Die Fake-News-Legende

(pri) Falschmeldungen, Demagogie und Hetze wirken vor allem dort, wo es an solider Bildung fehlt. Sachgerechte Aufklärung und der gesunde Menschenverstand können hingegen helfen, der Lüge nicht auf den Leim zu gehen.

Die hiesigen Parteien, vor allem jene in Regierungsverantwortung, haben im Wahlkampf einen neuen, gefährlichen Gegner ausgemacht, der nicht etwa einer ihrer politischen Konkurrenten ist, sondern das geheimnisumwitterte Phänomen der Fake News. Angela Merkel habe vor ihnen mehr Angst als vor Martin Schulz, heißt es, und allenthalben trifft man in den Parteizentralen Vorkehrungen gegen die Beeinflussung des Wählers durch massenhafte Falschmeldungen aus dem Internet. Länder-Justizminister der Unionsparteien befürchten eine »Lawine von Desinformation« und ihr Kollege im Bund, Heiko Maas, rief nach Staatsanwalt und Gerichten: »Den rechtlichen Rahmen sollten wir konsequent ausschöpfen.« Im Bundesinnenministerium arbeitete man an Plänen für ein »Abwehrzentrum gegen Desinformation«.

Dabei sind »Fake News«, also Falschmeldungen, Lügen wahrlich kein neues Phänomen im politischen Meinungskampf. Sie waren und sind ein probates Mittel auf dem Wege zur Macht und bei deren Konservierung; sie standen sogar immer wieder am Anfang von Kriegen. Kein Wunder, dass sie auch für Wahlkämpfer unverzichtbar sind – und sei es nur durch die Verkürzung komplizierter Sachverhalte auf einfache Parolen, durch die Ersetzung von Argumenten durch Schlagworte. »Wir machen doch nur Fake News im Wahlkampf«, konstatierte denn auch Mark Seibert von der Agentur DiG/Plus und zeigte sich verwundert angesichts der plötzlichen Aufregung über ein uraltes Problem.

Verantwortlich für diesen neuen Alarmismus ist das Internet mit seinen sozialen Netzwerken, das die bisher nur professionellen Meinungsmachern zur Verfügung stehende Manipulationspraxis gewissermaßen vergesellschaftete. Jetzt kann jedermann jederzeit alles behaupten und dies eben auch massenhaft verbreiten. Was bisher gesteuert und in gewissem Sinne kontrolliert betrieben wurde, läuft heute aus dem Ruder und beunruhigt vor allem die einstigen Betreiber und Kontrolleure; sie haben ihr Monopol auf Manipulation verloren. Manche der Vorschläge zum Kampf gegen »Fake News« sehen so aus, als sollte es zurückgewonnen werden.

Tatsächlich aber ist der Kampf gegen Falschmeldungen, Demagogie und Hetze eine grundsätzliche Aufgabe, die sich nicht auf die Auswüchse des Internet reduzieren lässt. Sie schließt ein, an den Ursachen für die Wirkung der Falsifikationen anzusetzen, um die Menschen dagegen immun zu machen. Und diese Ursachen werden oft von den Herrschenden, von Politikern, Meinungsmachern gesetzt. Ganz aktuell gerade in den USA, wo Donald Trump das gesamte Arsenal des Demagogen und bewussten Lügners einsetzte, um Präsident zu werden – und das schaffte, weil allzu viele US-Amerikaner durch parteiliche und aggressiv auftretende Medien dazu gebracht wurden, eingängigen Parolen und einfachen Botschaften zu glauben statt ihre Stichhaltigkeit zu hinterfragen. Trump »wusste einfach, dass er und seine Kaste das Land genug heruntergedummt haben«, diagnostizierte sarkastisch der Oscar-preisgekrönte US-Dokumentarfilmer Michael Moore.

Auch die Wirkung von Falschinformationen hierzulande geht nicht selten auf Unwissenheit zurück – und auf die damit verbundene Interpretation von Fakten und Bildern entsprechend dem mitgelieferten verleumderischen, hetzerischen Kontext. Prototypisch dafür war im Vorjahr jenes Foto einer Gruppe eritreischer Flüchtlinge, die an der Wand einer Münchener Kirche beteten, weil das ihrer Tradition entspricht. Bei Facebook jedoch erschien dieses Foto, vom NPD-Politiker Udo Voigt mit dem Text versehen: »Kirche in München, sechs Neubürger urinieren an das christliche Gotteshaus. Teilen das auch der letzte Gutmensch diese Sauerei mitbekommt.« 13000mal geschah das, und Voigt verteidigte seine Lüge auch noch: »Natürlich ist das Stimmungsmache …, aber für mich war das klar, dass das möglich ist … Ich habe das als ein wundervolles Beispiel gesehen.«

Er setzte damit zugleich auf einen weiteren Faktor neben der Unwissenheit und resultierend aus ihr, der die Wirkung von »Fake News« begünstigt: »Falschmeldungen funktionieren da, wo ich Angst habe, wo Ängste geschürt werden«, sagte André Wolf von der Plattform »Mimikama«, die sich die Entlarvung von Falschmeldungen im Netz zur Aufgabe gestellt hat. Und das Schüren von Ängsten kann man immer wieder beobachten – ob nun bei dem nach jedem Terroranschlag sofort einsetzenden Ruf nach neuen, schärferen Sicherheitsgesetzen, mitunter einhergehend mit dunklen, eher alarmierenden als beruhigenden Andeutungen aus Politikerkreisen (Innenminister Thomas de Maizières Begründung, nach der Absage eines Fußball-Länderspieles wegen vorgeblicher Terrorgefahr über die Gründe nicht zu informieren: »Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern …«) oder auch bei der oft substanzlosen und gerade deshalb emotional überzogenen Berichterstattung darüber.

Über die tatsächlichen Hintergründe solcher Vorgänge wird die Öffentlichkeit nicht selten und vielleicht sogar bewusst im Unklaren gelassen; auch hier ist es dann oft Unwissenheit, mangelnde Information, die empfänglich für Falschmeldungen und Lügen macht. Hinzu kommt die unzureichende Besinnung auf den gesunden Menschenverstand, gespeist aus solider Bildung und belastbarem Hintergrundwissen. Denn auch daran mangelt es zunehmend, und das nicht nur aus persönlicher Bequemlichkeit und Desinteresse.

In einem »Spiegel«-Essay zum Stand der Kultur in den Zeiten Angela Merkels stellte Nils Minkmar fest: »Unsere kulturelle Versorgungsbürokratie garantiert ein ausreichendes Mittelmaß, das keine großen Würfe ermöglicht, aber Risiken ausschließt.« In ausländischen Buchhandlungen stünden Titel wie »Darm mit Charme« und »Das geheime Leben der Bäume« für deutsche Literatur, man finde »nichts, woran man sich erinnern und orientieren kann«. Das ließe sich fortsetzen mit einem Blick auf das Fernsehprogramm, in dem gesellschaftliche Konflikte fast ausschließlich als kriminelles Geschehen gespiegelt werden, allenfalls noch als sterile, aseptische Beziehungskisten, die kaum einen Bezug zum wirklichen Leben haben. Es ließe sich ergänzen durch den Kampf, den Theater oder Film um Bedeutsamkeit, Relevanz führen müssen – gegen eine Tendenz, die der Kultur Zugriffsquoten verordnet und sie damit materieller Verwertungslogik unterwirft. Wirkliches kulturelles Leben verschwindet hinter diesen Zwängen, und damit wird auch Bildung zur Nebensache, das Event reüssiert.

Eine derart auf geistige Magerkost reduzierte Gesellschaft ist zumindest in Teilen immer anfällig für das Gerücht, die vermeintliche Sensation, die einfache Deutung. Inhalt und Ton vieler Produkte in den sozialen Netzwerken demonstrieren plastisch solch intellektuelle Armseligkeit. Deshalb wird immer stärker betont, dass solide Bildung ein probates Mittel gegen die Wirkung von Falschinformationen und Lügen ist. Für André Wolf von »Mimikama« ist wesentlich, »dass man selbst mit der Flut von Informationen umgehen kann, damit man selbst bemerkt, was gibt es, wer schreibt etwas, wie kann ich das bewerten …, um ein wenig immun zu werden gehen Falschmeldungen«. »Immunisierungsleistungen«, wie in den Zeiten der Aufklärung, gar »Wahrheitsspritzen« verlangte auch der Philosoph Markus Gabriel kürzlich in einer Fernsehdiskussion. Durch Bildung müsse dafür gesorgt werden, »dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir wahre Überzeugungen haben, … steigt«.

Eigentlich ist dies eine Binsenweisheit, die jedoch in den Zeiten von wahrheitswidrigen »alternativen Fakten« immer wieder bewusst gemacht werden muss, ohne dabei freilich in Paranoia zu verfallen. Das haben offensichtlich inzwischen auch jene erkannt, die sich lange darin gefielen, die Fake-News-Gefahr über Gebühr aufzubauschen, wie zum Beispiel der bundesdeutsche Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der zu Anfang des Jahres noch ein wahres Horrorgemälde entworfen hatte: »Wir müssen uns darauf einstellen, dass es Desinformationsversuche geben kann, dass falsch berichtet wird, dass unerfreuliche Tatsachen in die Medien getragen werden oder Falschberichte, die plump sind«, wobei für ihn immer außer Frage stand, dass solche Aktionen selbstverständlich von Moskau ausgehen, ohne dies jemals belegen zu können. Jetzt räumte er jedoch ein, es sei fraglich, ob Desinformationskampagnen in Deutschland »in die aktuelle politische Agenda des Kreml passen«.

Und in den Medien, die der antirussischen Kampagne bereitwillig einen Resonanzboden gaben, liest man plötzlich auch einsichtige Gründe, warum nun nicht mehr mit Putins »Trollen« zu rechnen sei. Die Methoden der Verbreitung von Fake News wären mittlerweile allgemein bekannt, weil man sie vor allem nach den US-Wahlen ausgiebig diskutiert hat. Außerdem sei nicht mehr recht erkennbar, mit welchem Ziel Russland die Bundestagswahl in seinem Sinne beeinflussen könnte. Und die durch einen vermeintlichen russischen Hackerangriff vor mehr als zwei Jahren gewonnenen Daten über Bundestagsabgeordnete wären heute ohnehin »kalter Kaffee«. Wie es scheint, haben sich auch hier Sachwissen und gesunder Menschenverstand als stärker erwiesen denn alle Fake News. So kann man wohl am Ende mit dem Experten Ben Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik, die schließlich auch die Bundesregierung berät, Entwarnung geben: »Wenn der Wähler noch stärker in der Lage ist, kritisch zu hinterfragen, und ein Bewusstsein sich entwickelt, dass man genau hinsehen muss, dann wird das ein Bundestags-Wahlkampf wie jeder andere.«

 (Leicht gekürzt veröffentlicht in: »Neues Deutschland« vom 16.09.2017)