Kurzer Prozess. Honecker & Genossern – ein Staat vor Gericht? Teil 2

In diesen Tagen vor 15 Jahren fand in Berlin der Prozess gegen Erich Honecker und drei weitere Angeklagte aus der DDR-Führungsriege statt. Vergangene Woche wurde in einem ersten Beitrag an dieses Ereignis erinnert. Heute folgte ine weiteres, das zweite Kapitel – auf der Grundlage des 1993 im Verlag Elefanten Press erschienenen Buches »Kurzer Prozess. Honecker & Genossen – Ein Staat vor Gericht?«, das nicht mehr im Handel ist.

Die Angeklagten

Karrieren – oder: Der Koch als Kaiser

Erich Honecker war Dachdecker und wurde zum ersten Mann der DDR. Lenin hatte schon vor der russischen Oktoberrevolution eine Köchin für fähig gehalten, den Staat zu lenken – die entsprechende Ausbildung vorausgesetzt. Emphatisch dichtete daraufhin Wladimir Majakowski:

 »Manschetten- und Brillenträger erboste,

verkrochen sich auswärts zu Fürsten und Kavalieren.

Glückliche Reise! Wir lehren, zum Troste,

jede Köchin die Kunst, den Staat zu regieren.«

Alle ursprünglich sechs Angeklagten des Honecker-Prozesses sind nach jener Lenin-Formel auf der Karriereleiter emporgeklettert, symbolisch vom Koch bis zum Kaiser, denn als solcher dürfte sich der »Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik« auf dem Gipfel seiner Macht gefühlt haben.

Am 25. August 1912 im saarländischen Wiebelskirchen zur Welt gekommen, besuchte er dort die Volksschule und wurde dann Dachdeckerlehrling. Volksschüler waren auch die anderen Angeklagten; lediglich Mielke ging anschließend zum Gymnasium, ehe er eine Lehre als Expedient aufnahm. Stoph lernte den Beruf des Maurers, Keßler und Albrecht wollten Schlosser werden. Sie alle stammten aus einfachen Verhältnissen, die Eltern waren Schmied und Näherin, Bergmann, Stellmacher oder Fabrikarbeiter. Sie konnten ihren Kindern alle nicht viel bieten – bis auf eins: erste Erfahrungen in der ewigen Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich.

Honecker und seine mitangeklagten Genossen erlebten – als Kinder – fast alle die Inflation der 20er Jahre und die unruhige Zeit der Weimarer Republik. Sie hatten Teil am relativen Aufschwung der kommunistischen Bewegung und ihrer Partei, der sie sich früher oder später anschlossen. Und sie lernten den »Klassenfeind« in seiner brutalsten, gerade die Kommunisten nicht schonenden Variante kennen – in der des Faschisten. Sie erkannten bald, dass dieser Gegner nur mit Härte in Schach zu halten oder gar zu besiegen war; mancher Kommunist lernte seine Fäuste zu gebrauchen und vertraute deren handfester Argumentation bald mehr als wortreicher Überzeugung. Honecker sah sogar Anlass, 1931 in einem von ihm initiierten Artikel in der Saarbrücker »Arbeiter-Zeitung« zu warnen: »Die bewaffneten Überfälle, die Mordtaten, die unzähligen Verbrechen der Nationalsozialisten können die Gedanken der individuellen Rache und des Einzelterrors erzeugen.« Dies lehnte er ab und empfahl stattdessen: »Gegen die faschistischen Überfälle helfen keine individuellen Schießereien, sondern nur der Massenkampf, die organisierte Abwehr, der wirkliche Massenselbstschutz auf der Grundlage der proletarischen Einheitsfront.« Wie auch immer – die Erfahrung des »Wer – wen?« prägten ihn und seine Mitkämpfer fürs Leben.

Ihre Bekräftigung fanden diese praktischen Erfahrungen des Klassenkampfes in der Erziehung, die die heute Angeklagten zumindest zeitweise in der Sowjetunion Stalins genossen. Honecker absolvierte 1930/31 einen einjährigen Lehrgang an der Internationalen Lenin-Schule der Kommunistischen Internationale in Moskau. Mielke floh nach der »Bülowplatz-Sache«, der Erschießung zweier Polizisten nach einer kommunistischen Demonstration, ebenfalls dorthin und arbeitete seither eng mit dem sowjetischen Sicherheitsapparat zusammen. Stoph wurde Anfang der 30er Jahre in der Sowjetunion geschult, darunter in militärischen Einrichtungen. Keßler lief während des zweiten Weltkrieges an der Ostfront zur Sowjetarmee über und arbeitete fortan – wie Stoph – gegen das Deutschland, das beide nicht als ihre politische Heimat betrachteten. Sie alle fanden im antifaschistischen Kampf der UdSSR die Bestätigung ihrer eigenen Ideale, und sie akzeptierten auch die Methoden, die Stalin dabei anwandte und die in ihren Folgen für den einzelnen oft nicht weniger grausam waren als die Untaten der Nationalsozialisten. Was sie vom Sozialismus kennenlernten, war zum einen dessen unversöhnliche Auseinandersetzung mit dem anderen, dem etablierten und daher stärkeren gesellschaftlichen System des Kapitalismus, überwiegend in seiner faschistischen Form, und zum anderen die durch den Stalinismus deformierte Verwirklichung der sozialistischen Ideale in der Sowjetunion. Andere Erfahrungen machten sie nicht, was wohl mit dazu beigetragen hat, dass sie diese schließlich so kritiklos auf das eigene politische Wirken übertrugen.

Honecker kam 1945 aus dem Zuchthaus, Keßler und Stoph kehrten im Gefolge Ulbrichts aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück, Mielke und Albrecht kamen aus dem Westen – der eine aus einem französischen Internierungslager, in das er nach dem Spanischen Bürgerkrieg und einem anschließenden Einsatz in Belgien geraten war, der andere aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Streletz verließ als blutjunger Soldat die Wehrmacht.

Sie alle begriffen schnell, dass unter sowjetischem Schutz der Aufbau der ihnen vorschwebenden neuen sozialistischen Ordnung möglich war – und sie machten sich ans Werk, bewusst oder unbewusst das Vorbild des »großen Bruders« kopierend. Dabei wurden sie schon bald mit dem alten Gegner konfrontiert. Der Anti-Hitler-Koalition war mit der totalen Kapitulation des deutschen Faschismus der gemeinsame Feind abhanden gekommen; nun brachen die tiefen, sozial definierten Widersprüche zwischen den ungleichen Partnern wieder auf. Churchills Fulton-Rede markierte auch offiziell das Ende einer pragmatischen Partnerschaft und leitete den Kalten Krieg zwischen den zeitweiligen Verbündeten ein.

Im geteilten Deutschland nahm die erneute Auseinandersetzung »Wer- wen?« besonders scharfe Formen an; ihre Exponenten auf beiden Seiten machten somit da weiter, wo die Nationalsozialisten durch ihr Terrorregime in den 30er/40er Jahren für weitgehende Friedhofsruhe gesorgt hatten. Die Klassenkämpfe der Weimarer Republik erlebten faktisch eine Neuauflage – nun aber organisiert auf getrennten und von sich bald feindlich gegenüberstehenden Besatzungsmächten kontrollierten Territorien, die sich immer mehr voneinander entfernten und schließlich – mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik – in staatliche Formen gegossen wurden. In seiner Autobiographie stellte Erich Honeckers das so dar: »Wir standen damals vor der Frage, entweder die antifaschistisch-demokratischen Verhältnisse zu festigen und planmäßig die revolutionäre Umwälzung auf dem Weg zum Sozialismus fortzuführen oder die antiimperialistischen, demokratischen Errungenschaften preiszugeben und eine Restauration monopolkapitalistische Verhältnisse zuzulassen. . . Unser Ziel war es, gemäß den Lehren unseres Jahrhunderts, in dem der deutsche Imperialismus zweimal verheerende Weltkriege entfesselt hatte, einen Staat zu schaffen, in dem die sozialökonomischen, politischen und geistigen Wurzeln des Imperialismus, Militarismus und Faschismus ein für allemal beseitigt waren. Die Macht sollte in die Hände des werktätigen Volkes gelegt werden und oberstes außenpolitisches Prinzip Frieden und Völkerfreundschaft sein.« Mit solchem Credo traten die »Aktivisten der ersten Stunde« im Osten Deutschlands an. Die sechs, die sich am 12. November 1992 auf der Moabiter Anklagebank versammeln sollten, gehörten zu ihnen.

Honeckers politische Nachkriegslaufbahn begann mit dem Aufbau der KPD-Jugendarbeit, von der aus sich nahtlos – noch vor der Vereinigung von SPD und KPD zur SED – die Freie Deutsche Jugend (FDJ) als einheitliche Jugendorganisation entwickelte. Er leitete diese bis 1955 und ging dann auf die Parteihochschule nach Moskau. Im Sommer 1956 kehrte er zurück und wurde sofort – wenn auch zunächst kommissarisch – mit Aufgaben betraut, die im Sicherheitsbereich lagen. Am 10. November berief ihn das Politbüro zum Sekretär der Sicherheitskommission des ZK. Und im Januar 1957, mit der Bildung der Abteilung für Sicherheitsfragen beim ZK der SED, wurde er deren Leiter. Nun arbeitete er sich zielstrebig nach oben. Bereits 1958 wurde er erst Mitglied des Sekretariats des ZK und dann auch Mitglied des Politbüros. Jetzt unterstand ihm der gesamte Sicherheitsapparat der DDR: die entstehende Nationale Volksarmee, das Ministerium für Staatssicherheit, Polizei und Zoll. Als Ulbricht im März 1960 den Nationalen Verteidigungsrat bildete, avancierte Honecker zu dessen Sekretär. Vorbereitung und Durchführung des Mauerbaus waren gewissermaßen sein »Meisterstück« in diesen Funktionen. Mit der Macht über alle Sicherheitsorgane hatte er sich zugleich ein Sprungbett nach ganz oben geschaffen.

Von ihrer Vita her hätte man dies eigentlich eher anderen Kadern zugetraut – zum Beispiel Erich Mielke. Der 1907 geborene gehörte bereits dem KPD-Selbstschutz an und kam später in der Sowjetunion unter die Fittiche des stalinistischen Geheimdienstes. Als Mitglied der Internationalen Brigaden kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg. Nach seiner Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone widmete er sich dem Aufbau erst der Polizei, dann des Partei-Geheimdienstes und schließlich all derjenigen Organe, die schließlich das Ministerium für Staatssicherheit bildeten. Er hatte immer eine Schlüsselposition inne, war aber gegenüber dem Parteichef – ob Ulbricht oder Honecker – stets loyal, allerdings nur bis zu dem Augenblick, wo er eine deutliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der Parteiführung ausmachte. So half er 1971 Honecker an die Macht, was dieser mit einem Platz im Politbüro honorierte. Bei Ulbrichts Sturz kam hinzu, dass Mielke eindeutige Signale aus Moskau empfangen hatte – und der Wunsch der Sowjetunion war ihm allemal Befehl. Selbst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ließ er auf den »großen Bruder« trotz Gorbatschows Politik lange nichts kommen, doch fehlten diesmal entsprechende Anstöße zur Einleitung von Personalveränderungen, so dass Mielke seinem Generalsekretär bis fast zum Schluss die Nibelungentreue hielt.

Auch Willi Stoph verdankt seine durch Schwankungen kaum unterbrochene Karriere den Kontakten zum sowjetischen Sicherheitsapparat. Bereits mit 17 Jahren wurde er 1931 Mitglied der KPD, aber eine parteiinterne Biografie sagte über die Jahre danach nicht mehr als: »Nach der Errichtung der faschistischen Diktatur nahm er am illegalen antifaschistischen Widerstandskampf teil. Zum Kriegsdienst in der Naziwehrmacht verpflichtet, leistete er auch hier antifaschistische Arbeit.« Stoph war bereits 1935 zum Militärdienst eingezogen worden und absolvierte diesen bis 1937 in einem Brandenburger Artillerieregiment. Von 1940 bis 1942 war er erneut Soldat, jedoch nicht im direkten Fronteinsatz, sondern als Chauffeur eines Obersten. Er wurde verwundet, aus der Wehrmacht entlassen, arbeitete in Berlin als Bautechniker und musste vor Kriegsende noch einmal die Uniform anziehen. Dann verlor sich sein Weg, ehe er 1945 als politischer Mitarbeiter der sowjetischen Militäradministration wieder auftauchte. Was Stoph wirklich an illegaler Arbeit tat, liegt bis heute im dunkeln. Offenbar hat er nicht einmal die Parteispitze darüber informiert, denn als 1960 ruchbar wurde, dass er 1937 in der Nazi-Zeitschrift »Arbeitsfront«, von einer »unvergesslichen Parade vor dem Führer« geschrieben hatte, waren auch Ulbricht und Honecker überrascht und nutzten die Gelegenheit, um ihn von der Funktion des Verteidigungsministers zu entbinden und auf den unbedeutenden Stuhl eines stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats abzuschieben. Die von Honecker im nachhinein artikulierte Besorgnis, die Sowjetunion hätte über den Stophschen Sündenfall ungehalten sein können, erwies sich aber als vorgeschoben – wie sonst wäre es möglich gewesen, dass Stoph schon 1962 zum Ersten Stellvertreter des Ministerpräsidenten, 1964 zum Ministerratsvorsitzenden selbst und 1973 zeitweilig zum Vorsitzenden des Staatsrates aufsteigen konnte. Stoph war bis zuletzt ein Vertrauensmann der Sowjetunion, und gewiss nicht zufällig spielte er beim Sturz Honeckers eine hervorgehobene Rolle.

Auch Heinz Keßler dürften seine guten Kontakte zur Sowjetunion in den Sicherheitsapparat der DDR geführt haben, obwohl diese Karriere nicht unbedingt seinen Wünschen entsprach. Als der damals 30jährige Jugendfunktionär 1950 zum Chefinspekteur der Volkspolizei ernannt werden sollte, bat er sich wohl Bedenkzeit aus, wie er in seinen Einlassungen vor Gericht jetzt erklärte: »Ich war gerade aus dem Krieg gekommen und hatte eigentlich mit Uniformen genug zu tun gehabt.« Aber die Parteidisziplin siegte, und er nahm sogar auf sich, die »Volkspolizei Luft« aufzubauen und dazu autodidaktische Studien über das Flugwesen zu betreiben. Mit der Gründung der Nationalen Volksarmee der DDR wurde er dann stellvertretender Verteidigungsminister und war zunächst auch für die Luftstreitkräfte/Luftverteidigung zuständig, ehe er 1967 in den Sessel des Chefs des Hauptstabes der NVA gelangte. 1979 wurde er Chef der Politischen Hauptverwaltung der DDR-Armee und in Dezember 1985, als Heinz Hoffmann auf der Dienstfahrt von Wandlitz nach Strausberg die Aorta gerissen war, dessen Nachfolger als Verteidigungsminister.

Dennoch fühlte sich Keßler nie so recht als Soldat – ganz im Gegenteil zu seinem Mitangeklagten Fritz Streletz, der auch sein härtester Konkurrent um den so plötzlich verwaisten Stuhl des NVA-Ministers gewesen war. Bereits in einer internen Einschätzung aus dem Jahre 1962, die jetzt im Parteiarchiv zugänglich wurde, übte man an Keßler Kritik: »In der Vergangenheit wurde von ihm die Kontrolle der Aufgaben, Befehle und Anordnungen vernachlässigt. Dadurch hatte er keine vollständige Übersicht, wie die von ihm gegebenen Richtlinien vom Stab des Kommandos verwirklicht werden. . . Eine weitere Schwäche des Genossen Keßler bestand darin, dass er ungenügend auf eine straffe, militärische Disziplin und Ordnung achtete. Das begünstigte den Zustand, dass die Einhaltung der Befehle und Vorschriften nicht überall gewährleistet war.« Im Verteidigungsministerium jedenfalls spöttelte man über sein oft ziemlich unmilitärisches Auftreten, und als 1985 die Entscheidung über Hoffmanns Nachfolge zu fällen war, favorisierten die Militärs in Strausberg eindeutig den Chef des Hauptstabes des NVA, Fritz Streletz. Dass sich Keßler dennoch durchsetzte, verdankte er der langjährigen Bekanntschaft mit Honecker, der ohnehin stets Leute um sich haben wollte, die er kannte und denen er deshalb vertraute.

Fritz Streletz kam zwar auch aus einfachen Verhältnissen, fühlte sich aber schon als 14jähriger zum Militär hingezogen. Erst Unteroffiziersschüler, dann im Reichsarbeitsdienst, wurde er noch 1944 einberufen und an die Ostfront geschickt. Er lief nicht über, sondern geriet im Februar 1945 in sowjetische Gefangenschaft. Mehr als drei Jahre arbeitete er vor allem auf Baustellen in der Nähe Moskaus. Um schneller entlassen zu werden, verpflichtete er sich bereits dort, das weiterzumachen, was er als einziges gelernt hatte – das sogenannte Waffenhandwerk. Am 5. Oktober 1948 wieder frei, trat er am 1. November seinen Dienst als VP-Wachtmeister an. Einen Monat später war er auch Mitglied der SED. 1951/52 absolvierte der junge Polizeioffizier einen Sonderlehrgang in der Sowjetunion und wurde dort für höhere Funktionen der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee, ausgebildet. In dieser brachte er es dann gleich zum Stellvertreter des Chefs des Leipziger Militärbezirks.

1959 wurde der damalige Oberst Streletz wieder für zwei Jahre zum Studium geschickt, diesmal auf die sowjetische Generalstabsakademie. Seine Position war nun schon so stark, dass einer Empfehlung der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED, das Studium wegen zweier Vorkommnisse in seinem Verantwortungsbereich und damit verbundener »Vernachlässigung der Dienstaufsichtspflicht« zu verschieben, nicht entsprochen wurde. Nach seiner Rückkehr 1961 wurde Streletz Chef des Stabes des Leipziger Militärbezirks und drei Jahre später als Generalmajor Stellvertreter des Hauptstabes der NVA in Strausberg. Eine »Generalstabslaufbahn«, wie er es stolz selbst nannte, begann. Und stolz ist er noch heute auf seine Berufung zum Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, die es ihm ermöglichte, »die Aufträge solcher Persönlichkeiten wie des Vorsitzenden des Verteidigungsrates gewissenhaft und militärisch exakt zu erfüllen«.

Hans Albrecht, der sechste schließlich, den die Anklage auf die Sünderbank platzierte, geriet relativ zufällig dahin. Er war SED-Sekretär des Bezirkes Suhl und gelangte in den Nationalen Verteidigungsrat, weil sein Bezirk die »komplizierteste, schwierigste Grenze zur BRD« (Streletz) hatte. Wie er war auch der jeweilige Magdeburger Bezirkssekretär ständiges Mitglied dieses militärischen Entscheidungsorgans, denn dessen Bezirk hatte die längste Grenze zur Bundesrepublik. Albrecht, 1919 geboren, hatte Schlosser gelernt und war bereits 1939 zur Wehrmacht eingezogen worden. Obwohl als Pilot auch in Italien, Afrika, Holland und Frankreich eingesetzt, brachte er es nur bis zum Feldwebel. Nach dem Krieg trat er in die SPD ein und wurde – nach deren Vereinigung mit der KPD – Mitglied der SED. Über verschiedene Stationen in SED-Kreisleitungen wurde er schließlich Staatsfunktionär im Bezirk Frankfurt/Oder – bis hin zum Vorsitzenden des Rates des Bezirkes. 1968 entsandte ihn die SED als Bezirkssekretär nach Suhl.

Dort erwarb er sich schnell den Ruf eines rigorosen Einpeitschers der Parteilinie. Noch 1989 versuchte er das Porträtbuch »Der Erste«, in dem mit vorsichtiger Offenheit ein SED-Kreissekretär aus dem Bezirk Suhl vorgestellt wurde, in seinem »Machtbereich« zu verbieten. Im einem bereits abgeschlossenen Prozess gegen Albrecht, in dem er in Meiningen wegen »Anstiftung zur Untreue« zu 22 Monaten Haft verurteilt wurde, sagte ein Mitangeklagter aus, der Parteisekretär Albrecht »war zu 99 Prozent schlimmer als der Mann, der heute vor uns sitzt«. Albrecht hatte das Wohnungsbaukombinat Suhl angewiesen, für ihn in Grünheide bei Berlin ein Ferienhaus zu bauen; von den 193 000 Mark Baukosten zahlte er lediglich 35 000 Mark. Ähnlich verfuhr er bei der Renovierung des Hauses seiner Schwiegermutter im sächsischen Schmölln. Außerdem wurde ihm wegen des Besitzes einiger Jagdflinten illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Albrecht wies diese Anschuldigungen zurück und berief sich auf Gedächtnisschwäche. Ähnlich beim Verhör durch die Berliner Staatsanwaltschaft, der er erklärte, er könne sich nicht erinnern, dass im Nationalen Verteidigungsrat über Schusswaffenanwendung, Minen und Selbstschussanlagen gesprochen worden sei. Er habe am Ende des Sitzungstisches gesessen und nicht alle Erörterungen verstanden, da er damals noch kein Hörgerät getragen habe.

Alle sechs, die am 12. November vor dem Moabiter Gericht standen, haben ihre Rolle im Machtapparat der DDR gespielt, trugen Verantwortung vor allem für die militärische Seite der Machtsicherung, – und ihr Credo leitete sich aus dem antiimperialistischen Feindbild ab, das sie im Laufe ihres Lebens – sei es durch eigene bittere Erfahrung, sei es durch durch die kritiklose Übernahme ideologischer Leitsätze – verinnerlicht hatten. Zu diesen Glaubenssätzen gehörte das, was Honecker in seinen Bemerkungen »Zu dramatischen Ereignissen« schrieb: »Die DDR hatte das Recht und die Pflicht, wie jeder andere Rechtsstaat, Ordnung an der Grenze zu sichern, einer Grenze, die keine innerdeutsche war, sondern die anerkannte Staatsgrenze der DDR.«

Der Mauerbau 1961 mag de facto – und das ist eine Einschätzung, die von vielen, auch westlichen Politikern geteilt wurde – zur Stabilisierung der politischen Situation in Mitteleuropa und damit zur Erhaltung des Friedens beigetragen haben; er war aber dennoch eine Maßnahme, die sich gegen einen äußeren Feind allenfalls mittelbar richtete. Die Funktion des vorgeblichen »antifaschistischen Schutzwalles« bestand realiter in der Abriegelung der DDR, der Verhinderung ihres Ausblutens, das allerdings damals, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, tatsächlich die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen zwischen den Atommächten in sich barg. Doch die Ursache, die zu diesem Ausbluten geführt hatte, lag eben nicht primär in der Einwirkung von außen auf die DDR, sondern in deren innerem Zustand, der schon damals außerordentlich desolat war. Wiederholte politische Fehlorientierungen führten das Land mehrmals an den Rand der Instabilität – im Frühjahr 1953, im Herbst 1956, eben in den Jahren 1960/61, und auch später, so Anfang der 70er Jahre, im Herbst 1976 und vor allem nach 1985. Eingestanden wurden diese Fehler nie, und wenn, dann allenfalls halbherzig. Die Gründe für die jeweilige Misere suchte man außerhalb der Grenzen, beim Klassenfeind, der mit seiner »ideologischen Diversion« und anderen Störaktionen den friedlichen Aufbau des Sozialismus behindern wollte.

Viele, die 1961 die Mauer als notwendiges Übel sahen, um zunächst stabile Verhältnisse in Mitteleuropa und vor allem der DDR zu schaffen, erwarteten nun eine Politik, die sie allmählich überflüssig machen würde. Schritte in diese Richtung wurden tatsächlich unternommen: ökonomische Umorientierungen mit starker Betonung sozialer Aspekte – die sogenannte Hauptaufgabe, ein zeitweiliges kulturelles Tauwetter, Bemühungen um mehr Mitsprache der Bürger und anderes. Doch all diese Versuche verliefen im Sande, wurden abgebrochen, sobald sich ihre ganz selbstverständlichen Risiken zeigten. Denn Neues setzt sich nicht ohne Rückschläge, ohne unerwünschte Nebenwirkungen, ohne Gefahren für Althergebrachtes durch. Es fehlte der Führung an Mut, wirklich unerforschte Wege zu beschreiten, und zwar flexibel und zugleich konsequent bis zum Erfolg. Die in der Endphase der DDR viel beschworene Losung von »Kontinuität und Erneuerung« erwies sich als hohle Phrase, weil sie wirkliche Innovation nur insoweit zulassen wollte, wie das Bewährte nicht in Frage gestellt wurde. Diese Politik hatte sich weit von einem schöpferischen Marxismus entfernt und damit längst die Akzeptanz der Massen verloren. Mit der Aufgabe ihres kreativen Anspruchs hatte die Weltanschauung der Armen und Entrechteten ihre Faszination eingebüßt. Honecker selbst musste nun – in einem Interview nach der Wende – mit einem Anflug von Erkenntnis eingestehen: »Unsere Schwäche bestand darin, dass wir offensichtlich nicht vermochten, unsere sozialistischen Ideale in jeder Hinsicht für den Einzelnen erlebbar zu machen.«

Insofern wurde auch die Mauer nicht als zeitweiliger Missstand und zugleich als Chance begriffen, eine bessere Politik zu realisieren. Heute sieht zwar auch Honecker den Mauerbau als »Zeichen einer politischen und wirtschaftlichen Schwäche des Warschauer Vertrages gegenüber der NATO, die nur mit militärischen Mitteln ausgeglichen werden konnte«. Damals aber wurde sie zum Selbstzweck, sicher auch in Überschätzung des militärischen Faktors in der Systemauseinandersetzung. Man wurde mit den Problemen nicht fertig und griff zur Repression; neben der Errichtung der Mauer ist der extensive Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit ein anderes Beispiel solch verfehlter Politik. Sie hat letztlich ihre Wurzeln in falscher, ideologischer Weltsicht – einem Phänomen, das nicht auf die sozialistische Bewegung beschränkt ist, von dieser aber in besonders tragischer Weise kultiviert wurde.