Hessen und Niedersachsen: Wählervotum als Flurbereinigung

Ganz anders als es gestern Abend an den Fernsehschirmen aussah, ist die SPD mit den Wahlergebnissen in Hessen und Niedersachsen in ein tiefes Dilemma gestürzt. Denn in beiden Ländern hat sie ihre wichtigsten Wahlziele nicht erreichen können. Weder wurde sie stärkste politische Kraft noch gelang es ihr, die aufstrebende Konkurrentin Die Linke aus den Landtagen großer westdeutscher Flächenländer fernzuhalten. Diese Flurbereinigung in der politischen Landschaft wurde in Hessen eher noch deutlicher als in Niedersachsen – trotz des zahlenmäßigen Vorsprungs an der Leine. In Hessen jedoch errang die Linkspartei diesen Erfolg in einem polarisierenden Wahlkampf, in dem sie bzw. ihre Vorgängerin PDS – siehe die Bundestagswahl 2003 – meist schlecht aussah. Diesmal aber trauten 31000 hessische Wähler nicht einmal einer von Andrea Ypsilanti geführten SPD (die sie unter Gerhard Bökel vor fünf Jahren noch gewählt hatten) und votierten für die Linke, und 16000 enttäuschte CDU-Wähler des Jahres 2003 wechselten nicht etwa zur SPD, sondern auch gleich zur Linken. Sie wollten die Mehrheit links von CDU und FDP und und versahen dafür Andrea Ypsilanti mit einem Vertrauensvorschuss, denn Wolfgang Jüttner in Niedersachsen nicht erhielt. Das dortige SPD-Resultat von 30,3 Prozent entspricht insofern wohl viel mehr der Stimmungslage in der Republik als Ypsilantis 36,7 Prozent, die sie zu einem wesentlichen Teil Roland Koch verdankt.

Hinzu kommt, dass sich die SPD mit dem selbst auf erlegten Verdikt eines Zusammengehens mit den Linken um den Ertrag des Wahlkampfs und des Aufschließens zur CDU gebracht hat. Denn Ypsilantis Hoffnung, sie könne die FDP aus dem Block mit der CDU herausbrechen, ist zumindest nicht realistischer als die Erwartung von CDU und FDP, die Grünen in ein Regierungsbündnis zu locken. Die CDU, die mit der FDP zwei Sitze mehr hat als Rot-Grün, wird diese letzte Chance, an der Macht zu bleiben, ohne Zweifel nutzen – möglicherweise ohne Koch. Ypsilanti jedoch hat nichts in der Hand, außer ihrem heroischen Entschluss, eine Mehrheit links vom bürgerlichen Lager unter keinen Umständen zu schmieden. Der Linkspartei dürfte sie damit jedoch einen Gefallen tun, wird es der doch auf den Oppositionsbänken leichter fallen, ihre Arbeit zu organisieren und Erfahrungen zu sammeln als in Regierungsämtern, auf die sie weder inhaltlich noch personell so vorbereitet ist, dass sie etwas daraus machen könnte.

Ypsilantis Verdienst bleibt es jedoch, einen der letzten bedeutenden Rechtsaußen der bundesdeutschen Politik ins Abseits manövriert zu haben – einfach dadurch, dass sie ihm auf dem Hauptfeld politischen Agierens eine Alternative entgegenstellte – dem Umgang mit den Menschen. Roland Kochs Wahlkampf hingegen hatte mit Arroganz begonnen. Gegen diese »Frau XY« – ein Begriff, den zwar Gerhard Schröder prägte, um Andrea Ypsilantis seinerzeitige Kritik an der Agenda 2010 ins Lächerliche zu ziehen, den sich aber Koch mit gleicher Zielstellung voll zu eigen gemacht haben dürfte – sei es doch wohl ein Leichtes zu gewinnen. Hatte er nicht vor Fünf Jahren den als eher rechts geltenden und mit ihm um Teile der konservativen hessischen Wählerklientel wetteifernden Gerhard Bökel mit einem beinahe 20%-Vorsprung aus der politischen Arena gefegt und die absolute Mehrheit erreicht – und da sollte ihm in diesem Land eine erklärte Linke gefährlich werden? Offenbar hatte der CDU-Rechtsausleger angenommen, Hessen, in dem immerhin einst die erste rot-grüne Koalition gebildet (und nach einem kurzen CDU-Zwischenspiel mehrmals wiedergewählt) worden war, so nachhaltig geprägt zu haben, dass es zur ewigen CDU-Beute mutierte. Entsprechend leicht nahm er zunächst den Wahlkampf, für den er wie seine Gefolgschaft kein griffiges Konzept entwickelten, das die Menschen mit ihren tatsächlichen Sorgen und Nöten erreicht.

 Als sich dann im vergangenen Herbst zeigte, dass sich die Wähler mitnichten als Kochs Stimmvieh verstanden, sondern angesichts miserabler Defizite der CDU-Politik reges Interesse an einer glaubwürdigen Alternative entwickelten, führte die Konzeptionslosigkeit in die Panik, die sich in Kochs verzweifelter Suche nach einem Erfolgsrezept und immer neuen »Wahlkampfknüllern« offenbarte, die allerdings nur eins einte – das unterschwellige bis offene Schüren von Ressentiments bis hin zur Ausländerfeindlichkeit. Das war es schließlich, was Koch am besten konnte, damit war er 1999 an die Macht gekommen, und lange hatte er mit einer in die gleiche Richtung gehenden Politik der Stigmatisierung und Ausgrenzung die Macht behalten können, aber eben nicht ewig. Verständnislos musste er erleben, dass diese Art des wahlkampfs plötzlich nicht mehr vering, dass im Gegenteil seine Gegnerin daraus Nutzen zog, weil es ihr gelang, die tatsächlichen Sorgen der Hessen anzusprechen, für sie sie im Unterschied zu manchem ihrer Parteikollegen anderswo (mit Wolfgang Clement an der Spitze) glaubwürdig warb; ohne freilich zu erklären, wie sie ihre Versprechen in einem Bündnis, in das CDU oder FDP ihre Forderungen einbringen, umsetzen will.

Koch blieb in dieser Situation am Ende nur das lächerliche Betteln um Stimmen, eine Mitleidstour, die ihn bis in die Nacht vor dem Wahltag Klinken putzen .ließ – nach dem Motto: Ich liebe euch doch alle, lasst mich nicht im Stich. Ohne wirklichen Erfolg, was auch Angela Merkel zu denken geben dürfte. Hatte sie sich doch sehr weit auf Kochs rassistischen Wahlkampf eingelassen und damit deutlich gemacht, dass auch bei einer Pastorentochter aus dem Osten die Macht allemal höher steht als christliches Denken. Für sie ist die Erkenntnis, dass eine schaumgebremste Kampagne á la Christian Wulff erfolgreicher zu sein verspricht als die »scharfe Kante« der CDU-Konservativen, nur solange beruhigend, wie es ihr gelingt, die SPD so klein zu halten, dass – wie in Niedersachsen – dennoch eine Mehrheit mit der FDP möglich wird. Holen die Sozialdemokraten jedoch – wie in Hessen – deutlich auf, braucht es zusätzlich der Verpflichtung der SPD, ihre Koalitionsoptionen nach CDU-Wünschen auszurichten. Das hat Andrea Ypsilanti getan und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit der CDU die Macht in Hessen erhalten. Gewiss werden es weitere SPD-Wahlkämpfer tun – doch eines Tages wird auch im Westen einer – wie im Osten Wowereit – den vom politischen Gegner geschnürten gordischen Knoten durchschlagen und dann feststellen, dass die Wähler schon viel weiter sind, als es ihnen die politische Klasse zutraute.