Zu neuen und weniger neuen Büchern, mit denen die Unfähigkeit der Deutschen belegt wird, tolerant mit ihrer jüngeren Geschichte umzugehen
Von Rudolf Hempel
In dem am 18. Juli veröffentlichten und unter Kulturbuch abgelegten Teil 1 des Rück- und Ausblicks sind – unter Bezugnahme auf Stefan Heym und Erwin Strittmatter – sechs Neuerscheinungen kommentiert. In deren Mittelpunkt Christoph Links` Analyse der DDR-Verlage, Egon Krenz und sein Gefängnisaufenthalt, Ralph Hartmanns Unrechtsstaat-Betrachtung, Bilanz-Überlegungen von »Filmminister« Horst Pehnert, Wolfgang Wippermanns Streitschrift zum Vergleich DDR – Drittes Reich und Franziska Kleiners Fundstücke stehen.
Diesmal meldet sich mit Hans Bentzien ein Ex-Kulturminister, Verlagschef, Fernsehmann und Publizist bei seiner Enkeltochter Sophie. Mit Daniel Dahn hebt eine Streiterin für Ost-Belange die Hand zum Verliererschwur, mit Klaus Huhn präsentiert sich ein Spotless-Verleger und Lügen-Detektor. Karl Nolle bläst die Blockflöte und Manfred Uhlenhut zeigt als Wende-Fotograf seine bewegende Bilder-Sicht auf den Mauerfall, ein überaus glücklicher Guido Knopp schrieb dazu das Vorwort.
Auch Bezug genommen wird wieder. Auf den Weltbürger Jürgen Kuczynski. Dieser ist nicht nur als international bekannter Geistes- und Sozialwissenschaftler in der Geschichte. Sondern auch als »linientreuer Dissident«, der nunmehr sogar als »quasi-Vorläufer« von Hans Bentzien gelten darf. Führte er doch mit seinem Urenkel Robert schon in den 80er Jahren einen Dialog. Den er glaubte, nach über einem Jahrzehnt – unter völlig umgekehrten Verhältnissen – fortsetzen zu müssen.
Das Schicksal einer Abiturvorbereitung
Ob das Buch »Warum noch über die DDR reden?«, vergleichbar dem von Christoph Links über die DDR-Verlage, überfällig war, sei dahin gestellt. Hans Bentzien war unschlüssig, ob er sich mit seiner Wortmeldung in die Abiturvorbereitungen seiner Enkeltochter Sophie einmischen solle. Hat es dann aber doch getan. Herausgekommen ist eine mit zahlreichen persönlichen und gewichtigen Details versehene Geschichtsbetrachtung, in der Vergangenheit und Gegenwart in einen unlösbaren Zusammenhang gestellt sind. Ein Kompendium, dem sich vor allem jüngere Leser zuwenden sollten, solche wie Sophie und ihre in Gesellschaftskunde noch unerfahrene Generation.
Der Autor ruft in Erinnerung, wie es einem Manne ergehen konnte, dessen Verständnis von künstlerischer Freiheit mehrfach denunziert, als »Sabotage« bewertet und entsprechend geahndet wurde. Für jene Leser, die wie der Kulturbuch-Blogsänger, einen entscheidenden Teil ihres bewussten Lebens nicht von dem verlorenen Land abtrennen lassen wollen, könnte der ebenso informative wie unterhaltsam Dialogtext alles in allem eine Bestätigung ihrer eigenen Erfahrungen bieten. Hin und wieder werden Vermutungen oder Ahnungen – beispielsweise die über das wirkliche und brisante Verhältnis zwischen der DDR und dem »großen Bruder« – mit Fakten bestätigt, denen Neuigkeitswert nicht abzusprechen ist.
Wenn es aber um die Frage nach den tiefen Gründen geht, an denen das sozialistische Experiment gescheitert ist, hilft letztendlich auch Bentzien nicht weiter. Sein Denkansatz über die objektiven wie subjektiven Untergangs-Aspekte ist allemal redlich, ihm fehlt es aber an Gewicht und Schärfe. Das betrifft ebenso sein Credo, man könne den Sozialisten von heute »eine mangelnde Selbstkritik nicht vorwerfen«. Subjektiv integer präsentiert sich der Autor, wenn er schreibt: »Ich habe nichts zu bereuen, und meine Arbeit kann ich vorweisen«. Allein dieser Satz darf aber auch als Provokation für alle gelten, die bereits sind, über ihre Mitverantwortung am Scheitern eines Staates nachzudenken.
Hans Bentzien. Warum noch über die DDR reden? Sophies Fragen. Verlag Das Neue Berlin. 192 Seiten, brosch., 12,90 €., ISBN 978-3-360-01964-6.Das Schicksal eines Siegers
Ohne Zweifel gehört Daniela Dahn zu den außergewöhn- lichen Frauen in Deutschland. Deutlich wird das beim Blick auf ihre Biografie. Im Oktober 1949 als Tochter des Journalisten Karl-Heinz Gerstner und der Modejournalistin Sibylle Boden-Gerstner in Berlin geboren, studierte sie an der Karl-Marx-Universität Leipzig Journalistik, arbeitete dann beim Fernsehen und machte sich 1981 – für DDR-Verhältnisse ein seltener Vorgang – freischaffend. Spätestens als ihr Buch »Prenzlauer Berg-Tour« 1987 auf den Markt kam, wusste der Leser, hier ist eine am Werk, die präzise recherchieren und treffend formulieren kann. In ihrem Blickwinkel lagen schon damals das reale Leben, die Menschengeschichten mit ihren sozialen Konflikten.
Dieser Einstellung ist sie nach dem Anschluss der DDR an die BRD treu geblieben. Sie mischte sich ein, als der Demokratische Aufbruch gegründet wurde, die Wochenzeitung »Freitag« Herausgeber suchte, auch als die sich rasant ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse einer kritischen publizistischen Betrachtung bedurften. Das Internet informiert über Bücher, bei denen schon der provokative Titel die Denkrichtung der Autorin vorzeichnet: »Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten«, »Westwärts und nicht vergessen – Vom Unbehagen in der Einheit«, »Vertreibung ins Paradies – Unzeitgemäße Texte zur Zeit«, »In guter Verfassung. Wieviel Kritik braucht die Demokratie?«, »Wenn und Aber – Anstiftungen zum Widerspruch« oder »Demokratischer Abbruch – Von Trümmern und Tabus«.
Daniela Dahn belässt es aber nicht beim Buch. Streitbar, originell und voller Sendungsbewusstsein will sie mit dem Lesepublikum auch über ihre politische Bilanz nach 20 Jahren Mauerfall und deutsche Einheit diskutieren. Sie ist überzeugt: Damit die große Krise nicht auch die Demokratie in den freien Fall zieht, muss der Kapitalismus aufhören, er selbst zu sein. Die Zuhörer in Neustrelitz (21.08.), Berlin (09.09.), Magdeburg (10.09.), Esslingen (18.09.), Kleinmachnow (23.09.), Los Angeles (19.10. – 31.10.), Wien (07.11.), Leipzig (23.11.), Halle (24.11.) und Chemnitz (25.11.) dürfen gespannt sein, was die Frau, deren ausgezeichneten Namen man mit Fontane, Kurt-Tucholsky und Ludwig Börne in Verbindung setzen darf, zu sagen hat.
Jorge Semprun hat es (uns) über sie schon gesagt: »In Daniela Dahns Schriften vollzieht sich die mitreißende, kritische Zeremonie der Negativität, die sich an der Wirklichkeit abarbeitet, bis die Wirklichkeit unter der Fülle der Erklärungen allmählich nachgibt und eine andere wird.« Auf wohl keines ihrer Sachbücher trifft diese Einschätzung so zu, wie auf das im Mai erschienene. Dort verkündet Dahn den für manchen überraschenden, scheinbar paradoxen, weil gegen alle offizielle Verkündigung gestellten, präzise recherchierten Befund: Mehr noch als der Osten ist der Westen zum Verlierer der Einheit geworden.
Das Schlüsselwort zu dieser Diagnose heißt Systemkonkurrenz. D.D. ist nicht der erste Heilpraktiker, vielleicht aber der in seiner Denkrichtung konsequenteste, wenn sie sachlich aufhellt, dass sowohl die BRD wie die DDR über ein positives Erbe verfügen. Das aber wird im Zuge der Einheit, zusätzlich unter dem Diktat der weltumspannenden Finanz- und Wirtschaftskrise, zunehmend verspielt.
Ihren abschließenden »Wehe dem Sieger«-Mitteilungeist ein gewisses Maß vorsichtiger Prophetie nicht abzusprechen. »Nicht wenige befürchten, die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, sei durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiet der politischen Demokratie zu beseitigen. Die Bedenkenträger zu widerlegen könnte die Aufgabe des angebrochenen Jahrhunderts werden.«
Daniela Dahn. Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen. Rowohlt Verlag. 304 Seiten. 18,90 €, ISBN 978-3-498-01329-5Das Schicksal einer Wende im Bild
Natürlich könnte man fragen: War ein weiterer Band über den Fall der Mauer wirklich nötig? Haben wir die Bilder der friedlichen Revolution nicht schon über die zwei Jahrzehnte hundert Mal gesehen. Im Fernsehen, im Film, in Büchern, auf Privatfotos. In der Erinnerung in unserem Kopf, werden manche sagen, die selbst am Mauerfall auf die eine oder andere Art beteiligt waren.
Die Antwort des Rezensenten heißt: Ja. Ein solcher Band, mit Fotos dieser Strahlkraft und den überlegt ausgesuchten aufschlussreichen, persönlich gehaltenen Statements und Zitaten Prominenter kann durchaus als Jubiläumsbeitrag anerkannt werden. Manfred Uhlenhut, zu DDR-Zeiten langjährig auch mit dem militärischen Sujet befasst, zeigt sich hier als genauer Beobachter. Als ein Mann mit dem Blick für das Wesentliche. Für Atmosphäre, Stimmung, Proportionen, Effekte und den entscheidenden Augenblick in des Wortsinns doppelter Bedeutung. Oft sind es auch die scheinbar unbedeutenden Details, die sich am Ende zu einer überraschend stimmigen Komposition zusammen fügen.
Manfred Stolpe resümiert über »eine dramatische Nacht und einen wunderbaren Morgen«, Gregor Gysi fragt »Was fehlte der DDR?«, der Journalist Heiko Engelkes macht sich darüber Gedanken, ob Berichterstattung Menschen gefährden kann. Wenn in Walter Mompers biografischem Bericht »Heute Nacht sind wir Deutschen die glücklichsten Menschen auf der Welt« vorkommt, dann ist ein solches Zitat aus dem Augenblickserlebnis einer historischen Umwälzung durchaus verständlich und auch nachvollziehbar.
Anders sieht es da schon mit dem Vorwort von Guido Knopp, dem selbsternannten ZDF-Historienpabst aus. Dieser Beitrag strotzt nur so von Glück: glückliche Zeit, glückliche Menschen, sein Glück in Berlin zu sein, glücklichstes Volk, das Glück des Tüchtigen, ein weiterer Glücksfall, schließlich des Satz »Dabei haben wir allen Grund, uns immer noch glücklich zu schätzen.« Ob das die Leser dieses Bildbandes heute auch so sehen, ist eher zu bezweifeln. Einige wenige vielleicht. Große Schichten des Volkes der Ex-DDR wohl kaum. Zu stark sind auf die Einheit folgende soziale Verwerfungen ausgefallen. Die Mischung von kritischer Distanz, Selbstbewusstsein, aber auch Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft in den Gesichtern des Fotos »WIR sind das VOLK – 1989/1990« bleibt dem Betrachter als Mahnung für die Zukunft.
Manfred Uhlenhut. Als die Mauer fiel. Mit einem Vorwort von Guido Knopp. Knesebeck Verlag. 95 Seiten, mit zahlreichen, z.T. farbigen Fotos. 19.95 €. ISBN 3-86873-026-5Das Schicksal der großen Lügen
Klein, aber oho! Das darf man ohne jedwede Übertreibung vom einer editorischen Einrichtung sagen, die noch vor der Wende – auf Anregung des damaligen Ministerpräsidenten Hand Modrow – von Klaus Huhn gegründet wurde. Unter dem Pseudonym Klaus Ullrich hatte der Sportchef des »Neuen Deutschland« 42 Jahre den DDR-Sport etabliert, propagiert, kommentiert, kritisiert, instrumentalisiert, vor allem aber als weltweit führend inthronisiert. Von einem dabei über die Dezennien entstandenen Netzwerk aus Sachkunde, Hintergrundwissen und Standpunkt profitieren denn auch jene Autoren aus der DDR, die – wie es Wikipedia kundtut – »nach der Wende wegen allzu großer Parteinähe ohne Beschäftigung waren« und nennt die Namen Günter Görlich, Eberhard Panitz, Harry Thürk, Gerhardt Holtz-Baumert, Erich Köhler und Walter Flegel.
Einen Namen findet der Leser bei Wikipedia allerdings nicht aufgeführt: Klaus Huhn. Erstaunlich, wie oft der 1926 geborene Halbbruder von Ex-Politbüromitglied Werner Eberlein unter den bisher erschienenen weit über 200 Spotless-Bänden seines kleinen, aber feinen Verlages mit linkem Profil die Autorenschaft für sich beanspruchen kann. Das änderte sich auch nicht, nachdem Spotless als Periodikum in der edition ost der Eulenspiegel Verlagsgruppe Aufnahme fand. Eher im Gegenteil.
In kurzer Folge erschienen mit »Nebenzeuge in Sachen ND« eine handfeste polemische Replik auf das Buch von Ciesla/Külow »Zwischen den Zeilen – Geschichte der Zeitung Neues Deutschland«, mit »Raubzug Ost – Wie die Treuhand die DDR plünderte« die Huhn-Bilanz einer weltweit beispiellosen »Abwicklung« und mit »Kleines Handbuch der großen Lügen über die DDR« eine Sammlung von zwei Dutzend dreister Verleumdungen. Über ein Land, dem der Autor lange Zeit redlich diente und wohl gedenkt, auch weiterhin zu dienen. Selbst wenn es »nur« darum geht, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.
Zu lesen ist von »Auftragsmorden«, »Zwangsschulen«, »Nazigrößen in der DDR«, von »Dressierten Kindern«, dem »Dopingland«, vom »Anstieg der Suizide« und natürlich auch von »Blühenden Landschaften«. Interessant, welche Quellen Klaus Huhn bemüht, um seinem Grundanliegen Geltung zu verschaffen. Von BILD über FOCUS, SPIEGEL und QUICK bis zur BERLINER ZEITUNG reicht die Palette der Printmedien, in denen verbreitet wurde, was den Autor zur kommentierenden Gegenüber- und Richtigstellung veranlasste. Nicht neu, aber immer wieder lesenwert – der Briefwechsel zwischen der Schauspielerin Käthe Reichel, die im »abgewickelten« Kalischacht Bischofferode an einem Hungerstreik teilnahm, und Treuhandchefin Birgit Breuel, die die »Sehr geehrte Frau Reichel« bittet, »mit dazu beizutragen, dass keine Legenden entstehen«.
Übrigens: Auch das »Neue Deutschland« darf nicht fehlen. Der Textbeitrag befasst sich mit dem Prozess gegen Markus Wolf vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf und einem ominösen »Killerkommando«. Und ein weiteres Mal wird zum ND ein Bezug hergestellt: Der aber ist wohl eher unbeabsichtigt. »DIE DDR HAT´S NIE GEGEBEN« – eine Provokation, von der Buchautor und Zeitungsmacher gleichermaßen inspiriert zu sein scheinen. Die auf Mauerreste im Zentrum Berlins gemalte Losung findet sich sowohl als Covermotiv des spotless-Buches wie auch als Logo der montäglichen Jubiläum-20-Beiträge im ND. Alles hängt mit allem zusammen, schreibt Hermann Kant 1991 im »Abspann«. Eine Binsenwahrheit, die immer gültig ist und auch hier zutrifft.
Klaus Huhn. Kleines Handbuch der großen Lügen über die DDR. Spotless, edition ost im Verlag Das Neue Berlin. 96 Seiten, kostenlose Sonderausgabe. www.edition-ost.de.Tel. 01805-309999Das Schicksal der Blockflöten
Wohl selten hat ein Buch schon vor seinem Erscheinen für so viel Wirbel im bundesdeutschen Blätterwald gesorgt wie das von Karl Nolle. Der aus dem Hessischen stammende gelernte Elektromechaniker – Studium von Geschichte, Politik, Soziologie und Psychologie, dann Druckereigeschäft, zieht im Februar 1990 Richtung Dresden, um dort als Berater und in Treuhandangelegenheiten tätig zu werden. So übernimmt er das Druckhaus Dresden. Umsiedlung 1995. Seit 1999 Abgeordneter einer Partei, in die er 1963 eintrat, 1986 ausgeschlossen wurde und 1998 wieder eingetreten ist: Ihr Name SPD.
In dieser Eigenschaft beschert er der Christlich-Demokratischen Union jetzt mit der »Sonate für Blockflöten und Schalmeien« das Musikstück, in dem mit mehreren Instrumenten unter dem Pseudonym »Aufklärungsschrift« ein auch ins Wahlkampfgetöse passender Generalangriff gegen die CDU in ihrer sächsischen wie bundesdeutschen Ausprägung geführt wird. Nolle steht am Pult und gibt den Takt an.
Im Orchester sitzen Co-Autoren – darunter Cornelius Weiss, Michael Lühmann, Michael Bartsch, Konrad Weiss, Gerhard Ruden, Manfred Bauer, Hermann von Strauch und Christian Führer – die, jeder mit eigenem schrilltönenden Instrument, die Grundmelodie vom Unrechtsstaat DDR, ihrer SED und deren Parteivasallen in Variationen intonieren, die vor einem zukünftigen Urteil der Geschichte kaum Bestand haben wird.
Der Schriftsatz lautet »Die verdrängte Geschichte der DDR-CDU und die Doppelmoral ihrer bundesdeutschen Vor- und Nachläuferin«. Nolle selbst steuert eine Vorbemerkung, die Dokumentation »Zur Geschichte der Blockpartei CDU« und ein ausführliches Blockflöten-Register bei, in dem alle Früheren und Heutigen versammelt sind. Auch die Medien dürfen nicht fehlen, wenn der große Dirigent zum musikalischen Rundumschlag ausholt: Bild, Spiegel, Die Welt, ddp, Die Zeit, LVZ, SZ, DNN, diverse online-Magazine…
In einem der Intermezzi kommt Nolle auf Leute wie Ex-Innenminister Heinz Eggert, den »Mann mit vielen Dimensionen«, Ludwig Güttler, den »Musiker und Blechbläser« sowie Hans Joachim Meyer, den »Mann mit der besonders scheinheiligen Wendekarriere« zurück. In seitenlangen Dossiers strapaziert der sendungsbewusste Musikus noch einmal, was in den zurückliegenden knapp 20 Jahren schon einmal oder mehrfach und überwiegend öffentlich behandelt wurde.
Auch Landesgrenzen können Nolles Lied von der »brutalstmöglichen« Aufklärung nicht stoppen. In Thüringen soll es Ministerpräsident Dieter Althaus, in Brandenburg Wirtschaftsminister Ulrich Junghanns, in Sachsen-Anhalt Klaus Schmotz, Oberbürgermeister von Stendal (Ex-SED-Genosse und Oberstleutnant der Grenztruppen, gewählt mit Unterstützung der CDU), in den Ohren klingen.
Zwei weitere Intermezzi haben die verwerfliche CDU-Kooperation mit »vernünftigen Linken« im Bereich der Neuen Länder und den unter dem Motto »Geteilt – Vereint – Gemeinsam« stehenden Bundesparteitag seiner »Hasspartei« im Dezember 2008 in Stuttgart zum Inhalt. Dort verbreitete sich der einschlägig bekannte Fritz Niedergesäß (CDU Treptow/Köpenick) im Denkstil eines Hubertus Knabe über den Dirigenten – laut Tonaufzeichnung – mit den Worten: »Und wenn heute Leute wie Nolle in Sachsen, aus meiner Sicht der übelste Schmierfink, der aus dem Westen hier rüber gekommen ist in die neuen Bundesländer, wenn diese Typen uns jetzt hier für `ne Sache verantwortlich machen wollen, für die wirklich keiner verantwortlich ist, dann können wir uns dagegen nur ganz energisch gegen aussprechen.«
Das Wort an Niedergesäß erteilt hatte mit Tagungsleiter Stanislaw Tillich genau jener Mann, der für Nolle Präludium, Intermezzo und Schlussakkord seiner Enthüllungsoper ist. Für ihn hat unser SPD-Abgeordneter den Titelpart reserviert. An dem Angriff auf die Person des Ex-CDU-Nomenklaturkaders, Sorben, Mitglied einer »stinknormalen DDR-Familie« und nunmehrigen sächsischen CDU-Ministerpräsidenten ist Tillich selbst nicht ganz schuldlos. Hat er sich doch in den »Wirren der Jahre nach der Wende« in diversen Erklärungen zu seinem Lebenslauf nur »ungenau« geäußert. Die Quittung für dieses vom damaligen Zeitgeist, Parteiarroganz, Mangel an Courage sowie politischer Beschränkung diktierte Verhalten bekommt Tillich samt seiner Führungscrew und zzgl. der kompletten Familie jetzt mit einer stark politisch eingefärbten musikalischen Provinzposse. Ausführliche Partituren dazu sollen dem Leser hier erspart bleiben.
Es reichen Satzanfänge wie Kollaboration, Täter, Mitläufer, Opfer. Verhaltensmuster, Unrechtsstaat, Systemvergleich, Heuchelei, Pharisäertum, Einäugigkeit, Selbstbeweihräucherung und Verstrickung. Wie Widerstandskämpfer, Schizophrenie, Opposition, Verantwortung, Persilschein, Vertrauen und Vergessen.
Bleibt zum Schluss die Frage: Sollte man eine solche »Blockflöten-Sonate« lesen? Läuft das Musikstück, konsequent bis ans Ende eines (noch) nicht komponierten Teils gedacht, doch darauf hinaus, dass es im Interesse von Verfasser und Adressaten gleichermaßen besser gewesen wäre, wenn es die DDR nicht gegeben hätte.
Unter dieser historischen Prämisse könnte Brecht dem potentiellen Leser eine »lyrische Antwort« auf die Frage geben. In seinem Zyklus »Buckower Elegien«, der im Sommer 1953 in seinem Wohnsitz am Scharmützelsee entstand, findet sich das Gedicht
Karl Nolle. Sonate für Blockflöten und Schallmeien. Sächsische Hefte Nr. 7, 336 Seiten, 9.80 €, ISBN 978-3-00-028962-7D i e L ö s u n g
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
Das Schicksal eines Dialogs
Das Bentzien-Buch, mit dem Teil 2 des Rückblicks in die Zukunft eröffnet wurde, setzt beim aufmerksamen Leser vor allem der älteren Generation, auch Assoziationen frei zu Jürgen Kuczynski. Der ließ auf den 1977 beendeten, erst 1983 erschienenen, sofort umstrittenen, dann verbotenen und schließlich durch Honecker zur 2. Auflage freigegebenen »Dialog mit meinem Urenkel« ein Dutzend Jahre später als Unverbesserlicher den »Fortgesetzten Dialog mit meinem Urenkel« folgen. In einem Land nunmehr, das ihn nicht besondern mochte, aber tolerierte und duldete. Eine vergleichende Betrachtung ergibt: In beiden Büchern wird das »Problem DDR« auf ganz unterschiedliche Weise provokativ und selbstkritisch thematisiert.
Kuczynski, ausgestattet mit der Lebenserfahrung von neun Jahrzehnten, bleibt im Dialog 2 weiterhin streitbar und scharfsinnig, natürlich nicht ohne die Mitteilung an den Leser, dass er – immer dem Urteil seines Vaters folgend – sich »stets als ein first rate second class Wissenschaftler eingestuft hat, erster Rang in der zweiten Klasse«. Das schließt seine weltumspannenden Kontakte mit ihm gemäßen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Berühmtheiten ein. Was er den Urenkeln Robert und Renè (und damit dem Leser) zu sagen hat, ist von hohem Gewicht.
Marx und Engels stehen für ihn völlig außer jeder Kritik. Auf Lenin lässt er nichts kommen. Stalin ist für ihn »der wahre Totengräber, nicht des Sozialismus, aber der ersten Anfänge auf dem Weg zum Sozialismus«. Der Autor schildert selbstbewusst und kenntnisreich seine geradezu außergewöhnlichen Beziehungen zu den Repräsentanten von »Oben«. Gespannt ist seine Beziehung zu Ulbricht, mehr als ambivalent ist sein Verhältnis zu Honecker.
Schließlich hält er – die Frage bezieht sich auf die Nachwende-Gerichtsverfahren – »alle, mit Ausnahme von Wilhelm Pieck, für Verbrecher. Mein Urteil über sie hat sich grundlegend geändert. Ich halte sie aus ganz anderen Gründen für Verbrecher als das Gericht, weil sie sich nämlich für allwissende, keine Fehler machende Götter hielten, voller Verachtung für die Meinungen einfacher Menschen, voller Verachtung für die Intelligenz … Es fehlte ihnen Oben jedes Solidaritätsgefühl mit den Menschen der Gesellschaft, in der sie Befehlsfunktionen einnahmen.«
Dieses Zitat vertieft provokant die Beiträge von Hans Bentzien, Daniela Dahn und Klaus Huhn. Auf andere Weise auch den von Karl Nolle. Fotograf Manfred Uhlenhut kann hier nicht als Kronzeuge zitiert werden, sein glücklicher Vorwortschreiben Guido Knopp schon gar nicht. Darüber hinaus möge der Leser entscheiden, ob er sich dem Urteil des Jahrhundertzeugen Kuczynski über Personen, die Zeitgeschichte mitgeschrieben haben, anschließen will oder kann.
Die vielschichtige, widersprüchliche Realität der neueren deutschen Geschichte scheint sich einer gerechten Bewertung durch das betroffene Volk – auch das teilen die Bücher mit – zu entziehen. Die Unfähigkeit der Deutschen zu trauern, wie wir sie von Alexander und Margarete Mitscherlich schon vor über 40 Jahren in ihren Untersuchungen zu den Grundlagen kollektiven Verhaltens mitgeteilt bekamen, gilt weiterhin. Damit fehlt dem Vermögen, aus Vergangenem einen brauchbaren Zukunftsentwurf abzuleiten eine wichtige Voraussetzung.
Für die Protagonisten und Nutznießer des Kapitals mit ihrer Rechtfertigungslogik ist das nicht verwunderlich. Für Sozialisten, die unbeirrt eine Ablösung der Verhältnisse auf ihre Fahne schreiben, schon eher. Marx, teilt Kuczynski mit, schrieb im 18. Brumaire, „daß nämlich die proletarischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts beständig sich selbst kritisieren. Sie unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, sie kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhaft ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht.« Bis zu »dieser Situation« ist noch ein weiter Weg. Ob jene, die sich im Herbst `89 mit dem Schild »WIR sind das VOLK – 1989/1990« auf denselben machten, eine solche Zeitenwende noch erleben, ist mehr als fraglich.
Jürgen Kuczynski. Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater. Schwarzkopf & Schwarzkopf 1996, brosch. 256 Seiten, ISBN 3-89602-064-1.
Meinen Meinung nach ging die Wendeepoche zu schnell über uns hinweg.
Die Kohlregierung hatte nichts unternommen, damit unsere Betriebe eine Chance erhielten sich anzupassen. Statt desse wurde Tür und Tor
zur Ausplünderung geöffnet um Konkurenz auszuschalten.Z.B Rotasym an Kugelfischer Pößnek. Metallweberei Neustadt Drahtwebstuhlbau usw.
Nun haben wir hier das Problem der fehlenden Arbeitsplätze.