Ausgeschlossen ist es nicht, dass Russlands Führung dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili insgeheim ein wenig dankbar ist. Gab er ihr doch mit seiner aggressiv-voluntaristischen Politik die Gelegenheit, gleich auf verschiedenen weltpolitischen Feldern Bodengewinn zu erzielen.
In erster Linie gilt dies für den Konflikt vor Ort selbst. Die faktische Abspaltung Südossetiens wie auch Abchasiens vom georgischen Staatsverband ist nach dem Waffengang Tbilissis ohne Zweifel weiter zementiert worden, obwohl es dafür völkerrechtlich keine sonderlich belastbare Grundlage gibt. Wie schon im Falle Kosovos geht es auch bei Südossetien um die Frage, inwieweit das Selbstbestimmungsrecht einer Volksgruppe, die in einem bestimmten Territorium die Mehrheit stellt, dazu befugt, sich vom Staatsverband, zu deem man juristisch gehört, abzusondern. Im Falle Kosovo hat der Westen – aus durchaus eigennützigem Interesse – eine solche Entwicklung bejaht und auch mit militärischen Mitteln durchgesetzt; im Falle Südossetien besinnt er sich plötzlich wieder der völkerrechtlichen Prinzipien und lehnt eine analoge Lösung ab, wobei ihm hilft, dass auch Russland daran nicht sonderlich interessiert ist. Das Land wendet sich bislang strikt gegen die Kosovo-Sezession, nicht nur als natürlicher Widerpart der NATO, sondern auch, um nicht separatistische Bewegungen im eigenen Land – Beispiel Tschetschenien – zu ermutigen.
Insofern war Russland mit dem Status quo in Südossetien und Abchasien, den es durch die großzügige Vergabe der russischen Staatsbürgerschaft an bis zu 90 Prozent der Bevölkerung beider Regionen allmählich verfestigte, recht zufrieden, während der georgische Präsident die Situation als permanente Provokation empfand, die er – auch angesichts seiner angeschlagenen innenpolitischen Lage – nicht länger etragen zu können glaubte. Doch Saakaschwili hat mit seinem Vorstoß nichts gewonnen, im Gegenteil. Durch seine Brutalität, die sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richtete und aus diesem Grund von den meisten westlichen Medien, die sonst so vehement für eine uneingeschränkte Berichterstaattung streiten, schamhaft verschwiegen wird, hat er letzte Sympathien für Georgien in Südossetien verspielt; selbst westliche Staaten sehen wenig Chancen für die Wiederherstellung der vollen Souveränität Georgiens über die abtrünnige Provinz. Zwar versuchen letztere, Russland wegen der Übergriffe auf georgisches Kernland anzuklagen, doch Moskau kopierte dabei nur ziemlich exakt, was die NATO einst gegen Serbien praktizierte – was Russlands Vorgehen zwar nicht rechtmäßiger macht, doch die westlichen Proteste weitgehend entwertet. In der Sache jedenfalls bleiben russische Truppen im Land, künftig wohl eher mehr als weniger. Ob EU-Bestrebungen, sie durch Einheiten aus konfliktfernen europäischen Staaten zu ergänzen, Realität werden, ist abzuwarten.
Einen möglicherweise noch wertvolleren Effekt für Russland hat der gescheiterte Angriff Tbilissis auf Südossetien hinsichtlich der künftigen Rolle der USA in der Kaukasus-Region, vielleicht sogar darüber hinaus. Washington, das Saakaschwili ohne Zweifel zu seinem Vorgehen ermutigte – unmittelbar vor seinem Angriff hatte er noch die US-Außenministerin Rice empfangen, ließ den Vasallen eiskalt fallen, als es brenzlich wurde. Erst als Russland auch die Hafenstadt Poti bombardierte, wo die Ölpipeline aus Aserbeidshan – eine der wenigen von Russland unabhängigen Leitungen mit dem wertvollen Energiesaft – endet, wurden die Amerikaner wieder wach – in Person ihres Vizepräsidenten Cheney, der (nicht zuletzt wegen seiner Rolle im Irakkrieg) seit langem als Interessenvertreter der amerikanischen Erdölindustrie in der US-Administration gilt. Er wetterte nun, die „russische Aggression“ dürfe „nicht ohne Antwort bleiben“ und werde „ersthafte Konsequenzen“ haben – freilich ohne konkrete Folgen, denn ein Aggressor, der bereits an zwei verlustreichen Kriegsschauplätzen gebunden ist, hat wenig Möglichkeiten, großen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Damit ist noch einmal sichtbar geworden, wie sehr amerikanische – wie natürlich auch russische – Politik reine nationale Interessenvertretung ist, zu deren Unterstützung zwar willige Idioten gern gesehen sind, aber eigene Forderungen nicht durchsetzen können, wenn es nicht zugleich den USA nützt. Einige Staaten, die sich ebenfalls viel von der westlichen Supermacht erhoffen, reagierten mit unverhohlener Panik und stellten sich – wie Polens Präsident Kaczynski und einige seiner baltischen Amtskollegen – demonstrativ an Georgiens Seite, indem sie eilends nach Tbilissi reisten, wo sie allerdings ihren vermeintlichen Mentor George W. Bush vergeblich suchten.
Diese weitgehende Abstinenz Washingtons aus dem Geschehen im Kaukasus ist der dritte und vielleicht wichtigste Erfolg Russlands, auch wenn er bisher eher im Hintergrund sichtbar wird. Die USA hatten schließlich weitreichende Pläne mit Georgien verfolgt – bis hin zu einer schnellen Eingliederung in die NATO; damit sollte der „Cordon sanitaire“ rund um Russland um ein wertvolles Glied erweitert werden. Das rückt zunächst in weite Ferne – und mehr noch: Washington ist im russisch-georgischen Konflikt vorerst das Heft das Handelns weitgehend entwunden worden. Statt dessen hat überraschend die EU unter maßgeblicher Führung Frankreichs die Richtung bestimmt – mit klarem antiamerikanischen Akzent, den der französische Außenminister Kouchner so beschrieb: „Die EU muss handeln, denn Amerika ist in gewisser Weise Teil des Konflikts.“ Erstmals seit langem haben somit europäische Politiker in ein globales Geschehen eingegriffen, ohne sich zuvor amerikanischer Zustimmung zu vergewissern. Sie haben eigene Interessen definiert und entsprechend gehandelt – und nebenbei die Wünsche der amerikanischen Parteigänger in der EU total ignoriert.
Es bleibt abzuwarten, welche Folgen dies für die künftige internationale Politik hat. Russland dürfte die Entwicklung als Erfolg verbuchen – vor allem nach der Schlappe, die es mit der Zerlegung des jugoslawischen Zentralstaats bis hin zur „Unabhängigkeit“ Kosovos hinnehmen musste. Mancher, der damals ohnmächtig auf die Gültigkeit des Wortes hoffte, man sehe sich oft zweimal im Leben, mag nun befriedigt, vielleicht sogar schadenfroh sein. So verständlich solche Gefühle auch sind – für die Zukunft versprechen sie wenig Gutes. Der Vorgang zeigt einmal mehr, dass schlechte Politik schnell zum Nullsummenspiel werden kann. Die menschlichen Opfer jedoch, die sie fordert, macht keiner wieder lebendig.
Öl ins Feuer von ethnischen Konflikten bei dazu noch undurchsichtiger Gemengelage zu gießen, kann, wie man jetzt wieder gesehen hat, nur allzu schnell zu einer gewaltigen Explosion führen, besonders auch dann, wenn die geostrategischen Interessen von politischen Großmächten tangiert werden.
Ein unerträglicher Zustand! Frau Merkel streut jetzt noch zusätzliches Salz in die Wunde. Aus welchem Grund spricht Frau Merkel sich für einen NATO-Beitritt von Georgien aus? Es liegt doch auf der Hand, dass dieses Vorhaben ein sehr gefährliches Unterfangen ist. Wozu dieses Säbelrasseln?!