(pri) Es war eine ziemlich seltsame Vorführung die man unlängst im Greifswalder Literaturzentrum Koeppenhaus beobachten konnte. Zwar versprach die Ankündigung „Uwe Johnson und die politischen Magazine des DDR-Fernsehens ‚Prisma‘ und der ‚Der schwarze Kanal‘“, doch von Johnson selbst war dort außer einigen Bänden seines „5. Kanals“ nichts zu sehen; seine stille Beteiligung am Geschehen wurde beim Publikum als gegeben vorausgesetzt.
Stattdessen zeigte die Leinwand blasse Schwarz-Weiß-Aufnahmen zweier Sendungen, die das damals noch junge DDR-Fernsehen am 8. Juni 1964 und am 26. November 1964 ausgestrahlt hatte. Beide Beiträge sparsam kommentiert von Yvonne Dudzik, Literaturwissenschaftlerin und beschäftigt mit der auf 43 Bände angelegten Johnson-Werkausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Rostock, und Andy Räder, Medienwissenschaftler am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald. 27 Minuten lang konnte Karl-Eduard von Schnitzler seine Kommentare zur bundesdeutschen Tagespolitik darbieten. 34 Minuten führte „Prisma“-Moderator Gerhard Scheumann seine Erkenntnisse vor.
Das Koeppenhaus versetzte also sein Publikum in die Situation vor 61 Jahren, als die Beiträge des DDR-Fernsehens liefen. Und nun konnte es – sofern es die damaligen Rezensionen Johnsons im Ohr hatte – dessen Kommentare damit konfrontieren.
Schnitzler beschäftigte sich damals mit einem ziemlich aufregenden Vorschlag der DDR, hierzulande solche Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit freiverkäuflich zu vertreiben, wenn Gleiches auch für die führende DDR-Zeitung Neues Deutschland in der Bundesrepublik gelten würde. Das hatte der Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesrepublik, Karl-Günther von Hase, umgehend zurückgewiesen, weil es sich beim Neuen Deutschland um die Zeitung einer Partei handele, die vom Bundesverfassungsgericht verboten worden sei. Gleichwohl gab es – nicht zuletzt wegen des vom Westen schon lange gewünschten Informationsaustausches – Verhandlungen zwischen beiden Seiten, die letztlich daran scheiterten, dass die DDR das Thema in damals undenkbaren Regierungsverhandlungen durchsetzen wollte.
Beinahe, so schlussfolgerte damals Uwe Johnson, sei es Schnitzler damals gelungen, „das Klassenziel seiner Sendung fast zu erreichen, nämlich durch Gegenüberstellung von Filmen zwanglos den Sachverhalt festzustellen, den die Gefilmten nicht erkennen oder leugnen, mag das Verfahren doch polemisch sein, solange es begründet ist“. Hier jedoch „goß er seine Beweisführung in den Rinnstein mit der Behauptung, in seinem Land gebe es ‚für die Informationsfreiheit kein schwieriges Hindernis‘. Seine Informationen über die eigenen Verhältnisse sind eben nicht die freiesten.“
Weitaus besser für Schnitzler sah es beim zweiten Thema aus, der anstehenden Wiederwahl des Bundespräsidenten Heinrich Lübke, zu dem es in der Zwischenzeit DDR-Fotodokumentationen über seine Beteiligung am KZ-Zweiglager Dora II von Buchenwald und seiner Verbindung mit der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde gab. Da „mußte von Sch. sich gar nicht mehr mit den persönlichen Peinlichkeiten Herrn Lübkes befassen, es genügte ja das Photo von Peenemünde, immer noch unwidersprochen durfte er das KZ-Zweiglager Doras II von Buchenwald erwähnen, er zeigte westdeutsche Jugendliche, die schüchtern an der Amtseignung Herrn Lübkes zweifelten, er zeigte die Vorsitzenden der westdeutschen Parteien und ließ sich noch einmal sagen, was sie gesagt haben, da musste er gar nicht mehr selbst aussprechen, daß weder CDU noch SPD noch FDP einem Antifaschisten zutrauen, das deutsche Volk zu repräsentieren, dass sie aber diesen ‚für den Präsidenten aller Deutschen‘ halten, da konnte von Sch. auf ein Schlußwort verzichten und sich bedanken. Er hat sich bedankt.“
So überraschend schon Johnsons unideologische Sicht auf Karl-Eduard von Schnitzler war, zeigte sie sich noch ausgeprägter bei seiner Beurteilung des Magazins „Prisma“, zu dessen Ehrenrettung er vor seinem Beitrag zur Sendung vom 26. November eine kleine Lobeshymne verfasste: „Die Reportagen dieser Redaktion fallen nach wie vor auf durch den Stil der Inszenierung. Der Unterschied zum Pathos, auch dem Schweiß, mit dem andere Redaktionen ihre Angelegenheiten in Bild umsetzen, ist groß. Bemerkenswert, daß Prisma in der Regel nicht leere Formen nur der Mode wegen aus westdeutschen Produktionen übernimmt, sondern das Bild von den Aspekten des Themas her interessant macht; bemerkenswert auch, daß der einheitliche Stil nicht von einer Person entwickelt sondern von einem vielköpfigen Kollektiv durchgehalten ist, und ginge es nur darum, dem Ausdruck ‚den schwarzen Peter zuschieben‘ eine schwarze Katze in einem gar nicht dazugehörigen Fenster zu unterlegen, statt den üblichen Rücken des Interviewers. Mag die Flucht vor dem Schema zu verkrampften Lösungen führen, meist gelingt ein nicht konventioneller, frischer Blick auf die Gegenstände. Diese Arbeitsweise, im Verein mit einer unbefangenen Fragestellung, macht die Sendungen dieser Redaktion auch zu einem nicht langweiligen Magazin von Nachrichten.“
In der Sendung selbst ging es um die Tatsache, dass im gesamten Kreis Meißen nur 30 Prozent der Wohnungen intakt waren. Die Beseitigung der Schäden bei den übrigen – dazu zeigte der Film im Original durchlöcherte Dächer, kaputte Fassaden, marode Innenräume, wie sie heute immer wieder gerne gezeigt werden, will man auf den Wohnungszustand der DDR blicken – verlangte 33 Millionen Mark. „Mit den freiwilligen Feierabendbrigaden“, so Johnson, „ist das nicht zu schaffen, und schaffen sie das, werden der Stadt entsprechend Mittel gestrichen. Die Stellungnahmen der verantwortlichen Funktionäre waren nach Argumenten aneinandergefügt, so daß sie miteinander sprachen, ohne es zu wissen, und vom Redakteur der Sendung zum Schluß rezensiert wurden als unbefriedigend, wiederum mit dem Optimismus einer publizistischen Großmacht.“ Freilich konnte das Magazin Mängel solcher Art in der Perspektive immer weniger zeigen; die Redaktionen wurden vielmehr angehalten, derartige Themen aus ihren Sendungen zu vermeiden, um unerwünschte Reaktionen in der Bevölkerung auszuschließen.
Beim zweiten Thema, einem wegen einer 5 im Sport verweigerten Schulabgangszeugnis, „hatten die Methode des Interviews und die Aufgliederung des Stoffs die Redaktion in die Lage versetzt, aus Äußerungen des Alltags Formen des Verhörs, des Disputs, des Botenberichtes zu einer dramatischen Geschichte aufzubauen, in der ‚Prisma‘ als Anwalt der Gerechtigkeit dazu beitrug, die 5 zu ändern. Auf diese Weise erfährt der Zuschauer nicht nur von der Bereinigung der Geschichte, sondern auch, was für Geschichten möglich sind.“
Es war dies die Beseitigung einer bürokratischen Haltung, die sich wenig um die Belange der Betroffenen kümmerte, sondern das vorgegebene Maß durchzusetzen versuchte. Die betroffene Sportlehrerin war daran ebenso wenig schuld; sie tat nur, was ihre Pflicht war. Die Verantwortlichen saßen höheren Orts; einer von ihnen musste am Ende lautstark Buße tun. Zumindest diesbezüglich waren die DDR-Medien auch Eingabeverwalter – am Ende übernahm der Staatsratsvorsitzende selbst diesen Posten. Und die Eingabeverfasser waren damit an der richtigen Stelle.
Uwe Johnson nahm das DDR-Fernsehen – zu seiner Zeit des Jahres 1964, in dem er jene 99 Rezensionen verfasste, die der Tagesspiegel veröffentlicht hatte, und dazu gleichzeitig das Programm des von ihm so genannten „5. Kanals“ – durchaus ernst. Er sah im DDR-Fernsehen einen Versuch, politisch Einfluss zu nehmen – ob nun als Karl-Eduard von Schnitzler auf die Bundesrepublik oder durch „Prisma“ und andere Sendungen auf die DDR.
Das verbot jede ideologische Attitüde; für ihn ging es darum, was stimmte und was nicht. Da konnte von Schnitzler schon einmal richtig liegen, aber auch die DDR-Wirklichkeit am Maßstab der Wahrhaftigkeit scheitern. Johnson war damals viel weiter als etliche der heutigen Medienzunft. Mitten im kalten Krieg schuf er eine Betrachtungsweise der beiden deutschen Staaten, die sich an Tatsachen orientierte und nicht an „Faktenchecks“, bei denen das „richtige“ Angebot mehr oder minder mitschwingt.
Uwe Johnson: Der 5. Kanal, Rostocker Ausgabe. Zweite Abteilung: Schriften, Band 2. (Hrsg.: Yvonne Dudzik, Andy Räder und Denise Naue) Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 567 Seiten, 48 ,00 Euro.
Die Schreibweisen des Originals wurden beibehalten.
(Veröffentlicht in „Das Blättchen“, Nr. 14, am 18. 08.2025)