Abkommens [2], mit dem man glaubte, das Migrationsproblem auf die EU-Außengrenzen und damit auf die Randstaaten abzuschieben. Das Ergebnis war die gefährliche Flucht über das Mittelmeer mit inzwischen Tausenden Ertrunkenen, die die Menschen nicht mehr akzeptieren wollten und die Politik zu einer Umkehr zwangen, die jedoch immer noch halbherzig blieb
und zu einer Überlastung vor allem Griechenlands und Italiens führte.

Doch die Flüchtlinge ließen sich nicht aufhalten und fanden entgegen den Erwartungen der EU-Zentralstaaten den Weg in die Mitte Europas. Wieder eskalierte die Lage, nicht zuletzt wegen des Beharrens auf den unsolidarischen Dublin-III-Regelungen, das zum Beispiel Ungarn die Handhabe für sein drakonisches Vorgehen gegen die Flüchtlinge gab, das die Notsituation, die nun zu schnellem Handeln führte [3], erst auslöste. Insofern trägt auch die Bundesregierung daran eine gehörige Mitschuld, und es ist unredlich, die Hände in Unschuld zu waschen.

Wie ernst Angela Merkel und ihre Minister die plötzliche Zuwendung zu den Flüchtlingen tatsächlich meinen,wird sich erst an der weiteren Entwicklung erweisen. Die CSU hat jedenfalls bereits unverhohlen ihren Unmut erklärt [4], wird doch durch die Aufnahme der Flüchtlinge ihre bisherige Abschottungspolitik grundsätzlich in Frage gestellt. Auch der unveränderte Verweis auf Dublin-III verheißt nichts Gutes, denn er beseitigt die Ursachen, die zur gegenwärtigen Situation führten, nicht, sondern produziert sie immer neu. Angela Merkel hat zwar aktuell auf unhaltbare Tatsachen reagiert; von einer wirklichen Änderung ihrer Politik gegenüber Flüchtlingen, Flucht und Fluchtursachen ist sie aber noch weit entfernt.