Heute schaut die Welt nach New York, wo vor fünf Jahre die Türme des World Trade Centers in Feuer und Rauch versanken. Man sollte jedoch auch einen Blick 33 Jahre zurückwerfen – nach Santioago de Chile, denn dort versank damals der Präsidentenpalast in Feuer und Rauch, bombardiert von der chilenischen Luftwaffe, die unter dem Kommando des Generals Pinochet gegen den eigenen, demokratisch gewählten Präsidenten Allende putschte. Dieser Putsch begann damals in Valparaiso, damals wie heute der Kriegshafen des Landes. Mit ihm soll deshalb eine Reihe loser Reiseberichte beginnen, die von hier aus durch Chiles Fjorde, rund um Kap Hoorn, auf die Falkland-Inseln und weiter nach Argentinien, Uruguay und Brasilien führen.
Viele Leitern in den Himmel
Valparaiso – geschliffene und geschleifte Perle des Pazifik
Auch ein Paradies, das wissen wir nicht zuletzt aus dem Buch der Bücher, hat irgendwo seinen Hinterhof. Bereist man beispielsweise Chile von See und nähert sich seinem größten Hafen, dann ist der paradiesische Eindruck augenscheinlich.
Valparaiso – Hafen vorm Amphitheater
Wie bei einem Amphitheater erheben sich hinauf an den nahen Bergen der Küstenkordilleren, hinter denen majestätisch die Anden grüßen, die krummen Straßen einer urwüchsigen Stadt. Früher, als nicht überall unten, am Ufer, Hochhäuser gebaut worden waren, dürfte der Anblick noch schöner gewesen sein, aber nachdem am 19. August 1906 eins der hier nicht seltenen Erdbeben die Stadt – mit damals immerhin schon weit über 100 000 Einwohnern – erschüttert und einen heftigen Tsunami ausgelöst hatte, wurde der Strand peu à peu neu bebaut – nach dem Geschmack der wechselnden Zeiten; und darüber kann man natürlich trefflich streiten.
Ein Tor zur Demokratie? Chiles Parlamentsgebäude
Aber schon noch früher, als die Bucht kaum besiedelt war und 1536 erstmals die Spanier hier auftauchten, konnten sie sich vor Glück kaum fassen. Ein paradiesisches Tal, eben Valparaiso, wähnten sie zu sehen, was man nachfühlen kann, wenn man weiß, dass sie da auf der Suche nach einem Seeweg nach Asien schon Wochen in ihren handgefertigten Segelschiffen unterwegs gewesen waren – über den unendlichen Atlantik, um die Südküste Amerikas mit Stürmen und Eiseskälte herum und die lange pazifische Fjordküste hinauf. Plötzlich eine Bucht im Sonnenschein, sanft ansteigend grüne Berge, Eisgipfel nur im Hintergrund – das war zwar nicht Indien, aber immerhin doch eine Anmutung des Paradieses.Aber schon noch früher, als die Bucht kaum besiedelt war und 1536 erstmals die Spanier hier auftauchten, konnten sie sich vor Glück kaum fassen. Ein paradiesisches Tal, eben Valparaiso, wähnten sie zu sehen, was man nachfühlen kann, wenn man weiß, dass sie da auf der Suche nach einem Seeweg nach Asien schon Wochen in ihren handgefertigten Segelschiffen unterwegs gewesen waren – über den unendlichen Atlantik, um die Südküste Amerikas mit Stürmen und Eiseskälte herum und die lange pazifische Fjordküste hinauf. Plötzlich eine Bucht im Sonnenschein, sanft ansteigend grüne Berge, Eisgipfel nur im Hintergrund – das war zwar nicht Indien, aber immerhin doch eine Anmutung des Paradieses.
Das ist so geblieben, und die Geografie hat zum Schliff der »perla del Pacifico« alleweil kräftig beigetragen. Verlangt doch die Besiedelung eines Hanges Phantasie und Ideenreichtum. Und deren Ausdruck ist auch heute noch ein Bild, das von manchem kubistisch genannt wurde, denn die Hügel hinauf ziehen sich Häuschen ganz unterschiedlicher Größe, ganz unglaublichen Formenreichtums, ganz kontrastreicher Farbenvielfalt. Nichts ist geplant und vorbedacht, Spontaneität und Übermut feierten Karneval. Sogar die UNESCO muss ähnlich gefühlt haben wie die Seefahrer, die sich am 33. Breitengrad die Augen rieben, denn sie erklärte das Stadtensemble Valparaisos 2003 zum Weltkulturerbe. Aber natürlich: Sie alle müssen von See gekommen sein.
Kommt man nämlich mit dem Flugzeug, landet in in der Hauptstadt Santiago und quält sich mit dem Bus 120 Kilometer zur Küste hin, dann ist von einem Paradies lange nichts zu sehen. Die Straße zieht sich durch eine Felsenlandschaft, gelb und grau. Wo Sand und Lehm ins Rutschen zu kommen drohten, wurde mit noch gräulicherem Betonmörtel befestigt. Zwar nimmt dann allmählich das Grün zu, etwa auf halbem Wege, wenn die Straße das aufstrebende Weinbaugebiet von Casablanca durchschneidet, aber ein Paradies erwartet man an ihrem Ende dennoch nicht. Dazu sind die Villen der neuen Weinbauern einfach zu betont minimalistisch und die Sommerhäuser der Hauptstädter zu sehr globale Konfektion.
Wir erreichen Valparaiso über die Avenue Argentina, die mit ihren Werkstätten, Geschäften und Reklamen typische Zufahrtsstraße einer Stadt, die fast 300 000 Menschen beherbergt. Und sind auf ihrem Hinterhof. Der sandig-schmutzige Mittelstreifen ist übersät mit den bunten Auslagen eines Flohmarktes. Kleidung, Schuhe, Küchengerät, Elektroartikel, Seife und Shampoo, Autozubehör, und, und, und… Die Habseligkeiten der Armen sind ausgebreitet in der Hoffnung auf einige Pesos, die für die nächsten Tage oder auch nur Stunden das Überleben erleichtern sollen. Denn die Stadt, die vorgibt, ein paradiesisches Tal zu sein, hat mit 15 Prozent eine fast doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie das Land Chile insgesamt, das auch nicht gerade zu den Reichen dieser Erde gehört. Die Industrie befindet sich im Niedergang, der Hafen, der seine einst überragende Bedeutung schon verloren hatte, als der Panamakanal gebaut war und auf dem Weg nach Asien der Magellan-Straße der Vorzug gegeben wurde, ist kaum ausgelastet, nennenswerten Tourismus gibt es nicht. Bitter sieht der Schriftsteller Omar Saavedra Santis seine Geburtsstadt »heruntergekommen zu einem abgetakelten Saustall im neoliberalen Jammertal Lateinamerikas«.
Goldene Gondeln auf der Himmelsleiter
Aber nicht nur das sonnige Bild eines Valparaiso hat seine Schattenseiten; auch die Geschichte erweist sich als greller Kontrast von Gut und Böse. Die Besiedlung war ein blutiges Unterfangen, weil vor allem Piraten die Bucht immer wieder heimsuchten. Der spätere Aufschwung der Hafenstadt ließ hier die erste Börse des Landes ebenso entstehen wie »El Mercurio«, die älteste Tageszeitung Lateinamerikas. Hier wurde der spätere linkssozialistische Präsident Salvador Allende geboren und auch Augusto Pinochet, der ihn mit seinem Putsch nicht nur politisch beseitigte. Der Angriff auf die verfassungsmäßige Regierung war am 11. September 1973 von der Marineinfanterie im Hafen von Valparaiso begonnen worden; hier lag auch das Segelschulschiff »Esmeralda«, das bald zum Gefängnisschiff und Folterzentrum umfunktioniert wurde. Und hierher verlegte Pinochet 1980 das Parlament, das ihm in der Hauptstadt Santiago entbehrlich schien.Das Chile nach der Diktatur beließ es dabei. Heute tagen in Valparaiso Abgeordnetenkammer und Senat in einem modernen Gebäude, das wie ein riesiges Tor inmitten der Stadt steht – nicht sehr schön, wegen seiner Ferne zu Santiago auch teuer, aber vielleicht als Symbol, dass gerade hier, wo der Putsch begann, die Demokratie einen neuen Anfang machte. Der Bürger von Valparaiso liebt solche Symbolik und bleibt gelassen auch angesichts der Schleifspuren der Geschichte. 45 Hügel liegen rund um die Bucht, und fast alle sind bebaut, kunstvoll und verwinkelt nach oben. Wie krumme Himmelsleitern streben die Gassen und Gässchen aufwärts. Oft sind es auch Himmelsbahnen, elektrische Aufzüge, die die Bewohner von oben nach unten bringen und umgekehrt. Sie durchqueren dabei ganz selbstverständlich das Häuser- und Straßengewirr, blicken mal in ein Küchenfenster, mal in einen Hühnerstall, mal in einen Werkzeugschuppen. Die Seile quietschen und ächzen; man fühlt sich fast wie auf einem Himmelfahrtskommando, aber kommt dann doch zum Ziel.
Wenig paradiesisch: Valparaisos Flohmarkt
Wie Pablo Neruda. Er suchte im Herbst seines Lebens ein Haus,
»in dem ich leben und in Ruhe schreiben kann. Es muss einige Bedingungen erfüllen. Es darf weder sehr hoch oben noch sehr weit unten liegen. Es muss einsam sein, aber nicht übermäßig. Wenn es Nachbarn geben sollte, dann hoffentlich unsichtbare. Originell soll es sein, aber nicht unbequem. Luftig, aber stabil. Nicht sehr groß und nicht sehr klein. Unabhängig, aber mit einem Geschäft in der Nähe. Außerdem muss es sehr billig sein«.
So schrieb er seiner Biografin Sara Vial, und sie fand in Valparaiso, was er suchte. 1961 zog er in La Sebastiana auf dem Cerro Bellvista ein und bedichtete alsbald die Himmelsleitern der Stadt:
»Die Treppen beginnen unten und oben und winden sich steigend. Sie werden fein wie Haar, gewähren kurze Rast, sind steil. Werden seekrank. Stürzen vornüber. Breiten sich aus. Weichen zurück. Enden nie. Wie viele Treppen? Wie viele Treppenstufen? Wie viele Füße auf Stufen? Wie viele Jahrhunderte von Schritten, treppauf, treppab, mit dem Buch, den Tomaten, dem Fisch, den Flaschen, dem Wein? Wie viele Tausende von Stunden, die die Stufen abgenützt, bis sie Kanäle waren, in denen Regen rinnt, spielt und weint? Treppen! Keine Stadt hat sie in ihrer Geschichte so verschwendet und aufgeblättert, hat sie in ihrem Angesicht so ausgestreut und vereint wie Valparaiso Kein Antlitz einer Stadt besitzt diese Furchen, über die Leben kommen und gehen, als stiegen sie immerfort auf zum Himmel, als stiegen sie immerfort hernieder zur Schöpfung.«
Zwölf Jahre später – Neruda starb nur zwölf Tage nach dem Militärputsch – wurde dieses Haus wie auch sein Sterbehaus in Santiago geplündert und verwüstet. 1992 wurde es als Museum wieder eröffnet. Neruda beschaute die Welt, auch aus seinem Theaterrang auf einem Hügel Valparaisos. Sie hatte für ihn wenig von einem Paradies, sah von dort doch auch den Hinterhof, der den Touristen, zumindest wenn sie von See kommen, meist verschlossen bleibt.
Siehe auch: Saavedra Santis: Vom vergessenen Elften,
Berliner Zeitung vom 11.09.06