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1918/19 – verdrängte Massaker auf dem Berliner Schlossplatz

(pri) Vor 100 Jahren wurden mitten in Berlin und mit heute verstörender Selbstverständlichkeit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Es war der Höhepunkt eines monatelangen Massakers, dem Hunderte zum Opfer fielen – Arbeiter, Soldaten, unbeteiligte Zivilisten. Es war eine frühe und kaum verschleierte Ansage des kapitalistischen Systems, wie es mit allen umzugehen gedachte, die es abschaffen wollen. Eine Ansage, die sich bei Bedarf wiederholte – bis in die Gegenwart.

Spätestens mit der russischen Oktoberrevolution wurde der Sozialismus zu einem Feindbild für die Verfechter des Kapitalismus in Deutschland, das alles erlaubte. Für die Monarchisten, die gerade ihren Kaiser verloren hatten, für die Generalität, die nach der Niederlage im von ihr angezettelten Krieg nicht nur die Entfernung von der Macht fürchten musste, für die SPD-Führung, die sich längst für den Opportunismus entschieden hatte, für die Wirtschaftsbosse [1], die sich von Enteignung bedroht sahen, war der »Bolschewismus« ein Schreckgespenst, eine existenzielle Gefahr. Vor dem Hintergrund der russischen Ereignisse »verfestigten sich im Winter 1918/19 bei den politischen Eliten und in den Medien ureigene Vorstellungen, warum die Gewalt notwendig sei. Im Kern ging es darum, dass die Täter ihren Opfern das Menschsein streitig machten. Die Getöteten galten nur noch als „Bestien in Menschengestalt“. Diese Entmenschlichung war getrieben von Panik, von der Furcht vor einer Invasion, vor „russischen Verhältnissen“ [2], verbunden mit älteren Ängsten vor einem „Lumpenproletariat“, das sich erhebt, um die Kontrolle über die Großstädte zu übernehmen«.

Diese Massaker hatten bereits unmittelbar nach dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 begonnen. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert schloss schon einen Tag später mit dem neuen Oberbefehlshaber des Heeres, Wilhelm Groener, einen Pakt, der sich gegen die demonstrierenden Arbeiter und Soldaten richtete [3]. »Die Ausweitung der deutschen Revolution zu einem blutigen Bürgerkrieg nach russischem Vorbild und die Verbreitung des Bolschewismus sollten unter allen Umständen verhindert werden.« Unverzüglich begann die Heeresleitung mit der Bildung ihr treu ergebender Freikorps, die sich bald als Speerspitze der Konterrevolution erwiesen und dabei mit dem ausdrücklichen Segen der SPD-Führung agierten.

Am 6. Dezember 1918 putschten solche Freischärler gegen die Arbeiter- und Soldatenräte und erschossen 16 unbewaffnete Demonstranten. Am 23./24. Dezember gingen sie auf Eberts Befehl gegen die Volksmarinedivision vor, die sich bewaffnet verteidigte; das Ergebnis waren 67 Tote, dazu eine unbekannte Zahl erschossener Zivilisten. Doch die Matrosen hatten nicht das Ziel, die Regierung zu stürzen, was dieser freie Hand gab, noch entschlossener gegen revolutionäre Veränderungen vorzugehen. Sie entließ am 4. Januar 1919 den der USPD angehörenden Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn und machte gleichzeitig Gustav Noske zum militärischen Oberbefehlshaber mit dem klaren Auftrag der Niederschlagung der Revolution. Dessen Reaktion: »Meinetwegen, einer muss der Bluthund werden. Ich scheue die Verantwortung nicht.«

Hunderttausende demonstrierten gegen diese rechte Mobilmachung, es kam zum Generalstreik, doch die Demonstranten und Streikenden scheuten davor zurück, die Macht zu übernehmen; auch aus Furcht vor der absehbaren Gewaltanwendung. Sie wollten Verändrungen friedlich durchsetzen, trugen Plakate mit der Aufschrift »Brüder, nicht schießen!« Was später und bis heute als »Spartakusaufstand« [4]dramatisiert wurde und wird, war ein unentschlossenes Agieren zwischen revolutionärem Eifer und Vermeidung von Gewalt.

Ganz anders handelte die Gegenseite. Sie nahm die Massendemonstrationen zum Anlass sofortigen Losschlagens. Vom 9. bis 12. Januar gingen regierungstreue Truppen und Freikorps mit großer Brutalität gegen alle Aufständischen vor. »Zu organisierten Schlachten kam es nicht, da die Aufständischen nicht darauf vorbereitet waren; vielfach ergaben sie sich freiwillig. Dennoch erschoss das Militär über hundert Aufständische und eine unbekannte Zahl von unbeteiligten Zivilisten vor Ort.« Und die Reaktion machte Jagd auf die linken Führer des Aufstands. »Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Rettet es!«, ließ sie auf Tausenden Flugblättern drucken. Und weiter: »Es wird nicht von außen bedroht, sondern von innen: Von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben.« Der Boden für den Mord an Luxemburg und Liebknecht war bereitet.

Anders als bürgerliche Geschichtsschreibung und Medien gern glauben machen wollen, ging die Gewalt in der Novemberrevolution nicht von den Arbeitern und Soldaten aus, auch nicht von den Führern des sich von der SPD abspaltenden Spartakusbundes und der daraus hervorgehenden KPD, sondern von jenen, die rechts dieser Aufständischen standen, einschließlich der SPD. Zwar gab es auf der radikalen Linken Aufrufe zum Umsturz auch unter Einsatz von Gewalt, doch war das stets eine Reaktion auf die bereits materialisierte Gewalt von rechts. Gekommen ist es zu linker Gewalt jedoch kaum, während gegen die Linken die Gewaltanwendung nicht brutal genug sein konnte. Das setzte sich auch in den Jahren der Weimarer Republik [5] fort. Bei der Niederschlagung der Bremer Räterepublik starben 400 Menschen. Im März 1919 wurde in Berlin ein Generalstreik gewaltsam beendet, was mindestens 1200 Opfer kostete. Auch die Münchener Räterepublik wurde auf diese Weise liquidiert.

Zwar war die Weimarer Verfassung ein Fortschritt und gute Grundlage für eine demokratische Entwicklung, aber die Politik einer großbürgerlichen Koalition aus SPD, katholischer Zentrumspartei (Vorgänger der CDU/CSU) und liberaler DDP konnte den Ballast der Konterrevolution nicht abwerfen. Rechte Gewalt blieb präsent, ob beim Kapp-Putsch oder der Ermordung fortschrittlicher Politiker wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau, und mündete schließlich in die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten und die spätere Machtergreifung der Nationalsozialisten, die alsbald aufbrachen, den kommunistischen Erzfeind auch außerhalb ihrer Grenzen zu beseitigen. Insofern steht die Weimarer Republik, belastet mit dem Makel der Gewalt in ihrer Geburtsstunde, trotz ihrer Verdienste auch in der Kontinuität zur faschistischen Diktatur.

Dies konsequent aufzuarbeiten, ist eine noch ausstehende Aufgabe, war und ist doch die bisherige Rezeption der Novemberrevolution nahezu ausschließlich von dem manipulierten Geschichtsbild der Vergangenheit bestimmt, vor allem von einem antikommunistischen Impetus. Kernnzeichnend dafür die groteske Polemik der Berliner CDU [6] gegen eine Erinnerungsveranstaltung an die Gründung der KPD vor 100 Jahren im Abgeordnetenhaus, mit der die Linkspartei »Anlass zum Zweifel an ihrer Verfassungstreue« gebe, weshalb »diese geschichtslose Huldigung der Feinde unserer Demokratie und freien Gesellschaft« verboten werden müsse. Eine Argumentation , mit der sich der CDU-Fraktionsvorsitzende Burkhard Dregger ganz nebenbei fast uneingeschränkt hinter die konterrevolutionären Gewalttäter der Jahre 1918/1919 stellte, während die SPD angesichts der Rolle ihrer damaligen Führung betreten schweigt, zu mehr sich aber auch nicht aufraffen kann.

Zu dieser Aufarbeitung gehört auch der Diskurs über die Rolle von Gewalt in der Politik. Mit der bequemen Antwort vom Gewaltmonopol des Staates ist es dabei nicht getan, läuft diese doch letztlich auf die Zementierung bestehender Verhältnisse hinaus. Gerade die Niederschlagung der Novemberrevolution hat gezeigt, dass eine Staatsmacht wie jene, die damals mit allen, auch den brutalsten Mitteln den Kapitalismus verteidigte, kaum zu überwinden ist. Jede Staatsmacht ist auch Partei, vertritt eine bestimmte Ideologie – und sei sie noch so reaktionär, verteidigt sie mit Zähnen und Klauen. Die Geschichte zeigt, dass die Überwindung solcher Regimes kaum ohne Gewalt zu haben ist.

Gegenwärtig erleben wir in Frankreich mit den »Gelbwesten« eine spontane Bewegung, die überwiegend friedlich ist, jedoch auch zu Gewalt greift – zumeist, wenn sie selbst gewaltsam attackiert wird. Bini Adamczak [7], Autorin des Buches »Beziehungsweise Revolution«, sieht darin ein Bewusstsein der Franzosen »dass man den König auch mal enthaupten kann. Es ist die Erfahrung, dass der Sieg im Bereich des Möglichen liegt, dass es erfolgreich sein kann, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen«.

Hierzulande sieht sie dieses Bewusstsein wenig ausgeprägt – vielleicht weil deutsche Revolutionen in der Regel gescheitert sind. Das hat negative Seiten – wie 1918/19, wo man einem skrupellosen Gener gegenüberstand. Es kann aber auch positiv sein – wie 1989, als sich der Umsturz friedlich vollziehen ließ. Für Bini Adamczak ist entscheidend, dass »eine Bewegung sich selber zutraut, es mit den Herrschenden aufzunehmen, die Macht herauszufordern«. Dazu müsse man auch den Mut entwickeln, »nach oben zu treten«.