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Griechenland oder die troikanische Religion

Die Tag- und Nachtscharmützel um die Zukunft Griechenlands haben uns immer wieder in Atem gehalten. Spätere Historiker werden sich die Augen reiben, wenn sie an Griechenland in der ersten Hälfte des Jahres 2015 denken: Der unerbittliche Streit um Schulden und Kredite, Vorgaben und Abgaben eines souveränen Staates – was war das?

Von Jens Grandt

Der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron [1] sprach von »einer Art Religionskrieg«. Er meinte damit nicht die dumme Gegenüberstellung von protestantischer Ethik und Arbeitsdisziplin, die zu Effizienz führe, mit der katholisch geprägten, vermeintlichen Genusssucht im Süden, die einer weltfernen »Welt« die Bemerkung eingab: »Katholiken können halt nicht rechnen.« Nach dieser Floskel müsste Bayern wie Griechenland bankrott sein. Macron meinte das Aufeinanderprallen zweier ökonomischer Konzepte: des starren Konzepts der neoliberalen Sparpolitik und eines libertären Konzepts, das eher realen Bedingungen und dem Gemeinwohl entspricht.

 
Max Webers Geist des Kapitalismus aus protestantischer Ethik tut hier nichts zur Sache. Dennoch bleibt die Frage, ob die griechische Misere, insbesondere die Strategie der »Institutionen« eine (säkular-)religiöse Grundierung hat. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg [2] konstatierte eine »Sakralisierung der deutschen Europapolitik«. Und der britische Autor David Marsh hat die deutschen Währungshüter als »Evangelisten der Hochfinanz« bezeichnet. Was ist dran an diesen Vorwürfen?

 
Über die Vergötterung des Geldes braucht in diesem Zusammenhang nichts mehr geschrieben zu werden. Darüber gibt es laufende Meter Literatur, von der Bibel bis zu Thomas Pickety. In Erinnerung geblieben ist die beispiellos harte Verhandlungsführung der »Troika«, noch befeuert durch Wolfgang Schäubles Drohung mit dem Grexit. Dabei wird oft vergessen, dass die hohen Schulden Athens nicht von der Tsipras-Regierung verursacht wurden, sondern von deren Vorgängern, und dass die erzwungenen Sparauflagen das Defizit nur noch ansteigen ließen – was etliche nicht dem Mainstream folgende Ökonomen prägnant vorausgesagt haben.

 
Aus dem Hin und Her der Verhandlungsangebote, Ablehnungen, Wiedervorlagen bleibt zu bilanzieren: Die griechische Regierung ist Schritt für Schritt der Eurogruppe entgegengekommen, während ihre Kontrahenten keinen Deut von den alten Positionen abgewichen sind. Man muss sich fragen, ob dieses eitle Beharren auf einem einmal eingenommenen Standpunkt wirklich Politik ist. Von der man sagt, sie habe nach Möglichkeiten des Einvernehmens zu suchen. EU-Währungskommissar Pierre Moscovici, der deutsche Finanzminister Schäuble und die Kanzlerin behaupteten im Februar 2015 gleichlautend und immer wieder: Es gibt »keine Alternative zur Verlängerung des Programms«, und zwar in der von abgewählten Regierungen vereinbarten Fassung. Nicht nur, dass sich darin die Hilflosigkeit der Politik ausdrückt, die Gralshüter des Euro maßen sich die Pose der Unfehlbarkeit an: Das allerdings ist eine Grundkonstante von Religion: im Besitz der alleingültigen Wahrheit zu sein. Darin sind sich die Institutionen konsequent geblieben, konsequent wie die Glaubenskongregation in Rom.

 
Die neoliberalen Eliten beharren auf der bisherigen Austeritätspolitik. Das legt nun doch eine gewisse Nähe zur »puritanischen Religiosität« nahe, wie sie Max Weber beschrieben hat. Immerhin stammt unsere Kanzlerin aus einer protestantischen Pfarrersfamilie. Härte, strenges Haushalten (die »Schwarze Null«), Vorteilsgier hatten im Protestantismus kapitalbildende Tradition. Insofern ist die von Merkel und der Krisen-Troika erzwungene »Reform«-Politik mit dem Wort Austerität völlig richtig benannt; »austérté« bezeichnete im ausgehenden Mittelalter die Askese im religiösen Kontext. Erklärt sich die Unerbittlichkeit der Haushaltspolitik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble vielleicht aus einem spirituellen Trieb?

 
Das Problem ist nicht die Sparsamkeit an sich, sondern dass sie zum Dogma erhoben und bedingungslos anderen Nationen aufgezwungen werden soll. »Dieser liberale Dogmatismus spielt mit den Völkern«, so der französische Abgeordnete François Khalfon [3] (PS). Wir wissen, welche Bedeutung Dogmatik in den Religionen hat; sie ist ein Lehrfach der Theologie. Kanonische Sprachfetzen werden »gebetsmühlenartig« wiederholt. Damit sie fruchten, bedarf es jedoch einer populistischen Ideologie, und Ideologie ist, wie Eric Voegelin am Beispiel des Nationalsozialismus nachgewiesen hat, das Einfallstor säkularer Religionen. Diesen Part übernehmen die Medien.

 
Heiner Flassbeck [4] hat auf die Ideologielastigkeit der Griechenland-Debatte hingewiesen, auf die »Verbannung von Erkenntnissen«. Sie geschieht genau so, wie es der Historiker Hans-Ulrich Wehle [5]r dargestellt hat: durch die Ausgrenzung von »Out-Groups analog der Scheidung der Christen von den Heiden«. Im neoliberalen Kontext ist die linke SYRIZA-geführte Regierung eine »Out-Group«. Deshalb wurde sie unbarmherzig diskreditiert. Deshalb wollte Schäuble sie zur Kapitulation zwingen. Deshalb musste der Heide Yanis Varoufakis gehen.

 
Solche Wesenszüge des Religiösen – letztgültige Wahrheit, Dogmatisierung, Ausgrenzung, ideologische Verbrämung – haben ausgereicht, den sog. Marxismus-Leninismus als Staatskirche zu bezeichnen. Aber all diese Elemente finden sich auch in der heutzutage dominierenden ökonomischen Theorie und ihrer politischen Umsetzung. Sie leiten sich – wieder symptomatisch – von einem absoluten Gedanken ab. In den monolithischen Religionen ist es Gott. In der Republik glorreichen Fahnenschwenkens war es der fatale Gedanke der Unbesiegbarkeit des real existierenden Sozialismus. Der Neoliberalismus hat Konkreteres zu bieten. In der Griechenlandkrise offenbarte sich dieser nicht mehr zu hinterfragende, letzte Gedanke in der Allmacht und Unantastbarkeit des Finanzmarktes. Halten wir uns vor Augen: Alle bisherigen Milliardenkredite gingen nicht nach Athen, sondern dienten dazu, privaten Banken und sonstigen Anlegern griechische Anleihen abzukaufen.

 
Die Reihe der Entsprechungen ließe sich fortsetzen. Die Missachtung demokratischer Willensbekundung, wie sie sich in der Reaktion auf das Referendum gezeigt hat, ist in der Papstkirche gang und gäbe. Und pocht nicht jeder Mönchsorden auf die Regelhaftigkeit der »Regeln«? Die Lehre ist sakrosankt, trotzdem werden Legenden (die Mär vom faulen Griechen) und Verschwörungstheorien verbreitet (Tsipras habe das Ziel, die Drachme einzuführen, »Tagesspiegel«; Varoufakis wolle Regierungschef werden, »Bild«). Selbst eine unbefleckte Empfängnis muss herhalten, wenn es gilt, ein Diktat als Kompromiss in die Wiege des Volkes zu legen. Dass die Gläubiger davon abgerückt sind, einen Haushaltsüberschuss von drei Prozent für 2016 zu diktieren und nur noch 0,5 Prozent erwarten, geschah nicht, weil sie Athen entgegenkommen wollten; diese Forderung war schlicht irrelevant. Die Logik war auch in diesem Fall auf Tsipras‘ und Varoufakis‘ Seite.

 
Aber um Logik geht es nicht bei Pächtern der absoluten Wahrheit, sondern um einen Wirtschaftsglauben säkular-religiöser Konstanz, der mit Wirklichkeitsverlust verbunden ist und der »besonders bei denjenigen, die davon profitieren« Hoffnungen weckt, wie Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz sagte. Hoffnungen, den Status quo zu erhalten.

 

(Veröffentlicht in: »Neues Deutschland« vom 17. 08. 2015, unter der Überschrift »Evangelisten der Hochfinanz«)