(pri) Die weltpolitische Lage gehorcht heute allein dem Stärksten – wie vor dem 1. Weltkrieg. Aber die Gefahren für die Menschheit sind ungleich größer als damals
Als Wladimir Putin im Februar 2022 völkerrechtswidrig die Ukraine überfiel, war das Geschrei riesengroß, und vor allem deutsche Politiker klagten den „Schurken“ aus Moskau frontal an. Niemand bezweifelte die Verletzung des Völkerrechts, nicht einmal die meisten Freunde Russlands, aber der vereinte europäische Westen sah darin täglich ein neues Verbrechen des Terrorismus, wie der ukrainische Präsident in seinen täglichen Botschaftern immer wieder beteuert.
Heute aber klingt das ganz anders, denn inzwischen sitzt der Westen selbst mit im Boot der Völkerrechtsfeinde! Ein anderer internationaler Akteur mit der entsprechenden militärischen Stärke, die gerade von der NATO systematisch auf höchstes Niveau gebracht wurde, hat nämlich genau das Gleiche getan und das Völkerrecht gebrochen – nicht nur gegen die Palästinenser, sondern auch gegen den Iran. Mühsam versuchen botmäßige Juristen, Israel eine Art Sonderrecht im Umgang mit dem internationalen Recht zuzusprechen, und der deutsche Bundeskanzler lobt sogar Israel für die „Drecksarbeit“, für die wir uns eigentlich nur bedanken sollten, denn er rettet natürlich auch uns damit vor dem Atomtod.
Auch Putin hat seinen Platz im krisengeschüttelten, kriegsgebeutelten Tagesgeschehen, aber es sind andere, die die prekäre Weltlage uferlos auszudehnen versuchen und keine Hemmung haben, deren Opferzahlen bis hin zum Genozid auszuweiten. Dann erinnert man sich plötzlich gar der Sowjetunion, die doch so ausrechenbarer und kalkulierter zu betrachten gewesen sei als das derzeitige Putin-Regime. Ja, so ist es tatsächlich gewesen, und der Warschauer Pakt hat zwar seine Mannschaft zusammen gehalten, zugleich aber dafür gesorgt, dass der Weltfrieden eine Chance erhielt. Es war eine Balance auf gleicher Augenhöhe; sie zerbarst erst damit, dass der Sozialismus zusammenbrach, und der Westen die eigentliche Chance erkannte. das Pendel in die eigene Richtung zu drehen.
Natürlich konnte jeder den Wunsch äußern, in die NATO einzutreten, doch deren Mitglieder hatten die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das westliche Bündnis nicht zu einer Gefahr des Weltfriedens zu machen, indem man es einseitig gegen Russland ausrichtete. Das aber haben sie schrittweise versäumt und am Ende gehofft, die Moskauer Führung lasse sich auf Dauer einhegen.
Man kehrte also mehr als 110 Jahre zurück – an die Jahre vor dem ersten Weltkrieg, als die Politiker wie „Schlafwandler“ auf einen Krieg zustrebten, den sie damals vielleicht nicht kommen sahen, heute aber bewusst herbeizuführen versuchen. Die angestrebte Einvernahme der Ukraine, die übrigens viele Jahre sehr gut mit Russland zusammenlebte und innenpolitisch mal mehr nach dem Westen, mal mehr nach dem Osten strebte, als Beute gegen die Russen haben den Krieg ausgelöst.
Er ist von Russland verschuldet, aber auch vom Westen bewusst gewollt worden. In einer Welt, in der sich längst die Macht des Stärkeren durchsetzte, hat Putin – ob er es wollte oder nicht – sich selbst zum Imperialisten gemacht und seine nationalen Interessen vertreten. Er wurde in einer Welt der Imperialisten zu eben einem solchen – oder erwartete man von ihm eine sozialistische Politik, darauf gerichtet, Frieden und Verständigung zu erhalten, während um ihn herum die lauernden Hyänen auf ihre Chance warteten?
Anders als der Westen, der mit seinen Positionen nur Wunschziele beschrieb und damit nur sein strategisches Unvermögen vorzeigte, ging er von den Fakten einer imperialistischen Welt aus, die von ihrer Genesis her nicht in der Lage ist, einheitlich eine militärische Rolle zu spielen. Keines der EU-Länder ist in der Lage, allein etwas gegen Russland zu unternehmen. Aber zusammen können sie einfach nicht kommen, weil sie alle das eigene Profitinteresse eint, das ein wirksames Zusammenspiel der einzelnen Kräfte verhindert.
Ein aufmerksamer Beobachter der imperialistischen Entwicklung hatte bereits 1916 sehr deutlich gemacht, wohin es führt, wenn sich gegenseitig belauernde Mächte zu einem Bündnis zusammenschließen wollen – nämlich zum Krieg. Er schrieb damals: „Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staats zu prüfen, gibt es und kann es kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg ist kein Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, sondern er ist das direkte und unvermeidliche Entwicklungsergebnis dieser Grundlagen. Unter dem Kapitalismus ist gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung der einzelnen Wirtschaften und der einzelnen Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel zur zeitweiligen Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts als Krise in der Industrie und Kriege in der Politik.“
Schaut man heute auf die Europäische Union, dann ist der damalige Befund – er stammt übrigens von Wladimir Iljitsch Lenin – fast so aktuell wie die Gegenwart. Die EU besteht aus den Starken, den „Willigen“ und den Schwachen, die ohne die starken Glieder nichts tun können (Baltikum) oder viel zu schwach sind, um eine eigene Meinung zu äußern (Südeuropa). Nochmals Lenin: „Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel zur zeitweiligen Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts als Krise in der Industrie und Kriege in der Politik.“
Was also sollte Putin daran hindern, dieses Grundgesetz des Imperialismus auszunutzen? Die Schwäche des Westens ist strukturell; er kann keine geschlossene Einheit gemeinschaftlichen Handelns hervorbringen, gerade weil sie alle im einzelnen ihrer persönlichen – mehr oder minder – imperialen Interessen verfolgen, sie durchsetzen können oder an ihnen scheitern. Und deshalb genügt es Putin auch, Teile der Ukraine territorial zu vereinnahmen und das Land selbst zu demilitarisieren, damit aus dieser unmittelbaren Nachbarschaft keine Gefahr für das eigene Land entsteht.
Und fast genauso geht es Israel, das sich auf einem Land ansiedelte, das schon von einer Völkerschaft besetzt war. Daraus entwickelte sich über die Jahre ein tiefgehender Konflikt mit den Palästinensern, den die israelische Gesellschaft in ihrer übergroßen Mehrheit für sich entschied und in dem sie – ebenfalls mehrheitlich bestimmt – keinen Platz für die Palästinenser mehr sieht. Die Politik Netanjahus baut darauf auf; mit Menschenrechten und dem Zusammenleben unterschiedlicher Völker in vereinbarter Gemeinschaft hat das nichts mehr zu tun. Es ist die brutale Durchsetzung der eigenen Interessen gegen einen Schwächeren – und sei es mit dessen Bekämpfung bis in den Tod, wobei die israelische Wucht der Angriffe jene der russischen in der Ukraine weit übersteigt. Israel geht es nicht um einen Sieg über die Palästinenser, sondern um deren Vertreibung von ihrem eigenen Land.
Mit der in der Sache beinahe folgenlosen Unterstützung Israels für diesen Kurs haben sich die EU und ganz besonders Deutschland dessen völkerrechtswidrigem Kurs angeschlossen. Beide Länder brechen das Völkerrecht; wer sie dabei unterstützt, hat das Recht verspielt, sich in die Position eines Rechtsvertreters zu begeben. Er tut das, was Lenin vor beinahe 110 Jahren schon voraussagte: Er handelt als Imperialist, der für sich und die seinen das Bestmögliche herausholt – ohne Rücksicht auf jeden anderen und ohne Anerkennung von deren Rechten, vor allem derjenigen, die militärisch schwächer sind. Ein imperialistisches Verhalten par excellence.
Nur eins ist heute anders: die Gefahr, dass ein Krieg heute nicht mehr mit dem vergleichbar ist, was vor mehr als 100 Jahren passierte. Diesmal geht es um die Existenz der Menschheit.