Armer Fußball

Nun haben auch die Milchbauern rechtzeitig den Platz im Zentrum Berlins geräumt, und das Spektakel namens Fußball-EM kann beginnen. Ein »Sommermärchen« wie vor zwei Jahren und so recht nach dem Geschmack der Politik, denn in den nächsten drei Wochen gibt es hierzulande nur ein Thema: das runde Leder mit all seinen Facetten, die inzwischen in den schillerndsten Farben leuchten. Am liebsten hätte man ja wieder die Fanmeile, in der alles im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer ertrinkt; in solcher Forderung finden sogar Unternehmerverband und Gewerkschaft zusammen. Da lässt sich die unbequeme Realität so schön ausblenden, die gerade erst eine Umfrage erneut enthüllt, doch die fand schon nur noch in Kurzmeldungen Beachtung. Schließlich nimmt die Wirklichkeit jedem Märchen seinen Zauber.

Steigende Preise und die Drohung vor sozialem Abstieg, die inzwischen 43 Prozent, also beinahe jeder zweite Bundesbürger, verspürt, sollen erst einmal vergessen werden, bis Ende Juni, dann vielleicht den Urlaubssommer hindurch. Schon die alten Römer stellten mit Brot und Spielen ihr Volk ruhig. Was damals die blutigen Gladiatorenkämpfe waren, ist heute in erster Linie der Fußball – und vielleicht geht es da ja ähnlich blutig zu, am besten natürlich direkt auf dem Rasen, woran der Springer-Verlag mit seinen deutschen und polnischen Rammblättern gerade intensiv arbeitet, zumindest aber auf den Tribünen oder bei den Nachfeiern. Denn der Frust über verwehrte Lebenschancen, soziale Diskriminierung und wachsende Unsicherheit in der Zukunft bleibt im Hinterkopf; bricht er hervor, ist das nächsterreichbare Opfer gerade recht und kann dann schon mal das gleiche arme Würstchen mit den gegnerischen Farben auf der Wange sein, auf die dann die Faust kracht.

Wäre Fußball noch immer das, was er einmal war – ein schönes, spannendes Spiel, fair ausgetragen und mit einem Gewinner, dem auch der Verlierer den Sieg gönnt, dann stünde uns ein Fest ins Haus. Seitdem jedoch allzu viele daran arbeiten, aus dem Spiel eben auch blutigen Ernst zu machen, bei dem es um viel Geld geht, um Macht und nationale Überlegenheit, um die Kanalisierung der Emotionen weg von ihrer eigenen Ursache und hin zu allerlei Ersatzhandlungen, die mit Sport nichts zu tun haben, seitdem ist auch der Fußball, als so reich er sich auch gebärdet, ähnlich arm dran wie jene 83 Prozent der Bundesbürger, die sich über wachsende Armut große Sorgen machen und das Land. ungeachtet allen Torjubels am Rande einer Depression sehen..

6 Replies to “Armer Fußball”

  1. Jetzt geht sie also wieder los, die Zeit der feiernden und grölenden Massen. In diesem kollektiven Taumel ist das Volk der unumschränkte „König der Straße“ und durch nichts und niemanden zu aufzuhalten. Daß der Rausch nach dem Mega-Medienspektakel der Fußball-EM auch wieder relativ schnell vorbei sein wird und die Ernüchterung über die „wirkliche Wirklicheit“ dafür vielleicht umso größer sein wird, kann man sich fast schon ausrechnen. Aber dann stehen ja die Olympischen Spiele schon vor der Tür. Problemverdrängung wie im alten Rom – bis es irgendwann nicht mehr klappt mit dem „Brot und Spiele“-Ablenkungsmanöver.

    Fragt sich nur, warum die Menschen für die „wichtigste Nebensache der Welt“ so zahlreich auf die Straße gehen, für die „Hauptsache“ im Leben wie Arbeit und soziale Gerechtigkeit bislang aber nicht? Kollektive Freude und individualisierte Trauer – muß das so sein?

  2. Antwort an Markus:.. nein, aber die „Hauptsachen“ wären ohne „Nebensachen“ schlicht unerträglich – schon mal auf die Idee gekommen, dass nicht alles, was Spaß macht, ein Konglomerat aus Verdrängung und Ignoranz ist ?

  3. @ Renate und Klaus

    Ganz so verdrießlich soll`s im Leben wirklich nicht zugehen. Allerdings ist Kritik da angebracht, wo die „Hauptsachen“ unerträglich sind und die „Nebensachen“ zur Hauptsache stilisiert werden, ohne daß die „Hauptsachen“ dadurch selbst erträglicher, geschweige denn geändert würden.

  4. Das ist wieder mal ein typischer Beitrag eines Autoren, der nie selbst Fußball gespielt hat!
    So richtig der Text in siner Grundaussage auch ist, so zweifelhaft in seiner Übertragung von Springerhysterie auf das Spielfeld bleibt aber der Anfang des letzten Absatzes.
    Insofern ist die Angelegenheit doch noch etwas mehrdimensionaler als der Autor es hier formuliert.
    Von Sartre dazu die folgende Überlegung:
    „Beim Fußball kompliziert sich allerdings alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft“.

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