Im Westen und in der Ukraine wächst zunehmend die Sorge darüber, dass die ukrainische Verteidigung angesichts der Offensive der Russen bald zusammenbrechen könnte. In Russland dagegen herrscht die Meinung vor, dass es noch zu früh ist, von einem Zusammenbruch des Gegners zu sprechen.
Von Olivier Renault
Der nicht enden wollende Krieg gegen Russland gestaltet sich für die Ukraine immer problematischer. Ihre Streitkräfte haben der Übermacht des Gegners inzwischen relativ wenig entgegenzusetzen und sind daher gezwungen, sich immer weiter zurückzuziehen.
So haben die Russen allein im vergangenen Oktober laut Daten des US-amerikanischen Instituts für Krisenforschung (ISW) eine Fläche von rund 500 Quadratkilometern unter ihre Kontrolle gebracht – das ist der größte monatliche Territorialgewinn seit den ersten Wochen der russischen Militärintervention im Jahr 2022.
Zugleich ist dies bezeichnend für den Kriegsverlauf der vergangenen Monate. Die Ukraine war in diesem Zeitraum nämlich schon mehrfach gezwungen, unter anderem die strategisch wichtigen Gebiete abzutreten: Im Februar etwa den Donezker Vorort Awdejewka, dessen Verlust den Beginn einer Reihe von schmerzvollen Niederlagen für Kiew einleitete. Im Oktober musste man auch Ugledar im Süden des Donbass aufgeben. Diese beiden Städte galten als »uneinnehmbare Festungen« und spielten für die ukrainische Verteidigung im Donbass eine zentrale Rolle.
Durch die Einnahme dieser und anderer Ortschaften konnten die russischen Streitkräfte den Weg für ihren weiteren Vormarsch Richtung Dnjepr freimachen und scheinen nun unaufhaltsam vorzurücken. Ihr Ziel ist es offenbar, den strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk einzunehmen und somit einen Keil in die ukrainische Frontlinie zu treiben.
Die ukrainische Armee dagegen steuert geradewegs auf eine Katastrophe zu. Die Anzeichen dafür liegen heute klar auf der Hand: Die kritische Personalsituation, der Mangel an Munition und Ausrüstung sowie die schwache Kampfmoral der Soldaten.
Pessimismus macht sich breit. Während man in der Ukraine deswegen aber lediglich von einer »sehr schwierigen« Lage entlang der gesamten Frontlinie spricht, gehen immer mehr Beobachter im Westen inzwischen klar davon aus, dass die militärische Lage für das Krisenland aussichtslos sei und dass die ukrainische Verteidigung im Donbass vermutlich bereits vor dem Zusammenbruch stehe.
So schreibt etwa das US-Magazin »The Nation« in diesem Zusammenhang, dass die Dinge sich für Kiew im Konflikt mit Moskau schlecht entwickeln würden und dass es »früher oder später zu einem ukrainischen Zusammenbruch« kommen werde. Zur Begründung heißt es: »Die ukrainischen Streitkräfte sind zahlenmäßig stark unterlegen und auch in puncto Artillerie und Munition unterlegen. Es gibt zunehmende Anzeichen von Erschöpfung, Demoralisierung, Desertion und Dienstverweigerung sowohl seitens der Eliten als auch der einfachen Menschen. Der russische Erfolg beruht auf der Tatsache, dass Russland sowohl in Bezug auf die Industrie als auch auf die Arbeitskräfte einfach weitaus größere Ressourcen als die Ukraine hat. Es war in der Lage, Hunderttausende neuer Soldaten zu rekrutieren, indem es ihnen sehr hohe Löhne zahlte […]«.
Einige Experten behaupten sogar, dass die ukrainische Front unter dem Ansturm der Russen bereits zusammengebrochen ist. So etwa der in der Ukraine sehr bekannte Generaloberst Dmitri Martschenko. Dieser ukrainische Top-Militär, der lange Zeit die Siegespropaganda für den Staatschef Wolodymyr Selenskij im Netz verbreitete, sagte in einem Interview mit einem ehemaligen Abgeordneten des ukrainischen Parlaments: »Ich verrate kein militärisches Geheimnis, wenn ich sage, dass unsere Front zusammengebrochen ist«.
Für diese missliche Lage macht Martschenko die eigene Militärführung, die Personalprobleme in der Armee und den Mangel an Reserven verantwortlich: »Erstens mangelt es an Munition und Waffen. Zweitens sind es die Leute. Es gibt keine Leute, keinen Nachschub. Die Leute sind sehr müde, sie können die Fronten, an denen sie stehen, einfach nicht mehr halten. Und drittens ist es die Unausgewogenheit des Managements«, so der Generaloberst.
Russland sieht den Gegner noch nicht am Ende. In Russland sind die meisten Militärexperten allerdings der Ansicht, dass die zahlreichen Meldungen in den ukrainischen und westlichen Medien über den baldigen Zusammenbruch der Front nur mit Vorsicht zu genießen sind.
Denn obwohl sich die Ereignisse ganz klar zum Vorteil Russlands entwickeln und die Lage sich für die ukrainischen Streitkräfte mit jedem Tag verschlechtert, wird von ihnen dennoch ein erbitterter Kampf um praktisch jede Ortschaft geführt. Dabei schaffen sie es meistens, die Logistik trotz erheblicher Verluste aufrechtzuerhalten und weiterhin für Nachschub zu sorgen.
Selbst wenn die Ukrainer also immer noch kein Mittel haben, um die russische Offensive ganz zu stoppen, sind sie dennoch dazu fähig, der russischen Seite schmerzvolle Verluste zuzufügen. Zum einen, weil sie noch über genügend Reserven verfügen, die zur Zeit unter anderem im Ausland trainiert werden. (Diesbezüglich will Kiew im Rahmen der Generalmobilmachung sogar noch weitere 160.000 Mann einberufen).
Zum anderen bekommt die ukrainische Armee nach wie vor eine enorme Anzahl an Kriegsgerät aus den USA und Europa, wobei das Ende dieser Waffenlieferungen noch nicht in Sicht ist.
Insofern ist es noch verfrüht zu sagen, dass die ukrainische Front kurz vor dem Zusammenbruch steht. Trotzdem ist der Trend eindeutig. Die russische Armee wird weiter Vorrücken, um noch andere strategisch wichtige Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Bis der Gegner in der Tat zusammenbricht. Ob Russlands ehrgeizige Offensivplan am Ende aufgehen wird, bleibt abzuwarten.