Heute vor zwanzig Jahren war Erich Honecker zum letzten Mal in seiner Heimat. Schon vor zehn Jahren war dies Anlass, über die Nachwirkungen dieses Besuchs in seiner Gebursstadt Wiebelskirchen zu reflektieren, dauerte er doch nicht viel länger als eine Stunde. Entsprechend knapp waren schon damals die Erinnerungen. Sie sollen aus genanntem Anlass ins Gedächtnis gerufen werden – mit diesem Artikel, der heute vor zehn Jahren im „Neuen Deutschland“ erschien.
»Strohhalm« heißt die urige Kneipe in der Wiebelskirchener Kuchenbergstraße: Butzenscheiben filtern das Licht, so daß das Logo mit den bunten Halmen an der Decke kaum zu sehen ist. Künstliches Efeu rankt sich um die Balken. Grelle Feuerstuhl-Poster schreien von den Wänden. Über dem Tresen baumeln Plüschtiere, drunter zischt es weißschäumend aus einer schönen alten Zapfsäule. Man sollte meinen, daß hier »der Bus abgeht«, täglich zwischen 11 und 1, und am Wochenende gar bis 3 in der Früh – die einzige Wiebelskirchener Kneipe, die solch eine Konzession hat, wie Daniel Hans, der erst 23jährige Wirt, stolz mitteilt.
Der Bus geht dort wirklich ab, allerdings im ganz profanen Sinn, denn vor der Tür ist die Haltestelle der Linie 2. Die ist seit Menschengedenken nach der sich anschließenden Prälat-Schütz-Straße benannt – nicht nach dem »Strohhalm« und auch nicht nach jenem Wiebelskirchener, der im Nebenhaus Kindheit und Jugend verbrachte: Erich Honecker. Und das obwohl gerade der die kleine Bergarbeitergemeinde weltweit bekannt machte und nebenbei der seinem Vaterhaus benachbarten Gastwirtschaft zu besonderer wirtschaftlicher Blüte verhalf – vor zehn Jahren, als er seine alte Heimat noch einmal besuchen durfte. Damals wurde der »Strohhalm« zu einem solchen der internationalen Medienindustrie. Von hier aus hoffte man einen Blick ins sorgsam verborgene Privatleben des SED-Generalsekretärs und DDR-Staatsratsvorsitzenden werfen zu können. Fernsehteams, Übertragungswagen, schon damals nicht gerade mit feinen Manieren ausgestattete Paparazzi, Ritter der schreibenden Zunft – sie alle saßen in dem winzigen Gastraum, warteten, rauchten, schwatzten, und aßen und tranken. »Sie könnten alle noch mal wiederkommen«, sagt André Grevsmühl, 24jähriger Kompagnon, und blickt wehmütig auf die leeren Tische.
Damals erwog die frühere Wirtin gar, eine Art Honecker-Kultkneipe aus ihrem Etablissement zu machen, so anziehend war die ungewöhnliche Nachbarschaft. Sie ließ es dann – und das war gut so, denn inzwischen ist der »Strohhalm« eine Kneipe fast wie jede andere, in der am Vormittag Handwerker ihr zweites Frühstück einnehmen und ab Nachmittag die Arbeiter ihr Bier zischen. Die beiden jungen Betreiber, die zwar den Honecker-Spruch »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung« nicht kennen, aber trotzdem so tun, als wäre er auch ihnen mit der Muttermilch verabreicht worden, müssen sich zum Überleben immer etwas Neues einfallen lassen. Bisher gelang es; zum Einstieg in die Herbstsaison wird bereits für eine Hawaii-Party geworben. Denn über Honecker sprechen bei Daniel und André eigentlich nur Zugereiste, meist Polit-Touristen. Auch in Wiebelskirchen haben die Leute andere Sorgen. Die Zechen, ihre frühere Existenzgrundlage, sind geschlossen. Ersatzarbeitsplätze gibt es kaum. Dafür steigen ständig Steuern und kommunale Gebühren. »Alle Leute schimpfen, wissen nicht mehr, wen sie wählen sollen«, erzählt Fritz Schlosser, 76 und einer der letzten Aktivisten der Wiebelskirchener DKP.
Wehmütig blickt er auf stolze Zeiten zurück. 1930 hatte die KPD hier bei der Gemeinderatswahl 1754 Stimmen geholt, gegenüber 818 für die SPD. Honeckers Vater Wilhelm wurde einer der Gemeinderäte. Dann folgten Faschismus und Krieg, viele der Genossen kamen nicht zurück, der Kalte Krieg nach 1945 tat das Übrige. Zwar blieben die Kommunisten relativ stark, aber den alten Einfluß gewannen sie nie zurück. Alle fleißige Kleinarbeit brachte letztlich nur magere Ergebnisse, doch Honecker – konnte er nicht für einen neuen Aufschwung sorgen?
1987 schien die Stunde der DKP gekommen. Sie veranstaltete ein großes Sommerfest, zu dem kaum ein Wiebelskirchener fehlte – weder Tanzgruppe noch Fastnachtsverein, weder der SPD-Ortsvorsteher noch die Naturfreunde. Die Straßen waren dicht gesäumt, die Leute saßen auf den Treppenstufen vor ihren Häusern und winkten. »Aber Erich hat nicht Halt gemacht, ist schnell durchgerauscht«, erzählt Heinz Brandstetter noch heute bekümmert. Er ist der jetzige Vorsitzende der Wiebelskirchener Schalmeienkapelle, die den Gast zwar später vor dem Neunkirchener Bürgerhaus begrüßen durfte, in Wiebelskirchen aber nur am Straßenrand stand. »Das haben die Wiebelskirchener nicht verstanden. Er hätte doch mit ihnen sprechen können. Da war sicher keiner dabei, der ihm ans Leben wollte.«
Die überall präsenten Sicherheitsorgane sahen das offensichtlich anders. Hatte es nicht Bombendrohungen am laufenden Band gegeben – sogar noch gegen sein Vaterhaus, in dem er sich mit seiner Schwester und alten Kampfgefährten zum Plausch treffen wollte? Auch der dauerte nur eine gute halbe Stunde: Begrüßung: Du bist doch der und der … Dann schenkte Schlossers Frau Margot, eine alte Bekannte und Freundin der Schwester, den Kaffee ein. Honeckers Wunsch nach Zwetschgenkuchen konnte Schwester Gertrud aber nicht erfüllen; der kam ihr zu gewöhnlich vor. Dann ein Blick in den Garten. Nur schwer vermochte sich Honecker zu orientieren. Zuviel hatte sich verändert. Aber einen reifen Apfel pflückte er vom Baum und versprach sogar; ihn zu essen.
Der das alles berichtet, der fast 81jährige Fritz Sick, der einzige noch in Wiebelskirchen lebende Mitstreiter aus dem kommunistischen Jugendverband, war zwar Augenzeuge, aber auch er war ein wenig enttäuscht: »Auf dem Friedhof, bei der Schwester, und damit war sein Wiebelskirchen so gut wie erledigt. Gern hätten wir mit ihm über die alten Zeiten gesprochen.« Dazu aber blieb keine Zeit. »Dafür fährst du jetzt zu Strauß, dem alten Gauner«, sagte einer der Alten unzufrieden. Denn eigentlich waren sie stolz auf »ihren Erich«, der, wie sie aus kleinen Verhältnissen kommend, etwas geworden war, »ä Wiebelskirchner Bub, der es zu was ‚bracht hat«, wie es Heinz Brandstetter ausdrückt.
Sie betrachteten Honecker noch immer als einen der Ihren – doch der Staatsratsvorsitzende dachte längst an Höheres. Erst mit dem dritten Entwurf seiner Eintragung ins Neunkirchener Goldene Buch war er zufrieden. Dem stand endlich das gewünschte »Seine Exzellenz« voran. »Für eine arbeitergemäße Form hielt ich das nicht«, sagt heute der Grafiker, »es war eher wie bei einem Papst-Besuch«. Und so lief denn auch das Programm ab – zumal sich die Honoratioren überall drängten. Erhoffte Nachwirkungen des Besuchs blieben aus, und mit der DDR ging es dann ja auch bald bergab. Dennoch, als Honecker im Mai 1994 starb, veranstaltete die Wiebelskirchener DKP in vollbesetzten Kulturhaus eine Trauerfeier. Noch einmal spielte die Schalmeienkapelle den »Kleinen Trompeter«. Die Volksrepublik China hatte eine offizielle Delegation geschickt, mehrere kommunistische Parteien waren vertreten. Die Stadt Neunkirchen allerdings beschränkte sich nun auf einen stillen Beobachter – und verweist heute vorsorglich darauf, daß nach der Friedhofssatzung in Wiebelskirchnen nur dort ansässige Bürger bestattet werden dürfen. Alles andere bedürfe einer Sonderregelung. Noch weniger als die Leute spricht man heute an offizieller Stelle über Erich Honecker. »Man möchte das wohl alles vergessen«, sagt Brandstetter, »so wie man überhaupt die ganze DDR vergessen machen will.«
Ein wenig gilt das auch für die meisten Wiebelskirchener. Wenn im »Strohhalm« mal jemand auftaucht, der nach dem ersten Bier wie beiläufig fragt: »Hat hier nicht irgendwo der Honecker gewohnt?«, dann verdrehen die Stammgäste die Augen. Die Wirtsleute geben zwar freundlich Auskunft, wissen aber auch, daß der Frager nach dem nächsten Bier aufbricht, vielleicht noch zwei-, dreimal auffällig-uninteressiert am Nebenhaus vorbeigeht und sich davor schließlich noch fotografieren läßt. »Manche machen sich dazu richtig zum Depp«, erzählt André Grevsmühl lachend. Sie setzen sich ein NVA-Käppi auf oder ziehen verstohlen eine DDR-Fahne aus der Tasche, ehe jemand auf den Auslöser drückt. Die wenigsten dürften sich darüber klar sein, daß ein solcher Schnappschuß unter Honecker nie ihr Fotoalbum hätte zieren können.
Gertrud Hoppstädter, die neben dem »Strohhalm« wohnt, ist froh, daß ihr Haus nur noch gelegentlich zum Bildmotiv wird. Vor zehn Jahren war sie von einer Fotografenhorde regelrecht belagert worden. Über Keller, Dach und Terrasse stiegen sie bei ihr ein, standen plötzlich im Schlafzimmer, lauerten jeden ihrer Schritte auf. Die resolute Margot Schlosser zog damals zu ihr, damit sie gegenüber den Paparazzi und ihren schreibenden Mittätern nicht ganz so schutzlos sei. Noch heute legt sie sofort den Hörer auf, wenn sich ein Journalist bei ihr meldet, und als sie von Fritz Sick hörte, daß er den ND-Reporter erwarte, sprang die 80jährige erschrocken auf: »Da muß ich mich ja flink auf die Füß‘ mache!«
In Wiebelskirchen ist Honeckers Schwester geachtet – wie auch seine anderen früheren Mitstreiter. Die Schalmeienkapelle gehört ganz selbstverständlich zur kulturellen Substanz des Neunkirchener Stadtteils; erst vergangenes Wochenende veranstaltete sie ein rege besuchtes Parkfest, in dessen Programmheft der SPD-Oberbürgermeister sein Grußwort nur einige Seiten vor jenem des DKP-Ortsvorsitzenden plazierte. Die Woche zuvor spielte sie auf dem Pressefest der »UZ« in Dortmund. »Wir halten linke Traditionen aufrecht, und man weiß hier, wer wir sind«, sagt Vereinsvorsitzender und DKP-Mitglied Heinz Brandstetter, »aber man weiß auch, daß wir anständige Musik machen.« Zur DKP-Ortsgruppe gehören mehr als 30 zahlende Mitglieder, immerhin 15 arbeiten aktiv mit. Vorsitzender Rainer Dörrenbecher ist nicht unzufrieden: »Wir haben uns hier gut gehalten.« Auch einige junge Leute sind dabei. Seine Tochter ist gerade begeistert von den Weltfestspielen in Kuba zurückgekommen.
Die ganz großen Ziele hat der Wiebelskirchener Honecker auch in seinem Heimatort nicht erreichen können – und doch sollte er darüber nicht unzufrieden sein: Im Nachbarhaus zwei junge Leute, die Vertrauen zu sich haben und Verantwortung nicht scheuen. Einige alte Genossen, die »ihren Erich« in bester Erinnerung halten. »Seine« Schalmeinekapelle, die trotz ihrer kommunistischen »Unterwanderung« in bestem Ansehen steht. Und eine DKP-Ortsgruppe, die zwar bei Wahlen nur zweieinhalb Prozent erreicht, deren Mitglieder aber ansonsten in Wiebelskirchen honorige Leute sind. Im rasenden Strudel der Veränderung vielleicht nur Strohhalme – aber immerhin.
Wiebelskirchen: ist keine Stadt, sondern ein Stadtteil von Neunkirchen. Stadt war es nie – es war ein Dorf.
Wiebelskirchen ist nicht der Geburtsort von Honecker. Hier ist er aufgewachsen. Honecker ist in Neunkirchen (Mitte) geboren.