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Flüchtlinge: Vorbei mit der Freundlichkeit

(pri) Die Szene erinnerte an eine ganz ähnliche im August 1991 in Moskau. Da hatte der noch amtierende Staatschef Gorbatschow gerade eine Rede gehalten, als Jelzin, der starke Mann nach dem von ihm niedergeschlagenen Putschversuch gegen den Perestroika-Erfinder, ans Rednerpult trat und Gorbatschow vor laufenden Kameras die Leviten las. Dieser stand da und musste die Philippika über sich ergeben lassen, »als ob ein Lehrer seiner Schülerin vor der Klasse mitteilt: Setzen, Sechs«. Diese Bewertung stammt nicht aus dem Jahr 1991, sondern ist Tenor der Berichterstattung über Horst Seehofers Umgang mit der Bundeskanzlerin auf dem CSU-Parteitag dieses Wochenende. Da stand Angela Merkel wie die arme Sünderin vor dem – zumindest im Bayernland – starken Mann [1] und musste sich von ihm abkanzeln lassen.

Der CSU-Vorsitzende eröffnete damit eine neue Runde im Machtkampf in der Union, für den es einen Plan wohl nicht gegeben hat, aber wo man sich die plötzliche Gelegenheit nicht entgehen lassen will, Angela Merkels unübersehbare Schwäche bei der Bewältigung des zwar von ihr nicht ausgelösten, jedoch dann zur Krise beförderten Flüchtlingsproblems zu nutzen, schon lange in den Unionsparteien aufgestauten Unmut zur Revolte eskalieren zu lassen.

Seehofer selbst hatte damit schon vor Wochen begonnen [2], zunächst noch unbestimmt und sorgsam darum bemüht, die Kanzlerin nicht persönlich anzugreifen. Zugleich aber stellte er Forderungen auf, die sich direkt an die Regierungschefin richteten und mit ihrem platten Populismus schnell Unterstützer nicht nur in der CSU, sondern auch in der CDU und einem Teil der Bevölkerung fanden. Denn dort hatte eine starke Minderheit schon lange mit Sorge gesehen, dass Merkel die konservativen Grundwerte der Union mit nonchalanter Gleichgültigkeit behandelte und die eine oder die andere bisher heilige Position opferte, wenn sie dem Erfolg der eigenen Politik im Wege stand. Sie warnten vor eine »Sozialdemokratisierung«, schwiegen jedoch weitgehend, solange die C-Parteiren daraus bei Wahlen oder in Umfragen Nutzen ziehen konnten.

So blieb auch Seehofer vorerst ziemlich allein in seiner Kritik, aber mit der – teils tatsächlichen, teils herbeigeredeten – Zuspitzung des Flüchtlingsproblems und dem folgenden Sinkflug der Union in den Umfragen änderte sich das rasch. Erst trat Innenminister Thomas de Maizière, der durch die Einsetzung des Kanzleramtsministers Peter Altmaier als Flüchtlingskoordinator gerade düpiert worden war, aus dem Glied und machte fortan eine Flüchtlingspolitik auf eigene Faust [3] und ohne Konsultation mit der Regierungschefin. Seine überraschende Entscheidung, die gerade von der großen Koalition beschlossene zeitliche Begrenzung des Bleiberechts samt Aussetzung des Familiennachzugs auch auf die bisher privilegierte Gruppe der Syrien-Flüchtlinge anzuwenden, versuchte zwar Altmaier zu kassieren, heizte damit die Auseinandersetzungen aber nur weiter an.

Denn nun meldete sich mit Wolfgang Schäuble ein ausgesprochenes Schwergewicht in Merkels Kabinett und sprang de Maizière bei. Wie schon bei der Griechenland-Krise ging der Finanzmister auf Distanz zu seiner Chefin. Diese reagierte wie sie schon auf den CSU-Vorsitzenden geantwortet hatte: Sie gab nach. Die Beschlüsse, die die Bundesregierung seit Zunahme der Flüchtlingsbewegungen fasste, liefen fast alle weniger auf das vielzitierte »Willkommen« als auf einen Abwehrreflex hinaus. Leistungen, auch bezüglich des Spracherwerbs, werden eingeschränkt, der Aufenthalt reglementiert, Abschiebungen erleichtert und beschleunigt, Familiennachzüge ausgesetzt.

Die Nachsicht gegenüber Seehofers Attacken und das Zurückweichen vor de Maizière zeigte den Frondeuren, wie wenig sicher sich die Kanzlerin bei ihrer Entscheidung zu den Flüchtlingen war. Sie hatte sie weder konzeptionell vorbereitet noch konnte sie sich dann dazu entschließen, die gescheiterte Abschottungspolitik durch mutige Maßnahmen einer schnellen und wirksamen Integration zu ersetzen. Stattdessen schaltete sie den Rückwärtsgang ein, gab de Maizière im nachhinein recht, was diesen zum nächsten Alleingang veranlasste – und Schäuble zu seinem Bild vom »leichtsinnigen Skifahrer«, der eine Lawine ausgelöst habe [4], die vielleicht noch gar nicht im Tal angekommen sei und ihre zerstörerische Kraft noch weiter entfalten könne.

Diese renitente Unbotmäßigkeit des Innenministers und die süffisante Häme Schäubles sind wohl allein mit sachlichen Meinungsverschiedenheiten und der Sorge um das konservative Profil der Union nicht zu erklären. Offensichtlich haben beide angesichts unerfüllter Karrierehoffnungen eine Rechnung mit der Kanzlerin offen; vielleicht sehen sie sogar die Chance, über ihre Schwächung doch noch zum Zuge zu kommen.

Merkel jedenfalls ist weiter in der Defensive. Um nicht zugeben zu müssen, dass sie in der Flüchtlingsfrage die Richtlinienkompetenz verloren hat, tut sie so, als sei sie die Initiatorin des Kurswechsels. In ihrem kürzlichen Interview im ZDF [5] sprach sie davon, man habe »zum Teil nachsteuern« müssen, was aber auf ihre Initiative erfolge, denn: »Die Ressortzuständigkeit bewegt sich immer innerhalb der Richtlinienkompetenz.« Damit lädt sie ihre Widersacher ein, neue Pflöcke einzuschlagen und schwächt sich auf diese Weise weiter. Die Quittung erhielt sie umgehend in München, wo sie – nach deutlichem Verweis auf die Anschläge von Paris durch den bayerischen Finanzminister Söder – genötigt werden sollte, eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen festzulegen, um danach von ihr fordern zu können, ein wirksames Grenzregime aufzubauen, das am Ende auf eine Praxis hinauslaufen müsste, wie es aus der DDR bekannt war.

Diesem Ansinnen widerstand sie, die aus ihrer eigenen Lebensgeschichte weiß, was ein »wirksames Grenzregime« bedeutet. Doch ansonsten gibt sie neuen Forderungen aus dem rechtskonservativen und sicherheitsbesessenen Lager immer wieder nach, wie die geplante drastische Verschärfung des Asylrechts zeigt, die derzeit in der Koalition verhandelt wird. Es schränkt die Rechte von Asylbewerbern weiter ein, ist nach dem Urteil von Pro Asyl [6] ein »Frontalangriff auf das individuelle Asylrecht«. Und auch die Obergrenze steht weiter auf der Agenda der Merkel-Gegner. De Maizière gab ihr jetzt den Namen »Kontingent« [7] und definierte diesen ganz im Sinne der CSU.

Mit ihrem Kurs der Nachgiebigkeit bekennt sich Angela Merkel ausdrücklich zur persönlichen Verantwortung auch für flüchtlingsfeindliche Maßnahmen, die im Widerspruch zu ihren Worten stehen. Sie konterkariert damit selbst ihr anfangs bereitwillig in die Kameras gehaltenes und auf Selfies verewigtes »freundliches Gesicht«, das sich so zunehmend zur abschreckenden Fratze verzerrt.

(Teilweise veröffentlicht in: »Neues Deutschland« vom 18.11.2015)