Sigmar Gabriels Scheu vor einem kühnen Befreiungsschlag

(pri) Wenn die SPD dieser Tage wieder einmal über ihre Strategie angesichts ständig sinkender Umfragewerte berät, bräuchte es einen Befreiungsschlag – zum Beispiel durch Nutzung der Bundestagsmehrheit links von CDU und CSU zu einem konstruktiven Misstrauensvotum, das Merkel stürzen könnte. Solch ein kühner Schritt ist aber nicht zu erwarten – und dennoch lässt das demografische Tief der SPD auch bei der CDU die Alarmglocken läuten .

Am 1. April hat Sigmar Gabriel keinen Brief an Oskar Lafontaine geschrieben, aber am 13. Mai haben sich beide überraschend im Saarland getroffen. War der Aprilscherz des Politblogs »Nachdenkseiten« den Medien ob seiner schreienden Unglaubwürdigkeit noch kaum eine Zeile wert, löste der einstündige Plausch des heutigen mit einem früheren SPD-Vorsitzenden bei einer Tasse Kaffee schon ein beträchtliches Rauschen im Blätterwald aus.

Dazwischen lag immerhin die »Gerechtigkeitskonferenz« der SPD, auf der weniger die von Gabriel lange nicht gehörten linken Weisheiten Aufsehen erregten – waren doch solche Bekundungen bei ihm kaum ernst zu nehmen -, als vielmehr der starke Beifall, den die Putzfrau und Neu-Sozialdemokratin Susanne Neumann für die forsche Abrechnung mit ihrem Vorsitzenden erhielt. Sie zählte das lange Sündenregister neoliberaler sozialdemokratischer Politik – von miserabel bezahlter Leiharbeit bis zur Rentenkürzung – auf und konterte Gabriels hilflose Ausflucht, mit der Union, mit den »Schwarzen« könne man das nicht ändern, mit einer Frage, die immer mehr Sozialdemokraten umtreibt: »Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?«

Dass eine solche Frage und der zustimmende Applaus, den die Bezirksvorsitzende der IG BAU dafür im Willy-Brandt-Haus bekam, auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Alarmglocken läuten lässt, ehe sie überhaupt ausgesprochen worden war, hatte schon einige Tage vorher jemand zu erkennen gegeben, der – neben vielen Gleichgesinnten – wie der Teufel das Weihwasser fürchtet, dass darauf die logische Antwort gegeben wird. In bester staatstragender Manier des von ihm mit herausgegebenen Nachrichtenmagazins »Focus« verbreitete Helmut Markwort die Räuberpistole vom unmittelbar bevorstehenden Rücktritt des SPD-Vorsitzenden und fügte gleich das erwünschte Personaltableau für die künftige Parteispitze hinzu, damit die Kanzlerkandidaten-Debatte bei der Sozialdemokratie in eine für das Establishment risikolose Richtung lenkend. Ob Olaf Scholz, der schon vor Jahren den Begriff des »demokratischen Sozialismus« aus dem Parteiprogramm streichen wollte, ob Martin Schulz, dessen bemühte kämpferische Terminologie immer wieder zu opportunistischem Kopfnicken verebbt – sie sind Garanten dafür, dass sich bei der SPD nichts ändert und sie selbst zu würdigen Nachfolgern eines Peer Steinbrück werden.

Zwar ist auch bei Sigmar Gabriel nichts anderes zu erwarten, doch zum einen stört dessen Unberechenbarkeit und zum anderen – mehr noch – sein Autoritätsverfall. Ob berechtigt oder nicht: In einer ebenfalls verunsicherten Union fürchtet man den Aufstand in der SPD von links und lässt sich nicht von dem Argument beruhigen, dass derzeit in der Partei keine Führungsfigur in Sicht ist, die der Stimmung an der Basis ein überzeugendes Gesicht zu geben vermag.

Zu dramatisch ist die aktuelle Situation der SPD. Ihre demografischen Werte dümpeln um die 20 Prozent. Die AfD nimmt ihr Wähler in Größenordnung ab, ebenso wie der Linkspartei, ohne die es für einen sozialdemokratischen Kanzler keine Mehrheit gibt. Der andere unverzichtbare Partner, die Grünen, ist gerade dabei, sich nach rechts umzuorientieren. Die SPD sieht nicht nur einer weiteren desaströsen Wahlniederlage entgegen, sondern erstmals in der Nachkriegsgeschichte steht ihre Existenz als gestaltende politische Kraft auf dem Spiel.

Zwar gäbe es einen Ausweg, nämlich die Besinnung auf die im Bundestag vorhandene Mehrheit links von CDU und CSU. Noch immer bringen dort SPD, LINKE und Grüne 320 Abgeordnete auf die Waage, zehn mehr als die Union. Ließen sich Gabriel und seine Partei auf ein deutlich linkes Regierungsprogramm ein, könnte der SPD-Chef über ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler werden und übers Jahr aussichtsreicher in den Wahlkampf ziehen als jemals in den letzten zehn Jahren. Doch mit einem solchen Befreiungsschlag ist nicht zu rechnen; Mittelstürmer Gabriel hat nicht nur Angst vorm Elfmeter, er lehnt es schlicht ab, mit einem solchen letzten Versuch das Steuer herumzureißen. Er scheut das Risiko, das freilich beträchtlich ist, denn seine Partei ist auch nicht mutiger als er.

Gabriel und die SPD verzichten damit auf unabsehbare Zeit auf eine Machtoption, während die Union zielstrebig dabei ist, sich gerade diese durch Öffnung zu den Grünen – wenn auch unter erheblichen Schmerzen – oder auch weiter nach rechts – weniger schmerzhaft – zu erarbeiten. Die SPD aber verharrt in der babylonischen Gefangenschaft von CDU und CSU, der so genannten Mitte also – vor allem aus den gleichen ideologischen Gründen, die Schröder zur Agenda 2010 motivierten und die bis heute bedingen, dass Angela Merkels CDU hinsichtlich sozialer Kompetenz auf Augenhöhe mit der SPD agieren kann – eben weil diese nur noch von 32 Prozent der Bürger als soziale Partei wahrgenommen wird.

Gabriel wertet das zutreffend als »Alarmsignal«, zieht aber keine Konsequenzen. Stattdessen versucht er Kritiker in seiner Partei zu beschwichtigen, indem er sich mit Lafontaine zum Kaffee trifft. Schon das aber macht die Union nervös. CDU-Generalsekretär Peter Tauber kommentierte konsterniert: »Ein komischer Beleg für den Weg der SPD in die politische Mitte.« Denn noch braucht die Union die SPD als Mehrheitsbeschaffer.

(Veröffentlicht in: »Neues Deutschland« vom 23.05.2016)