Hauptverwaltung Aufklärung der DDR – kurze Geschichte eines Spionagedienstes (Teil IV)

Wieder einmal soll der Bundestag daraufhin überprüft werden, inwieweit das Ministerium für Staatssicherheit der DDR Einfluss auf die bundesdeutsche Politik genommen hat. Angesichts der geringen Zahl noch nicht bekannter Fälle oder gar einer Fehlmeldung kein Thema, das noch große Aufregung auslöst. Dabei ist diese Einflussnahme unstrittig, vor allem durch die so genannten aktiven Maßnahmen der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS wurde versucht, politische Entscheidungen in Bonn zu beeinflussen.

Dabei aber stand der DDR-Geheimdienst nicht allein. Verdeckte Operationen gehören seit je zum Arsenal der Spionagetätigkeit, und es ist ein offenes Geheimnis, dass sich auch die bundesdeutschen Dienste, der Verfassungsschutz wie der BND, dieses Mittels bedienen. Und ebenso gibt es immer wieder Hinweise auf eine nachrichtendienstliche Anbindung des einen oder anderen Bundestagsabgeordneten. Dahinein Licht zu bringen ist natürlich nicht vorgesehen, und auch die systemtreuen Medien artikulieren dieses Problem nur vereinzelt.

Bezüglich der HVA ist schon bald nach der Wende dazu Grundsätzliches gesagt worden; inzwischen wurde es durch zahlreiche Fakten angereichert. Was dazu in einer früh erschienenen Darstellung der Geschichte und Arbeitsweise der HVA, die im Handel nicht mehr erhältlich ist, berichtet wurde – im Buch »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report«, veröffentlicht 1992 im Berliner Verlag ElefantenPress – ist hier nachzulesen:

Schweres Blei der »Tschekisten«

Der ganze Saal erhob sich wie ein Mann. »Die ruhmreichen Tschekisten – sie leben hoch! Hoch! Hoch!« Der Minister hatte das Startsignal zur lautstarken Huldigung gegeben, und keinen gab es, der sich ihr verweigerte. Bereits zuvor war in nahezu inhalts­gleichen Reden der Beitrag der »Gesamtrussischen Außerordentli­chen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage«, der sogenannten Tscheka, zur Oktoberrevolution und zur Abwehr aller seitherigen Angriffe auf die »Macht des Sozialis­mus« gewürdigt worden. Generaloberst Markus Wolf hatte höchst­persönlich eine rotlederne Kassette überreicht, in der sich einige wertvolle Aufklärungsinformationen befanden – vielleicht der BND-Jahresbericht oder die Ost-West-Studie der NATO. Diese rituelle »Schenkung« gehörte seit langem zum Szenario deutsch­sowjetischer »Kampf-Meetings« – ungeachtet dessen, dass der KGB die Informationen längst auf unspektakulärem Wege erhalten hatte.

Auf die Show aber durfte nicht verzichtet werden. Sie bot den sowjetischen Tschekisten und ihren deutschen Genossen Gelegen­heit, neben Grußadressen auch Orden auszutauschen und eben immer wieder Hochrufe auszubringen: Die Waffenbrüderschaft von KfS – wie der KGB schamhaft eingedeutscht genannt wurde – und MfS sei unverbrüchlich! Tatsächlich bestand das schlimmste Manko des DDR-Nachrichtendienstes darin, dass er – wie fast alle anderen gesellschaftlichen Erscheinungen der DDR – aus einer stalinistisch geprägten Tradition hervorging. Lenin hatte im Dezember 1917 mit der »Tscheka« ein Organ geschaffen, das eine Revolution möglicherweise braucht, um den Sieg der Straße vor Gegenangriffen zu schützen, aber er hat nicht verhindern können, dass sich diese »Tscheka« bald verselbständigte, 1922 den nichtssagenden Namen »Staatliche politische Verwaltung« (GPU) zulegte, um bald danach zum blutigen Terrorinstrument Stalins gegen alle diejenigen zu werden, die er seine Feinde nannte.

Seitdem war das »Feindbild« ein Schlüsselbegriff geheim­dienstlicher Arbeit in einem »sozialistischen« Land – ob er nun nach außen oder nach innen operierte. Es schloss ein, misstrauisch gegenüber allem zu sein, was sich außerhalb der DDR-Grenzen tat oder was gar von außerhalb in irgendeiner Weise auf die DDR einwirkte. Wie dieses »Feindbild« noch ein Jahr vor der Wende aussah, demonstrierte Erich Mielke in einer Rede am 17. Oktober 1988, als er auf einer Tagung der Aufklärungsorgane sozialistischer Länder den »strategischen Plan des Imperialismus zur Schwä­chung, Destabilisierung und Zersetzung des Sozialismus« entlarvte, der gekennzeichnet sei

»– durch die gezielte Verbindung von Wettrüsten, politischer und ökonomischer Druckausübung bzw. Erpressung sowie forcier­ter ideologischer Diversion und aller anderen Formen ihrer Wühl- und Zersetzungstätigkeit,

– durch die verstärkte Einflussnahme auf die sozialistischen Länder über den Ausbau der Wirtschafts- und der wissenschaftlich­-technischen Beziehungen und die Einbeziehung in internationale, vom Westen beherrschte Organisationen auf diesen Gebieten,

– durch ein differenziertes und der Lage in den einzelnen sozialistischen Ländern angepasstes Vorgehen,

– durch die Aktivierung innerer Feinde und oppositioneller Kräfte sowie

– durch die Schürung antisozialistischer und nationalistischer Stimmungen.«

Eine solche Weltsicht, die alles Übel nur von außen kommen sah, während die eigene Politik offensichtlich ohne Makel war, hatte selbstverständlich Konsequenzen auch für die Tätigkeit der HVA, wenn sie hier auch etwas differenzierter formuliert wurde. Doch die unkritische Übernahme fast aller sowjetischen Erfahrun­gen in der Geheimdienstarbeit durch Markus Wolf führte dazu, dass die DDR-Spionage von Anfang an mit dem Blei der Tschekisten belastet war und sich daraus einige ihre Strukturentscheidungen und konkreten Operationen erklären. Dabei darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Form der Auseinandersetzung, wie sie auch von den westlichen Geheimdiensten geführt wurde, nicht gerade dazu einlud, die Samthandschuhe überzustreifen. Ursache und Wirkung stehen hier – auf beiden Seiten – in einem engen Zusammenhang; dennoch wurden seitens der HVA Kampfmittel benutzt, die weder dem humanistischen Anspruch des Sozialismus gerecht wurden noch operativ sinnvoll waren.

Für die Mitarbeiter der HVA stellten sich derlei Gedanken in der Regel nicht. Die »tschekistische« Tradition war Bestandteil des Dienstes im Mini­sterium für Staatssicherheit, ihre Rituale machten sie – wenn auch mitunter innerlich lächelnd oder auch abgestoßen – mit; ansonsten aber war ein konkret umrissener Auftrag zu erfüllen, dessen Hintergrund sich kaum einer der HVA-Angehörigen in vollem Maße vergegen­wärtigte. Dies war bei den meisten weniger Verdrängung als einfach der Glaube, als Mitarbeiter einer offiziellen staatlichen Behörde, eines Ministeriums, eine legitime Arbeit zu verrichten und mit den dabei verwandten Methoden – im Nachrichtendienst denen der westlichen Gegner nicht unähnlich – kein Unrecht zu tun. Der Sinn mancher Maßnahme erschloss sich auch nicht, doch da standen die »Tschekisten« in dieser Gesellschaft nicht allein. Der Begriff der Pflichterfüllung ist keiner aus dem sozialistischen Vokabular – wenn auch eingeräumt werden muss, dass das militärische Regime im MfS im Verein mit der Parteidisziplin (alle Stasi-Mitarbeiter waren Mitglieder der SED) eine besondere Kritiklosigkeit gegen­über Weisungen der Vorgesetzten erzeugte. So wurden auch Unter­nehmungen durchaus mit Engagement geplant und ausgeführt, die mit normaler nachrichtendienstlicher Arbeit nichts zu tun haben.

Hierzu gehörten ohne Zweifel die sogenannten aktiven Maßnah­men, Operationen der verdeckten politischen Einflussnahme auf Prozesse und Personen des jeweiligen Operationsgebietes mittels gezielter Lancierung von zutreffenden Fakten, aber auch von Desinformationen. Diese Art nachrichtendienstlicher Tätigkeit nahm in der sowjetischen Geheimdienstarbeit seit längerem einen hohen Rang ein. Im Jahre 1959 wurde im KGB eine spezielle Abteilung dafür geschaffen. Der junge Spionagedienst der DDR kannte solche Methoden zunächst nicht, aber nach sowjetischem Vorbild begannen in den 60er Jahren auch hier einschlägige Experimente, ehe 1968 die Abteilung X entstand, die seither fast ausschließlich für die »aktiven Maßnahmen« verantwortlich zeichnete. Der Verfassungsschutzbericht 1983 nannte als Ziel »aktiver Maßnahmen« durchaus zutreffend, »auf die Innen- und Außenpolitik vornehmlich westlicher Staaten Einfluss zu nehmen, ihre Beziehungen untereinander wie zu den Staaten der dritten Welt zu unterminieren und ihre politischen Repräsentanten und Institutionen zu diskreditieren, um langfristig die eigenen politischen Absichten zu fördern. Sie unterstützen auf diese Weise die außenpolitischen Zielsetzungen der Warschauer-Pakt-Staaten mit nachrichtendienstlichen Mitteln.« Später wurden solche Aktionen – wohl auch wegen ihrer nicht selten spektakulären Begleiterscheinungen – oft übertrieben darge­stellt. Die zuständige Abteilung verfügte über nicht mehr als 80 Mitarbeiter, und insgesamt blieben ihre Ergebnisse begrenzt. Außerdem waren sie keineswegs eine Erfindung östlicher Geheim­dienste.

Die Methoden dazu sind – auf beiden Seiten – vielfältig, gehen aber fast alle auf ein Grundmuster zurück: Ausgehend von tatsäch­lichen Begebenheiten, Äußerungen, Differenzen wird eine gefärbte Information produziert, die von der Wahrheit nur soviel abweicht, dass sie glaubwürdig bleibt, aber doch soviel Lüge enthält, dass sie das Denken und Handeln des Empfängers im gewünschten Sinne verändert. Als Multiplikator solcher Falsifikate dienen in der Regel die Medien, denen das Material auf verschlungenen Wegen zuge­spielt wird und die es nicht selten genüsslich verbreiten.

Die Geschichte des Kalten Krieges ist reich an solcherart Operationen. Sie sind der Versuch, Interessen auch dort durchzu­setzen, wo das mit offenem Visier – zumeist wegen der Schwächen der eigenen politischen Position – nicht möglich ist. Der Verfas­sungsschutz griff zu diesen Methoden schon zu jenen Zeiten, als für ihn die Bekämpfung jeglicher »kommunistischer Umtriebe« noch absolute Priorität hatte. Der spätere BfV-Chef Nollau beschrieb in seinen Memoiren, wie auch er Ende der 50er Jahre die Herausgabe einer Publikation mit dem Titel »Der Dritte Weg« initiierte, die den Eindruck erwecken sollte, von »Reformkommunisten« geschrieben zu sein. Nollau hoffte, das »obskure Blättchen«, wie er es selbst nannte, »werde in der illegalen KPD zersetzend wirken und uns die Möglichkeit eröffnen, unter den Dissidenten, die wir kennenzuler­nen hofften, Informanten zu gewinnen«. Andere Dienste blieben mit ihren »verdeckten Operationen« – erinnert sei hier nur an die Rolle der CIA in der Schweinebucht-Affäre – nicht bei der politischen Einflussnahme stehen.

Dass die »aktiven Maßnahmen« seitens der sozialistischen Länder später das Niveau einer ausgesprochenen Konjunktur erreichten, verrät auch etwas darüber, wie wenig es ihnen möglich war, ihre Zielvorstellungen in der unmittelbaren politischen Aus­einandersetzung zu realisieren; sie sahen sich immer wieder veranlasst, zu tückischen Methoden zu greifen. In der UdSSR waren die Desinformationen ein inhärentes Mittel des außenpolitischen Wirkens der Kommunistischen Partei. Diese glaubte offenbar, dass die Lancierung getürkter Meldungen in die westliche Presse das kapitalistische System erschüttern könne und forcierte deshalb derartige Aktivitäten, wo immer es ihr in den Kram passte. Die zuständige KGB-Diensteinheit hatte – wie Ende 1991 in Moskau offiziell mitgeteilt wurde – Amtsräume im Gebäude des Zentralkomitees; hier arbeitete sie der »Internationalen Abteilung« direkt zu. Der zeitweilige UdSSR-Außenminister Boris Pankin bezifferte die Zahl der KGB-Mitarbeiter im Außenamt auf etwa 50 Prozent. Sie hätten sämtliche Botschaften kontrolliert und die Mehrzahl der Botschafter in der Hand gehabt. Einer dieser Pseudo-­Diplomaten soll nach Darstellung des britischen Autors John Barron erklärt haben: »Wir werden die öffentliche Meinung im Westen mit allen offenen und verdeckten Mitteln nach unserem Belieben manipulieren … Wir haben die Mittel, um im Westen Dutzende von neuen Organisationen zu gründen und bestehende Tarnorganisationen zu stärken.« So weit ging die Verquickung der Abteilung X der HVA mit dem Parteiapparat der SED nicht, aber dass es Abstimmungen gab, wo ihre »aktiven Maßnahmen« die Parteipolitik unterstützen konnten und wo sie zu unterbleiben hatten, um nicht kontraproduktiv zu wirken, ist sicher.

Wenn die Desinformationstätigkeit der HVA nie den Stellen­wert erreichte, der ihr im KGB zugewiesen wurde, so hing das vor allem mit der begrenzten Wirkung zusammen, die solche Maßnah­men in der Bundesrepublik und in Drittländern hatten. In einer pluralistischen Gesellschaft, die den Medien einen beträchtlichen Spielraum lässt, wirken Enthüllungen weit weniger als in geschlos­senen Systemen mit ihrem Geheimhaltungstrieb. Daher war die DDR seitens der Westmedien erheblich manipulierbarer als umge­kehrt. Für das Fernsehen der Bundesrepublik genügten beinahe die täglichen Werbesendungen, um beim DDR-Bürger einen nachhaltigen Eindruck von der Überlegenheit dieses reichen Landes zu hinterlassen. Machte es sich darüber hinaus zum Anwalt derjenigen, die in der DDR keine Stimme hatten, der Bürgerrechtler und kritischen Kirchenleute, dann wirkte das schon aufgrund des Fehlens entsprechender Informationen in den DDR-Medien. Der krampfhafte Nachweis politischer Unredlichkeit westlicher Politi­ker in den Desinformationsprodukten der HVA dagegen lief oft ins Leere, da er im Grunde keine Neuigkeit darstellte.

Entsprechend lustlos war die Unterstützung »aktiver Maßnah­men« durch die beschaffenden Diensteinheiten der HVA. Schon die Bereitstellung für Fälschungen nutzbarer Informationen, mehr noch der Einsatz geeigneter Quellen stießen auf große Zurückhal­tung – konnte doch beides die BRD-Abwehrorgane auf bestimmte Spuren führen und damit die operativen Positionen gefährden.

So gehörte es zu den Aufgaben der Abteilung X, den westeuro­päischen Integrationsprozess zu stören. Dafür boten sich zahlreiche Ansatzpunkte – sind doch die Differenzen zwischen den EG-Staaten aus den verschiedensten Gründen bis heute nicht gering; man denke nur an die Beargwöhnung der großen Mitgliedsstaaten durch die kleinen. Aber wenn auch geeignetes Material vorlag, waren die zuständigen Abteilungen nicht bereit, es gewissermaßen für eine »Medien-Eintagsfliege« zu verpulvern und Quellen in Gefahr zu bringen. Außerdem krankten die »aktiven Maßnahmen« der HVA auch daran, dass sie meist im Nachtrab stattfanden. Wenn etwas geschehen war, wurde reagiert – und ehe das nach Erhalt aller Genehmigungen und bei Berücksichtigung aller operativen Prozesse dann tatsächlich sichtbar wurde, war das Thema oft vom Tisch.

Die westlichen Geheimdienste arbeiteten auf diesem Gebiet wesentlich effizienter. Erinnert sei nur an die große Meisterschaft, die vor allem der CIA entwickelte, um immer wieder die militäri­sche Überlegenheit der Sowjetunion nachzuweisen. Wer die tat­sächlichen Zahlen des sowjetischen Militärpotentials kannte – und die Geheimdienstler gehörten dazu –, sah nicht ohne Faszination, wie die Bedrohungsgefahr immer aufs Neue beschworen wurde. Ob Studien des Pentagon, vor allem in der Regierungszeit Reagans, ob die Analysen der NATO oder die einschlägigen Papiere der Bundesregierung – sie alle gingen davon aus, dass der Warschauer Pakt auf allen Gebieten militärisch überlegen sei und dies nur durch eigene Rüstung kompensiert werden könne. Diese Manipulationen, die westliche Desinformations-Spielart, auf geeignete Weise zu konterkarieren, war auch eine Aufgabe »aktiver Maßnahmen«. Und nicht wenige renommierte Militärexperten nutzten in ihren Interviews und Zeitungsartikeln – bewusst oder unbewusst – Fakten und Argumente, die ihnen von Aufklärern sozialistischer Länder zuge­spielt worden waren. Hier bedurfte es nicht der Verfälschung des Materials, sondern im Gegenteil seiner wahrheitsgetreuen Darstel­lung – galt es doch, Lügen zu entkräften. Auch die HVA arbeitete in dieser Weise und legte Tatsachen offen, die die andere Seite gern verschwiegen hätte, um die Durchsetzung ihrer politischen Strate­gie nicht zu gefährden. Erinnert sei an die Verbreitung belastender Dokumente über die Verstrickung führender Persönlichkeiten der Bundesrepublik während der NS-Zeit, so des einstigen Bundesprä­sidenten Lübke oder des baden-württembergischen Ministerpräsi­denten Filbinger. Genannt werden muss auch die Aufhellung manchen Skandals durch die bundesdeutsche Presse, die sich dazu nicht selten einschlägiger Materialien aus Ost-Berlin bedienten, ohne freilich in der Regel deren Herkunft genauer zu kennen.

Vor allem Mitte der 80er Jahre traten »aktive Maßnahmen« hinzu, die der Unterstützung des Entspannungs- und Abrüstungs­prozesses dienen sollten. Sie doublierten sich zwar nicht selten mit offiziellen Publikationen, konnten sie aber aus nachrichtendienstli­chen Quellen mitunter auch ergänzen. So wurde damals bekannt, dass der ehemalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, starke Vorbehalte gegen die Reihenfolge bei den INF-Verhandlungen hatte, in denen es um die Reduzierung von Atomwaffen in Europa ging. Er forderte, mit den Kurzstreckenwaf­fen auf beiden Seiten zu beginnen, da diese einzig dazu dienen konnten, deutsches Territorium zu bedrohen und gegebenenfalls zu vernichten. Die Publizierung seiner internen – und im Widerspruch zur amerikanischen Politik stehenden – Überlegungen konnte reale Abrüstungsbemühungen durchaus unterstützen. In solchem Vorge­hen – und nur hier – ist ein Sinn »aktiver Maßnahmen« zu erkennen, aber letztlich braucht man dazu keine Geheimdienste.

Als besonders spektakulärer Fall »aktiver Arbeit«, die bereits bis zu direkter Einflussnahme ging, wird immer wieder der »Kauf« der Stimme des CDU-Abgeordneten Julius Steiner beim »konstruktiven Misstrauensvotum« gegen Willy Brandt am 27. April 1972 genannt. Diese allerdings von der Abteilung II (Parteienbeob­achtung) der HVA verantwortete Operation zielte darauf, einen Regierungswechsel von Brandt auf Barzel im Zusammenhang mit den Ostverträgen zu verhindern, da die sozial-liberale Koalition besser ins Konzept der DDR und wohl auch der Sowjetunion passte. Nachdem einige FDP-Abgeordnete zur Union übergelaufen waren, schien die ohnehin knappe Mehrheit der Brandt/Scheel-Regierung nicht mehr gesichert, und Barzel ging zum Angriff über. Bei der Abstimmung jedoch fehlten ihm zwei Stimmen – jene Steiners, wie dieser später selbst zugab, ohne freilich auch einzugestehen, dass er dafür 50.000 D-Mark von der HVA erhalten hatte, und eine weitere, angeblich von Mende, der ursprünglich zu den abtrünnigen Frei­demokraten zählte, von der HVA-Abteilung X jedoch »umgedreht« worden sein soll. Man kann vielleicht auch dieser Aktion aus heutiger Sicht etwas abgewinnen – verhalf sie doch dazu, eine gerade eingeleitete, auf internationalen Ausgleich bedachte Politik von Rückschlägen freizuhalten. Wenn man aber weiß, dass der 1972 gerettete Brandt ein Jahr später durch diesen »Retter« und seinen Spion Guillaume zur Strecke gebracht wurde, und wenn man vor allem berücksichtigt, dass sich in den 70er Jahren die Entspan­nungspolitik ganz objektiv immer stärker durchsetzte, dann relati­vieren sich solche vermeintlichen Erfolge voluntaristischen Vor­gehens.

Noch deutlicher wird dies bei jenem »Kampf gegen Windmüh­lenflügel«, den die HVA letztlich im Auftrag der MfS-Bereiche leistete, die gegen die »innere Opposition« vorzugehen hatten. Solche Organisationen wie die »Internationale Gesellschaft für Menschenrechte« (IGfM) in Frankfurt/Main oder die »Hilferufe von drüben« oder auch der ZDF-Journalist Löwenthal unterstützten natürlich durch ihre Arbeit Menschen in der DDR, die sich gegen das Regime wandten oder einfach nur ausreisen wollten. Das machte sie zum verhassten Feind – so sehr, dass Markus Wolf noch 1992 in einem Gespräch eingestand, beim Namen Löwenthal nicht ruhig bleiben zu können. Da die eigentliche Arbeit dieser Gruppen und Personen in der Bundesrepublik mehr Zustimmung denn Kritik fand, wurde gerade sie nicht angegriffen. Statt dessen setzte man Verleumdungen und Diffamierungen ganz anderen Inhalts in die Welt, die teilweise zwar ihre Wirkung taten, letztlich aber am Ausreisedrang von DDR-Bürgern nicht das Geringste änderten. Der Trugschluss, die inneren Probleme im östlichen Staat würden von außen verursacht, lenkte den Kräfteeinsatz in eine völlig falsche Richtung und ließ »aktive Maßnahmen« solcher Art völlig vorpuffen.

Wo Spionage betrieben wird, provoziert das zwangsläufig auf der anderen Seite eine Spionageabwehr. Diese gehört normalerweise zur »inneren Abwehr«, soll sie doch verhindern, dass Geheiminfor­mationen aus dem eigenen Land abfließen. Die Nachrichtendienste entwickelten aber darüber hinaus Struktureinheiten, mit denen sie verhindern wollen, dass die gegnerische Abwehr allzu erfolgreich in dem Bemühen ist, die Aktivitäten des eigenen Dienstes zu unter­binden.

In der Sowjetunion gehörten solche Bereiche der »äußeren Abwehr« stets zur Auslandsspionage; ihre Aufgabe bestand darin, in die Aufklärung der anderen Seite einzudringen – weniger um zu erfahren, was diese bei uns in Bereichen der Politik oder der Wirtschaft ausspioniert, als zu wissen, inwieweit sie Kenntnis von den eigenen Kundschafteraktivitäten hat. So einleuchtend ein solches Vorgehen für die Betroffenen – nicht zuletzt im Interesse ihrer Sicherheit – erscheinen mag, letztlich verschwimmen hier die Grenzen zwischen dem ursprünglichen Sinn der Aufklärung und dem »Spiel der Geheimdienste«, das dann leicht zum Selbstzweck wird.

In der HVA existierte bis in die 70er Jahre hinein keine spezielle Abteilung, die sich mit solchen »Konter-Aktionen« befasste. Ver­schiedene Diensteinheiten verfolgten – ausgehend von ihrer eigent­lichen Aufgabenstellung – die Abwehrmaßnahmen des Gegners auf ihre Operationen. Die wurden natürlich perfektioniert in dem Maße, wie der Umfang der DDR-Spionage zunahm. 1973 wurde schließlich die Abteilung IX der HVA gebildet, die die Tätigkeit der Hauptabteilung II des MfS, die für die Spionageabwehr im Innern zuständig war, ergänzen sollte. Drei selbständige Bereiche entstan­den. Im ersten wurden die Geheimdienste der Bundesrepublik und anderer westlicher Staaten bearbeitet. Zum einen hieß es, in deren Auslandsaufklärung einzudringen, um Agenturen in der DDR zu enttarnen und ihr Wissen über unser Land und seine Bündnispart­ner zu erkunden. Zum anderen galt es, die Spionageabwehr dieser Dienste aufzuklären, was im Interesse der eigenen Sicherheit vor allem die Beschaffung sehr umfassender Kenntnisse – von ihrer Fahndungsarbeit bis zum Doppelagenten – einschloss. In einem zweiten Bereich stand die Aufgabe, Angriffe auf die legalen Geheimdienst-Residenturen in den Botschaften der DDR im Aus­land abzuwehren. Immerhin kam es jährlich zu 40 bis 50 Kontaktanbahnungen mit nachrichtendienstlichem Hintergrund; jede dritte bis vierte dieser Ansprachen entwickelte sich bis zu einem Werbe­versuch. Auch die Gebäude der DDR-Botschaften und -Handels­vertretungen mussten in gewissen Abständen von dort inzwischen angebrachten modernen »Wanzen« gesäubert werden. Der dritte Bereich war schließlich für die gedeckte Auswertung aller einge­henden Materialien zuständig.

Aufgestockt durch Mitarbeiter aus zahlreichen HVA-Abteilungen und unterstützt von Personal der Hauptabteilung II entwickelte sich die Abteilung IX schnell zu einer Säule innerhalb der HVA. Mit 300 Mitarbeitern, unter der direkten Anleitung von Markus Wolf und zuletzt mit dem einzigen General unter den Abteilungs­leitern, spielte sie bald eine beherrschende Rolle. Der Geheim­dienst beschäftigte sich mit sich selbst.

Innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit begann alsbald ein zähes Gerangel um die Kompetenz für die Bearbeitung der westlichen Geheimdienste. Die bislang dafür zuständige Haupt­abteilung II reagierte auf jeden Eingriff in ihre Rechte allergisch und wehrte sich gegen die Abgabe von Quellenvorgängen und Materialien, ließ sich in die Bearbeitung von Objekten in der Bundesrepublik oder in die Erfassung von Personen nicht hinein­reden. Die HVA hatte jedoch durch ihre Positionen im Operations­gebiet meist die besseren Karten und konnte sich allmählich durchsetzen. Diese internen Auseinandersetzungen ergaben sich auch aus dem Streben nach Macht und Ansehen, das mit der Betreuung besonders informationsträchtiger Quellen verbunden war. Es zeigte aber, dass es hier weniger um eine effektive Arbeit an einem gemeinsamen Ziel ging als vielmehr um Einfluss auf das »Spiel der Geheimdienste«.

Der letzte Leiter der Abteilung IX, Generalmajor Harry Schütt, war ein Meister auf diesem Gebiet. Er, der zuvor die für Militär­spionage zuständige Abteilung IV geführt hatte, nahm bei seinem Wechsel die dort betreute Quelle »Peter«, hinter der sich die Brüder Spuhler verbargen, wegen ihres hohen Ranges und der durch sie winkenden Meriten mit in seine neue Abteilung. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ihm dies 1991 die zweifelhafte Ehre bescherte, im ersten »Pilotprozess« gegen bundesdeutsche Spione und ihre Führungsoffiziere aus der DDR selbst vor Gericht zu stehen und verurteilt zu werden.

Der hohe Krafteinsatz der Abteilung IX bewirkte unübersehbare operative Erfolge. Einige Beispiele hochrangiger Quellen in bun­desdeutschen Geheimdiensten wurden schon genannt. Zu ihnen gehörte auch der Vorgang »Bingen«, mit dessen Hilfe es Anfang der 80er Jahre gelang, das gesamte Referat »Emigration« der Abteilung I des BND aufzuklären. Vom Referatsleiter Dr. Keil bis zum letzten Mitarbeiter lagen die Strukturen und zum großen Teil auch die Personalunterlagen vor. Die Tätigkeit dieses Referates, das sich damals naturgemäß um die Entwicklung in Polen kümmer­te, wurde paralysiert. Die Abteilung IX erfuhr auch einiges durch die von einer anderen Diensteinheit geworbene Sekretärin des außenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Werner Marx. Inge Goliath hatte neben politischen Informationen Materialien beschafft, die der HVA zu ihrer eigenen Überraschung tiefen Einblick in Strukturen, Arbeitsweisen, Informationsstand und politische Verbindungen des BND gewährten. Mit der Quelle »Ronny« gelang schließlich ein tiefer Einbruch in den amerikani­schen Geheimdienst CIA.

Soweit die Arbeit der Spionageabwehr der HVA dazu diente, entsprechenden Aktionen ihrer westlichen »Kollegen« die Spitze zu nehmen, gehörte sie zum normalen Geschäft, wie es jeder Geheimdienst betreibt, und konnte sich im Einzelfall sogar positiv auf internationale Prozesse auswirken. Das Beispiel der Quelle »Bingen« zeigte jedoch zugleich, dass auch in diesem Fall die DDR-Aufklärung dem Irrtum aufsaß, die Veränderungsprozesse in Polen seien vor allem eine Sache westlicher Geheimdienste und könnten durch die Ausschaltung von deren Agenturen aufgehalten werden. Objektive Tendenzen wurden verkannt; mit dem untauglichen Mittel der Bekämpfung wurde versucht, ihrer Herr zu werden, anstatt die wahren Ursachen zu analysieren und darauf zu dringen, dass die Politik die entsprechenden Schlussfolgerungen zieht.

Im Grundprinzip des Misstrauens, das die Gesellschaften des realen Sozialismus beherrschte, liegt auch die Ursache für Zwei­gleisigkeit und Dopplungen in der nachrichtendienstlichen Tätig­keit. Wie schon die Spionageabwehr im MfS auf zwei – dann logischerweise miteinander rivalisierende – Dienstbereiche aufge­teilt war, so gab es auch zwei Stellen, an denen Militäraufklärung betrieben wurde. Neben der Abteilung IV der HVA fühlte sich dafür auch die Aufklärung der Nationalen Volksarmee (NVA) zuständig. Diese Praxis ist ebenfalls sowjetischer Übung entlehnt. Die mächtige Sowjetarmee musste natürlich über einen eigenen Aufklärungs­dienst – im Kriege sogar mit voller Berechtigung – verfügen; also wurde er der NVA auch für Friedenszeiten verordnet. Die Ziel­objekte waren die nämlichen wie bei der HVA, und trotz Bemühens um Abgrenzung beschafften beide Dienste – lange sogar ohne Abstimmung und gegenseitige Unterstützung – oft das Gleiche. Das galt für die Notstandspläne in der Bundesrepublik mit allen Details, das galt für Einschätzungen des Bereitschaftsstandes der assoziier­ten Streitkräfte der NATO, das galt für die Auflistung von Defiziten in der Ausbildung oder Ausrüstung der Bundeswehr, das galt für Manöverplanungen und Übungsberichte. Auch die Metho­den ähnelten sich natürlich, und nicht selten arbeiteten die Dienste gegeneinander statt sich zu unterstützen.

Die HVA hatte an einer solchen Orientierung auf Doppelarbeit ihren unleugbaren Anteil. Denn natürlich wollten Mielke und seine Statthalter in der Aufklärung den »Wettlauf« mit der NVA-Spionage gewinnen. Bereits 1968 war der Befehl 40/68 erlassen worden, mit dem es galt, jeglichen militärischen Überraschungs­angriff auf die DDR und ihre Verbündeten auszuschließen. Ende der 80er Jahre wurde dieser Befehl – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bedrohlichen Erkenntnisse über die amerikani­schen Pläne eines »Enthauptungsschlages« – aktualisiert, obwohl sich damals schon unübersehbar Anzeichen der Entspannung zeigten. Ein gigantisches Lagezentrum sollte weltweit alle Hinweise auf möglicherweise bevorstehende militärische Operationen erfas­sen. Unter Einsatz ungeheurer Mittel baute man für die MfS-Führungsstäbe Bunker und veranstaltete immer lebensfremdere »Verlagerungsübungen«. Im Atomkrieg sollten wenigstens die Militärs und die Geheimdienste überleben.

Der Hintergrund solchen Dualismus war neben den Prinzipien, dass Kontrolle besser als Vertrauen sei und doppeltes Nähen längere Haltbarkeit verspreche, auch hier das Streben der Spitzen von Armee und Geheimdienst nach Macht und Einfluss. Keiner wollte dem anderen nachstehen, wenn es darum ging, mit Aufklärungser­gebnissen auf einem Felde zu glänzen, das in der Politik höchste Priorität besaß. Erfordernisse der Sparsamkeit und Effizienz hatten dahinter zurückzustehen. Markus Wolf hatte zwar schon in den 70er Jahren mitunter darüber philosophiert, ob es nicht sinnvoll sei, die Spionage auf einige wenige Spitzenquellen zu reduzieren und von dem Anspruch gewissermaßen flächendeckender Aufklärung im Ausland wegzukommen. Doch diese Gedanken fanden keinerlei Echo, standen sie doch im Widerspruch zur gesamtgesellschaftlich betriebenen,offensichtlich systemimmanenten Gigantomanie, die schließlich von der Sowjetunion gelernt worden war und nicht zuletzt auch von deren KGB-Aufklärung betrieben wurde.

Dieses Denken in Machtkategorien und die damit verbundene Großmannssucht setzten sich innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit – wie beschrieben – fort. Besonders zwischen den Diensteinheiten der Aufklärung und der Abwehr bestanden ständig latente Spannungen, was natürlich nicht daran hinderte, bei Erfor­dernis eng zusammenzuarbeiten und gemeinsam Ergebnisse zu erreichen. Die Abwehr sah – von ihrer originären Aufgabe her und geschult an der stalinistisch geprägten Sicherheitsdoktrin – überall Feinde. Alles, was von der Norm abwich, weckte ihr Mißtrauen und geriet alsbald unter »operative Kontrolle«. Sie folgte auch hierin sowjetischen Vorgaben, denn der KGB hatte sein Feindbild-Denken über Jahre hin zementiert und zur obersten Maxime jeder Abwehrarbeit gemacht.

Mit diesem Warnsystem im Hinterkopf beurteilte die Abwehr auch die Arbeitsweise der HVA; sie war ihr schon der Westberüh­rung der Aufklärer wegen suspekt, und die nachrichtendienstlichen Mittel erschienen ihr undurchschaubar und daher verdächtig. Zwar nahm sie Aufklärungsergebnisse, die ihr in der Arbeit halfen, gern entgegen, aber deren Zustandekommen wurde immer wieder beargwöhnt. Und sie stellte ihre Forderungen, denen die HVA allzu oft entsprach. Obwohl viele HVA-Mitarbeiter der Meinung waren, dass Fragestellungen der Abwehr nach innen in den Aufgaben für Aufklärer außerhalb der Grenzen nichts zu suchen haben, gab es immer wieder faule Kompromisse. Mielke als Mann der Abwehr stand natürlich auf deren Seite, was die Situation der Aufklärung nicht verbesserte. Und Wolf hatte nicht das Rückgrat, sich gegen seinen Vorgesetzten durchzusetzen; er konnte nur da und dort vorsichtig bremsen.

Die Abwehr war besonders an Personen interessiert, die zu den sogenannten oppositionellen Kräften gehörten oder zumindest Zugang zu ihnen hatten. Diese versuchte sie anzuwerben, um so Informationen aus diesen Gruppen zu erhalten bzw. sie sogar gezielt zu beeinflussen. Menschen, die die Aufklärer interes­sierten, waren von anderem Zuschnitt. Sie suchten zuverlässige Staatsbürger, die in der Bundesrepublik agieren konnten. Dennoch fragte die HVA oft in Abwehr-Diensteinheiten nach geeigneten Werbekandidaten, da dort ein besserer Überblick über die Situation in bestimmten Bereichen bestand. Als Gegenleistung mussten die IM der HVA dann Berichte über die innere Situation ihres Betriebes, ihrer Verwaltung, ihrer Schule oder aus sonst zugängli­chen Bereichen liefern. Waren diese Informationen aussagekräftig, konnte der Abwehr-Offizier Geschmack an der Sache finden und seine Forderungen erhöhen, was bei der HVA schon des Zeitauf­wandes wegen wenig Freude auslöste. Und dennoch wurde solchen Wünschen stattgegeben, arbeiteten HVA-Aufklärer nicht selten auch nach innen.

Dies erfolgte vor allem dann, wenn der inoffizielle HVA-Mitarbeiter aus einem Bereich kam, an dem Abwehr-Diensteinhei­ten ebenfalls großes Interesse hatten. Das galt für das Bildungs­wesen, vor allem Universitäten und Hochschulen, und besonders für Reisekader jeglicher Couleur. An den Bildungseinrichtungen entbrannte ein regelrechter Kampf um die Kader, und es dürfte nicht sehr viele Studenten gegeben haben, die von der Staatssicher­heit nicht auf Mitarbeit angesprochen wurden. Was andererseits die Reisekader angeht, so versah die Abwehr sie – über ihre offiziellen Kanäle – mit derartigen Richtlinien, die eine Arbeit für die Aufklärung unmöglich machten. So war es ihnen verboten, außer den dienstlich zugelassenen irgendwelche anderen Kontakte anzu­knüpfen. Sie durften private Einladungen weder annehmen noch aussprechen. Reisten sie in Gruppen, so überwachte einer den anderen. Und die meisten hielten sich auch daran, um sich weitere Reisen nicht zu verscherzen. Die HVA brauchte jedoch Leute, die genau das taten, was ihnen die Abwehr untersagte, um Kontakte anknüpfen zu können. Wurde das dann in der Abwehr-Diensteinheit bekannt, half meist nur die totale Bereitschaft zur Kooperation auch mit ihr, wenn eine Weiterarbeit als Aufklärer erreicht werden sollte.

Das Mißtrauen seitens der Abwehr wurde ergänzt durch die Einbindung der Aufklärer in die Parteidisziplin. Wie dargestellt, musste jeder MfS-Angehörige SED-Mitglied sein. Viele wurden überhaupt nur geworben, wenn diese Voraussetzung erfüllt war, und von ganz jungen Mitarbeitern, zumeist Sekretärinnen oder aus technischen Bereichen, wurde verlangt, dass sie unmittelbar nach ihrer Dienstaufnahme auch in die Partei eintraten. Sogar Kund­schafter aus dem konspirativen Netz wurden formal in die Partei aufgenommen, mussten Parteibeitrag leisten und wurden in diesem Zusammenhang in völlig überflüssiger Weise registriert – ein Verstoß gegen die Konspiration, den jedoch aufgrund der angeblichen Unfehlbarkeit von Parteibeschlüssen niemand in Frage stellte.

Auch die Rolle der Partei war für HVA-Angehörige eine Selbstverständlich­keit, an der sich niemand Zweifel erlaubte. Und die obligatorische Mitgliedschaft aller in der SED war zugleich Voraussetzung der ständigen Einflussnahme der Partei. Jeder Zweifel an ihrer Lehre galt als Sakrileg. Ohne Partei ging nichts, mit der Partei alles.

Und dennoch hatte der Parteisekretär – gleich auf welcher Ebene – kaum Einfluss auf operative Prozesse. Seine Aufgabe war die »ideologische Stählung der Kader«. Er sollte zwar an allen wesentlichen Beratungen der dienstlichen Leitungen teilnehmen, doch wurden dort dann aus Gründen der Konspiration operative Fragen kaum behandelt. Vielmehr war dem Parteisekretär aufgetra­gen, die allgemeinen Aufgabenstellungen des jeweiligen Bereichs ideologisch zu begründen und erzieherisch durchzusetzen. Er musste darüber wachen, dass niemand aus der Reihe tanzte – und wenn das doch geschah, entsprechend eingreifen. Gegenüber dem Leiter übte er ein gewisses Maß an Kontrolle aus und entwickelte sich – zumal wenn er gute operative Arbeit leistete – hier und da zu dessen Rivalen. Vielen Parteisekretären war das jedoch nicht vergönnt, da sie sich in ihrer undankbaren Funktion verschlissen. Sie mussten nämlich die überraschenden Richtungsänderungen der SED ebenso begründen wie ihre Abstinenz von jeglichem Reform­denken. Auf viele Fragen des täglichen Lebens wussten sie keine Antwort, ständig wurde aber verlangt, diese auch ohne »Hilfe von oben« zu finden. Und wenn sie in ihrer Not dann nach dem gesunden Menschenverstand argumentierten, lagen sie oft »schief« und wurden kritisiert. Denn die SED-Oberen vertraten einen Unfehlbarkeitsanspruch, dem sich jeder zu unterwerfen hatte. Auch die Arbeitsergebnisse der HVA wurden daran gemessen und stießen nicht selten auf Zurückhaltung, wenn sie anderes aussagten, als die »Partei- und Staatsführung« wünschte. Honecker betrachtete – wenn man seinen Aussagen Glauben schenken darf – die Aufklä­rungsresultate als etwas der Westpresse Vergleichbares. Er sagte in einem Interview ein halbes Jahr nach seinem Sturz: »Die Berichte vom MfS, soweit sie nicht unter Geheimhaltung standen und auch nicht nur mir zugänglich waren, vor allem wenn es die westliche Seite betraf, erschienen mir immer wie eine Zusammenfassung der Veröffentlichungen der westlichen Presse über die DDR. Das sage ich hier in aller Offenheit. Ich selber habe diesen Berichten wenig Beachtung geschenkt, weil all das, was dort drin stand, man auch aus den Berichten der westlichen Medien gewinnen konnte.« Und auch Honeckers langjähriger »Kronprinz« und kurzzeitiger Nach­folger Egon Krenz bestätigte als Zeuge in einem Prozess, dass das Politbüro den Informationen der HVA meist nur wenig Bedeutung beigemessen habe.

Auf dieser Ebene der Parteispitze hat es eine Kontrolle des MfS im eigentlichen Sinne nicht gegeben. Die nahm Erich Mielke in seiner Doppelfunktion als Minister und Politbüromitglied selbst wahr; allenfalls ließ er sich von Honecker etwas sagen. Das Verhältnis zu Krenz, der altersmäßig sein Sohn sein konnte, war kühl, aber korrekt; immerhin bestand eine gewisse Zeit die Mög­lichkeit, dass der frühere FDJ-Vorsitzende Honecker ablösen könnte. Ohne jeden Einfluss war die Sicherheitsabteilung des Zentralkomi­tees. Sie schickte zwar zu allen wichtigen Beratungen im MfS einen Vertreter, aber dieser vertrat nie eine eigene Meinung. In der Regel erschöpfte sich sein Beitrag in einer Lobeshymne auf das MfS und seinen Minister. Als in den 80er Jahren der Krenz-Vertraute Wolfgang Herger Leiter der Sicherheitsabteilung wurde und bei Mielke seinen Antrittsbesuch machte, wies ihn dieser sofort in die Schranken: »Zu mir brauchst du nicht zu kommen. Die operative Arbeit im Ministerium entscheide ich! Kümmere du dich um die Parteiarbeit!« In diesem Sinne war auch der Chef der SED-Parteiorganisation im MfS, Horst Felber, nur ein Erfüllungsgehilfe Mielkescher Politik, ohne eigene Gestaltungskraft. Zwar mit dem Rang eines Generalmajors versehen, oblag ihm die »marxistisch­leninistische Erziehung der Tschekisten«. Er selbst beschreibt das so: »Mielkes Prinzip war, dass im MfS die Parteiorganisation die Mitarbeiter zu erziehen und sich nicht im geringsten um operative Belange zu kümmern hat.« Allerdings kann Felber nicht verhehlen, dass er diese Aufgabe bis zuletzt diszipliniert erfüllte – so diszipli­niert wie fast alle Parteifunktionäre des Ministeriums und auch der Hauptverwaltung Aufklärung.

Denn für die meisten von ihnen waren diese Machtspiele an der Spitze des MfS ohne Belang; sie fragten auch zumeist nicht, wie ihre Informationen beurteilt wurden. Sie machten ihre Arbeit, nahmen deren Ideologisierung und die »tschekistischen« Dogmen in Kauf und versuchten dennoch, den erforderlichen Freiraum für den Umgang mit den Kundschaftern zu erhalten. Das führte zwangsläufig zu einer Bewusstseinsspaltung, die aber als gegeben hingenommen wurde. Wer nicht scheitern wollte, sah weg bei den Dingen, die ihn nach seiner Auffassung nichts angingen, und erfüllte die rituellen Forderungen, die in Parteiversammlungen und anderen politischen Veranstaltungen verlangt wurden. Ansonsten aber gestalteten die meisten ihren Dienst nach den eigenen Vorstellungen, entschieden eigenverantwortlich, was bei der kom­plizierten Aufgabe der Spionage im Bereich des Gegners jeweils erforderlich war. Diesen Dualismus von ideologischen Dogmen einerseits und individuellem Handeln auf der anderen Seite haben fast alle fatalistisch akzeptiert. Dies führte zu Verstrickungen, die damals kaum einer wahrhaben wollte, die sie aber heute als Ausgangspunkt ihres Mitschuldig-Werdens begreifen mussten.