Aus ihrer DDR-Zeit mit Anpassungsstrategien vertraut, hat sich Angela Merkel vier Jahre lang geschickt auf die Verhältnisse einer Koalition mit der SPD eingestellt, nachdem sie eigentlich mit einem scharf neoliberalen Programm das Land »durchregieren« wollte. Nun schaltet sie zurück und richtet ihren Kurs auf Guido Westerwelle aus – nicht ohne sich Auswege für einen erneuten Schwenk offen gelassen zu haben. Sie will weiterhin wie aus den Wolken agieren, als
Schwebender Engel mit Pferdefuß
Angela Merkel möchte die Kanzlerin aller Deutschen sein – und bekommt doch kaum die schwarz-gelbe Koalition unter einen Hut
Als evangelische Pfarrerstochter mag Angela Merkel zu Barlachs schwebendem Engel im Dom zu Güstrow grundsätzlich ein inniges Verhältnis haben. Aber darüber hinaus scheint sie die von aller irdischen Mühsal abgehobene Figur auch zum Leitbild ihres Handelns als Regierungschefin zu machen. Bei den Koalitionsverhandlungen blieb sie jedenfalls drei Wochen lang beinahe unsichtbar, überließ den Westerwelle und Seehofer, den Pofalla, Niebel und Dobrindt das Wort zur nichtssagenden Begleitung des Themen- und Personalpokers zwischen CDU, CSU und FDP – eben eine »Schwebende« über den mal stillen, mal schäumenden Wassern. Und selbst in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages schien die Kanzlerin kaum zum neuen Männerbund von Horst und Guido zu gehören; ziemlich entrückt betrachtete sie das Imponiergehabe ihrer Partner.
Diese Attitüde hat Angela Merkel bereits in der Großen Koalition eingeübt. Die Bundestagswahl 2005 mag für sie insofern ein Schlüsselerlebnis gewesen sein, als sie sich plötzlich von der vor allem auf dem Leipziger Parteitag 2003 verkündeten Politik – Steuersenkungen für die Wirtschaft zu Lasten der Sozialsysteme, Entsolidarisierung des Gesundheitssystems durch die Kopfpauschale, Abbau des Kündigungsschutzes – teilweise verabschieden musste. Nicht zuerst deshalb, weil sie nun die SPD als Regierungspartner hatte, sondern wegen der unmissverständlichen Botschaft der Wähler, dem »Durchregieren« auf dieser Basis die Zustimmung zu verweigern. Damals kam die erwünschte schwarz-gelbe Koalition nicht zustande, und als Physikerin begriff Angela Merkel sofort: Wenn ein Modell der Prüfung der Wirklichkeit nicht standhält, muss es durch ein anderes ersetzt werden.
Sie nutzte die Große Koalition mit den Sozialdemokraten, um der eigenen Partei eine behutsame Kurskorrektur zu verordnen. Einige ihrer Positionen übernahm sie, auf andere legte sie den neuen Partner fest. Dabei half ihr, dass die SPD selbst sozialdemokratische Grundforderungen mehr und mehr über Bord warf und mitunter mit der Union schon wetteiferte, wer die unternehmerfreundlichere Politik betreibe. Siehe Festhalten an Hartz IV, siehe Rente mit 67, siehe Mehrwertsteuererhöhung nach der Wahl 2005. In der Großen Koalition sind nicht CDU und CSU durch die SPD sozialdemokratisiert worden, sondern die Kanzlerin hat im Gegenteil die SPD verbürgerlicht, indem sie jene Seiten der Schröder/Steinmeier/Müntefering-Politik, die eine Abkehr von den Traditionen der Arbeiterpartei bedeuteten, verstärkte und damit die SPD in die Sackgasse einer vernichtenden Wahlniederlage manövrierte.
Nun aber hat sie es mit der FDP Guido Westerwelles zu tun, die endlich die vor vier Jahren verpasste Wende zum Neoliberalismus durchsetzen will und dabei Schützenhilfe aus dem Wirtschaftsflügel der Union und natürlich dem Unternehmerlager erhält. Der FDP-Chef hatte zwar das Guido-Mobil inzwischen verlassen und seine Schuhe mit den 18-%-Sohlen abgelegt, doch inhaltlich hat sich am Wirtschaftsprogramm der Freidemokraten nichts geändert.
Diese Sachlage stellte Angela Merkel nüchtern in Rechnung. Immerhin hatte die FDP bei den Bundestagswahlen fast fünf Prozent hinzugewonnen, während die Union 1,4 Prozent verlor. Die daraus resultierende Hochstimmung der Liberalen zu ignorieren, hätte gleich zu Anfang des neuen Bündnisses für eine Belastung gesorgt; einige Male schienen die Verhandlungen tatsächlich in schweres Fahrwasser zu steuern. Merkel entschloss sich einzulenken – auch deshalb, weil sie, anders als Guido Westerwelle, über kein eigenes politisches Konzept verfügt. Zwar ist dessen »Masterplan« von gestern – so sehr, dass sogar der Chef des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, enttäuscht feststellte: »Die FDP ist mit einem zehn Jahre alten Programm in die Wahl gegangen« –, aber Westerwelle hat immerhin ein Konzept, während Merkel allein aus der Situation heraus entscheidet.
Vor der Wahl hatte sie noch einige Pflöcke eingeschlagen: Kündigungsschutz und Mitbestimmung für unantastbar erklärt, den Gesundheitsfonds verteidigt. Doch nun räumte sie etliche Positionen aus der Zeit der Großen Koalition, recycelte in Teilen das lange verleugnete »Leipziger Programm«. Sie signalisierte damit, dass sie sich leichten Herzens vom Kurs der ihr häufig vorgehaltenen so genannten Sozialdemokratisierung verabschieden und in genau die entgegengesetzte Richtung marschieren kann – so es denn machtstrategisch ohne negative Folgen bleibt.
Denn hinter dem Agieren der Kanzlerin in der Großen Koalition eine soziale Ader zu vermuten, ging stets fehl. Sie trifft ihre Entscheidungen vor allem nach den Maßstäben des Durchsetzbaren und dem Machterhalt Dienenden. So war es 2003, als sie die weitgehend dem neoliberalen Zeitgeist anhängende Partei beim Streben um die Kanzlerschaft geschlossen hinter sich versammeln wollte. Und so war es mit ihren Versprechungen vor dieser Wahl, mit denen sie nicht zuletzt die Fortsetzung ihrer Amtszeit sicherte. Jetzt muss sie ein einigermaßen konfliktfreies Regieren mit den Freidemokraten bewerkstelligen, und das lässt sie erneut umschwenken – ein Stück weit zurück zu den Positionen des Leipziger Parteitages von 2003.
Dabei hält Merkel sich aber für die Zukunft alle Möglichkeiten offen. 84 Prüfaufträge zählten fleißige Journalisten im Koalitionsvertrag. Für acht komplizierte Probleme werden Kommissionen angekündigt. Das lässt viel Spielraum für Korrekturen, wenn es die Lage aus ihrer Sicht erfordert. Und auch einige Personalentscheidungen deuten darauf hin, dass sie die Entwicklung in der Hand behalten will. Das gilt zum einen für die Finanzpolitik, die künftig Wolfgang Schäuble verwalten soll; er weiß um den Zusammenhang von sozialer Unzufriedenheit und innerer Sicherheit. Er wolle »den Staat schon gern so stark haben, dass die Bürger nicht glauben, sie müssten bei irgendwelchen radikalen Kräften ihre Zuflucht suchen«, sagte er einmal – und auf diesen Prüfstand wird er wohl auch allzu bedenkenlose FDP-Forderungen stellen.
Die Gesundheitspolitik hingegen übertrug Angela Merkel dem relativ unerfahrenen FDP-Newcomer Philipp Rösler. Er muss künftig zwischen den hohen Erwartungen der Lobbyverbände von Pharmaindustrie, Ärzten und Krankenkassen einerseits und dem absehbaren Protest der von den bereits angekündigten Beitragserhöhungen in Kranken- und Pflegeversicherung Betroffenen andererseits balancieren und wird schnell spüren, wie wenig radikale Umbauten zur Standfestigkeit des Gesundheitssystems führen.
Angela Merkel hat also genügend Sicherungen installiert, um bei Bedarf wieder in eine andere Richtung umzuschwenken. Sie fährt auch künftig »auf Sicht«, wie das neue Schlagwort für ihre Politik heißt. Sie kann es nicht anders, denn über langfristige Pläne für die Führung des Landes, Konzepte der Nachhaltigkeit, Visionen gar verfügt diese Kanzlerin nicht. Aber sie dürfte darin kein Defizit sehen, denn ihr Ziel ist allein Dauerhaftigkeit beim Machterhalt für die Union. Und da steht als nächstes Datum der 9. Mai 2010 in ihrem Kalender, der Wahltag in Nordrhein-Westfalen, wo eine schwarz-gelbe Landesregierung zu verteidigen ist. Vor diesem Termin, dafür hat sie gesorgt, wird es keine dramatischen sozialen Einschnitte geben.
In diesem Sinne wird sie in den kommenden Jahren versuchen, ihren bisher erfolgreichen Kurs auch unter schwarz-gelben Vorzeichen fortzusetzen und darüber hinaus daran arbeiten, die Grünen endgültig auf ihre Seite zu ziehen. Der bürgerliche Charakter der einst alternativen Partei ist mit den Jahren immer stärker hervorgetreten und wird nun politisch nutzbar. Deutlichstes Zeichen dafür war bereits im Vorjahr das schwarz-grüne Bündnis in Hamburg, jetzt ist die schwarz-gelb-grüne Konstellation im Saarland hinzugetreten. Das von Angela Merkel mit großem Wohlwollen betrachtete Jamaika-Experiment hilft der Union, sich von der FDP nicht über Gebühr abhängig zu machen und doch die Basis für lang währende politische Meinungsführerschaft und Regierungsdominanz von CDU und CSU zu schaffen.
Die heute zu wählende alte und neue Kanzlerin wird ihr engelsgleiches Schweben über den Problemen des Landes nicht aufgeben. Sie wird weiter im Hintergrund wirken und den Eindruck zu erwecken versuchen, sie sorge für Mäßigung und gerechten Ausgleich. Und sie wird hoffen, dass man hinter solcher Maskerade den Pferdefuß nicht entdeckt.
(Gedruckt in »Neues Deutschland« am 28. Oktober 2009)