Angela Merkel: Aufhaltsamer Aufstieg zur Westpolitikerin

Politische Charakterbildung im Transformationsprozess – das Beispiel Angela Merkel
(»Neues Deutschland« vom 24. November 2001)

 

Als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft unlängst in letzter Minute gegen die Ukraine die Tickets für die WM 2002 buchte, machte der sächsische PDS-Fraktionschef Peter Porsch eine überraschende Rechnung auf.: »Zu Beginn des Spieles standen in der deutschen Mannschaft mehr Spieler auf dem Platz, die aus dem Osten kamen, als solche aus dem Westen.« Um dann aber sogleich auf den wunden Punkt zu zeigen: »Der Westen lebt gut – mit Hilfe der abgewanderten ehemaligen Leistungsträger oder der Zukunftshoffnungen des Ostens.«
Auch die CDU lebte – wenn schon nicht gut, so doch erträglich – mit Hilfe einer »abgewanderten Leistungsträgerin oder auch Zukunftshoffnung aus dem Osten«, als ihr Spendenskandal vor knapp zwei Jahren auf den Höhepunkt zusteuerte. Damals griff Angela Merkel, noch gar nicht lange Generalsekretärin der Christdemokraten, mit einem Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen« in die Debatte um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Partei ein. »Das war mutig. Das war weitsichtig. Niemand sonst in der CDU hatte zu diesem Zeitpunkt die innere Unabhängigkeit, so etwas zu denken, zu formulieren …«, schreibt Evelyn Roll in ihrem Buch »Das Mädchen und die Macht«, und Jacqueline Boysen, eine andere Beobachterin, ergänzt in »Angela Merkel. Eine deutsch-deutsche Biographie«: »Sie … wagte, die üblichen Pfade der Parteidisziplin zu verlassen.«
Angela Merkel konnte das, weil sie aus anderen »Zusammenhängen« kam als das angestammte CDU-Establishment. Sie hatte zehn Jahre zuvor eine Gesellschaftskrise erlebt, schon damals an ihrer Bewältigung mitgewirkt und besann sich der dabei gesammelten Erfahrungen: Schnell

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»Die Partei muss also laufen lernen …, sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen …«
(Angela Merkel, 1999)
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und entschlossen handeln, sich vor »Autoritäten« nicht fürchten, Risiken eingehen, neue Verbündete suchen, auf »das Volk« setzen. Sie nutzte dieses »Know-how«, um die tief verunsicherte Partei wieder aufzurichten und zugleich eine eigene Machtbasis zu schaffen. »Die Generalsekretärin«, so schreibt Boysen, »hatte rascher als ihre möglichen Konkurrenten gemerkt, dass nur sie einen bis dahin stets missachteten, bisher nie direkt befragten Verbündeten finden könnte: die Basis«. Über die Regionalkonferenzen des Winters 2000 gelangte sie bis an die Spitze ihrer Partei: als Ostdeutsche, als Frau, mit 45 damals vergleichsweise jung.
Dies liegt noch keine 20 Monate zurück, und heute ist weder vom Glanz des Essener Parteitages noch von den Fähigkeiten Angela Merkels zum Krisenmanagement viel geblieben. »Eine Vorsitzende, die keine Leadership in Sachfragen entwickelt, die weder Vision noch Strategie liefert, beschädigt ihr Amt durch den Machtanspruch, dem sie nicht gewachsen ist« schrieb ihr die gewiss nicht CDU-kritische »Welt« dieser Tage ins Stammbuch und ist damit nur eine Stimme unter vielen. War sie im April 2000 der Hoffnungsträger ihrer Partei, so empfinden sie heute viele in der CDU als Belastung.
Dabei spielt zum einen eine Rolle, dass nicht wenige Christdemokraten schon bald zu dem Schluss gekommen sind, »der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen«, wie Schiller Fiescos schwarzen Diener Muley Hassan bitter sagen lässt, als dieser die Verschwörung organisiert hatte. »In einer Zeit, da die Partei nach Neuem verlangte, erfüllte Angela Merkels vergleichsweise locker definierte, offene politische Haltung haargenau die Anforderungen an eine zupackende, optimistische Aufräumerin«, schreibt Boysen. »Aber nach ihren ersten einhundert Tagen im Amt hatte sich gezeigt, dass es eine Diskrepanz gab zwischen Unionsmitgliedern und erneuerter Führungsmannschaft.« Denn längst hat sich die Partei – auch die Mehrheit ihrer Basis, die die Vorsitzende heute erneut mit Regionalkonferenzen zu mobilisieren versucht – darauf verständigt, doch wieder in die alten Muster zurückzufallen.
Die Aufklärung des Spendenskandals, ohnehin nie sonderlich enthusiastisch betrieben, brach nach dem Essener Parteitag abrupt ab und machte erst einer Alles-nicht-so-schlimm- und dann einer Schlussstrich-Mentalität Platz. Auch die zunächst vollmundig angekündigte Parteireform, die stärkere Mitsprache der Parteimitglieder bei Sach- und Personalfragen, eine Reduzierung von Ämterhäufung, Empfehlungen für Amtszeitbegrenzungen vorsah, ist auf die lange Bank geschoben. »Niemand wollte sich tatsächlich vom Führerprinzip verabschieden«, heißt es bei Evelyn Roll. »Sie wählten nur eine neue Vorsitzende: Mach es schnell wieder heile, glaubwürdige Angela. Auf dass sonst alles so bleiben kann, wie es ist.«

Und Angela Merkel folgte diesem Rat – sicher zum Teil wegen des Druckes der alten Parteigranden und eines großen Teils der Basis, der sich nach einer Autoritätsperson zurücksehnte. Aber wohl auch aus eigenem Antrieb, denn nun, da sie oben war, ging es nicht mehr in erster Linie um Veränderung, sondern um Erhaltung des Status quo, in dessen Zentrum man jetzt schließlich selbst stand. Immer gehen Innovationen eher von jenen aus, die noch auf dem Weg sind, während zu konservativem Denken neigt, wer sein Ziel erreicht hat. Damit jedoch ist die individuelle »Transformation«, die Angela Merkel als Parteivorsitzende vollzog, noch nicht ausreichend beschrieben. Denn kaum an der Spitze der Partei, vergaß sie die »Tugenden« der Wendezeit, des Umbruchs 1989/ 90, die sie nach oben gebracht hatten. Mehr noch, sie besann sich wohl auch einiger der »Untugenden« ihrer eigenen Funktionärstätigkeit in der FDJ und verband diese mit den Machtsicherungsmethoden, die sie in der CDU hatte beobachten können, besonders bei ihrem einstigen Förderer Helmut Kohl.
Angela Merkel ruft zwar immer wieder nach breiter, offener Diskussion über alle Fragen, fordert die Einbeziehung möglichst vieler in die Entscheidungen: tatsächlich jedoch führt sie die Partei mit einem kleinen Küchenkabinett engster Vertrauter, bereitet dort die Beschlüsse vor, die sie dann den Gremien präsentiert, in denen sie gleichwohl Zustimmung erwartet. Das erinnert mitunter an Entscheidungen in der SED-Führung, die ähnlich vorbereitet und eingebracht wurden. Zentralkomitee und sogar Politbüro hatten dann nur noch abzunicken. Und sie taten es, während Angela Merkel damit rechnen muss, nicht nur zunehmend auf Widerstand zu stoßen, sondern diesen auch noch in den Medien nachlesen zu können.
Die Autorinnen der beiden genannten Bücher sehen einen wesentlichen Grund für diesen Führungsstil Merkels in ihremMisstrauen gegenüber der Umwelt und machen als eine Ursache ihre DDR-Sozialisation aus. »In der DDR war Misstrauen eine notwendige Überlebensbedingung, in jeder Beziehung«, schreibt Roll, will aber bei Angela Merkel nicht zuerst das Ost-Manko sehen; vielmehr habe sie »die Misstrauen-Lektion in den Lehrjahren bei Helmut Kohl vertieft«. Und daraus eine Haltung gemacht, die CDU-Insider so beschreiben: »Was das Misstrauen angeht, sei sie tatsächlich das Mädchen von Helmut Kohl geblieben.« Oder vielleicht erst geworden?
Mit dem Misstrauen einher geht eine Attitüde eigener Unfehlbarkeit – ein aus der DDR-Führungspraxis wie von Helmut Kohl vertrautes Verhaltensmuster. »Sie ist sich ihrer Sache inzwischen oft maßlos sicher, glaubt … auf Ratschläge verzichten zu können«, urteilt Boysen. Die Folge sind eklatante Fehlentscheidungen wie bei der

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»Ich war schon immer sehr misstrauisch, und das hilft mir auch heute im Westen.«
(Angela Merkel, 1991)
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Bundesrats-Abstimmung zur Steuerreform, bei der Auswahl ihrer Generalsekretäre Polenz und Meyer, bei der Terminplanung für die Kanzlerkandidatur.
Noch wichtiger als solche Mentalitätsfragen aber sind die inhaltlichen Defizite ihrer Partei, die auch sie nicht beheben kann. Was die CDU nach oft langen, quälenden Debatten auf den Gebieten der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Familienpolitik, der inneren Sicherheit, der Einwanderung als »neue« Konzepte anbietet, erweist sich zumeist als schlecht kaschierte Fortschreibung der gescheiterten Linie der Kohl-CDU – lediglich angereichert durch einige CSU-Verschärfungen. Merkel klagt gern, dass die konzeptionellen Bemühungen der CDU von den Medien nicht zur Kenntnis genommen werden, doch sie übersieht dabei, dass deren Neuigkeitswert eine intensivere Beschäftigung damit kaum rechtfertigt. Und wenn, dann allenfalls aus kritischer Sicht, deuten sie doch, wie Jacqueline Boysen zum Wirtschaftskonzept feststellt, »auf einen neoliberalen Kurs hin, beispielsweise wenn der Wettbewerb auch in den sozialen Sicherungssystemen gefordert wird«. Und an anderer Stelle rügt sie Merkels zunehmenden Hang zur grobschlächtigen Agitation, mit dem sie offensichtlich der bayerischen Schwesterpartei den Rang abzulaufen versucht: »Plump attackiert sie die Bundesregierung, denn der Feind steht links, und es scheint ihr Spaß zu machen, auf weitere Differenzierungen dieser Botschaft verzichten zu können.«
So klaffen Anspruch und Realität bei Angela Merkel immer mehr auseinander; ihr Einschwenken auf das Diskussionsniveau der alten CDU macht sie aber zugleich anfällig für die Angriffe ihrer Gegner, die jenes Draufhauen viel besser als sie beherrschen. Da ist es dann kein Wunder, dass das Meinungsforschungsinstitut Infratest-Dimap vor zwei Wochen feststellte, 56 Prozent der Unions-Anhänger würden sich für Stoiber als Kanzlerkandidaten entscheiden, 24 Prozent für den ehemaligen CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble und nur zwölf Prozent für Ange-

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»Die CDU ist weit vorangekommen im Generationenumbruch. Wir haben einen Erneuerungsprozess durchlaufen, ohne den eine große Volkspartei nicht funktioniert.«
(Angela Merkel, 2001)
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la Merkel. Anders als die Ballack und Rehmer, die Jancker und Schneider, »Ost-Spieler«, die inzwischen zur Zierde des deutschen Fußballs geworden sind, hat es Angela Merkel nicht vermocht, der CDU ihren Stil aufzuprägen, Eigenes einzubringen. Sie hat sich einfach angepasst. Evelyn Roll zitiert den enttäuschten Lothar de Maizière: »Sie ist eine Westpolitikerin geworden.«
Und damit austauschbar, was sie jedoch nicht wahrhaben will. Merkels beide Biografinnen berichten von ihrer »Bergabphobie«, die sie selbst so beschreibt: »Meine geduldigen Eltern mussten mir immer sagen, wie man einen Berg hinuntergeht. Rein technisch. Was ein normaler Mensch ganz von selbst kann, musste ich erst geistig verarbeiten und mühsam üben.« Politisch scheint dies ein verbreiteter Defekt zu sein – bei Politbürokraten wie Westdemokraten. Angela Merkel fügt ihnen lediglich eine originelle Erklärung hinzu.

Jacqueline Boysen: Angela Merkel. Eine deutsch-deutsche Biographie. Econ Ullstein List Verlag, München 2001, 240 Seiten, 16,90 Mark
Evelyn Roll: Das Mädchen und die Macht. Angela Merkels demokratischer Aufbruch. Rowohlt, Berlin 2001, 304 Seiten, 38,92 Mark.

One Reply to “Angela Merkel: Aufhaltsamer Aufstieg zur Westpolitikerin”

  1. In der DDR wußte man wenigstens, daß das Volk von einer undemokratischen Führungsclique regiert wird; in der westdeutsch geprägten wiedervereinigten Bundesrepublik üben sich die formalrechtlich frei gewählten politischen Potentaten („Volksvertreter“) in wetteifernden Demokratiespielen fürs politikverdrossene Volk.

    Es scheint sich aber um eine in allen Herrschaftsystemen mit unschöner Regelmäßigkeit wiederholende „Gesetzmäßigkeit“ zu handeln, daß eine oligarchische Führungselite die faktische Macht im Staate an sich reißt und gegenüber der gesellschaftlichen „Basis“ weitgehend abgehoben regiert.

    Und was Angela Merkels persönlichen Aufstieg zur Macht in der CDU und schließlich auch als Bundeskanzlerin betrifft, könnte man sagen, daß Macht schön macht. Zumindest sind die medial vermittelten Beliebtheitswerte von Angela Merkel seit dem Antritt ihrer Kanzlerschaft erheblich angestiegen.

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