Die Psychiatrie kennt das Krankheitsbild der manisch-depressiven Psychose. Dabei wechselt sich eine euphorisch gehobene Grundstimmung bis hin zu erhöhtem Selbstwertgefühl, Überschätzung eigener Fähigkeiten und Enthemmung mit Phasen von Gedrücktheit, Traurigkeit, Angst und Verzweiflung ab. Als »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt« hat Goethe dieses Wechselbad der Gefühle beschrieben, was er allerdings auf den einzelnen Menschen bezog. Die Vorgänge um den Freitod des Fußballtorwarts Robert Enke lassen allerdings fragen, ob nicht inzwischen das ganze Land solch pathologischem Verhalten verfallen ist.
Der Fußball hat sich dafür schon seit längerem als exemplarisch erwiesen. Der Sommer 2006 mit den euphorischen Massen, die wie im Rausch durch die Straßen tobten und das Spiel auf dem Rasen zum Anlass für eine gigantische Party nahmen, wies alle Symptome der manischen Phase auf. Hingegen stürzte der Tod Enkes Tausende in eine depressive Stimmung; plötzlich trauerten viele um einen eigentlich wildfremden Menschen, von dem etliche vor einer Woche noch nicht einmal den Namen kannten. Doch das Phänomen ist natürlich auf den Fußball nicht beschränkt. Ständig werden wir animiert, »himmelhoch jauchzend« zu sein, künstlich unsere Emotionen hochzufahren – ob im Job oder im sozialen Gefüge. Und weil Versagen dabei nicht vorgesehen ist, muss seine Verarbeitung, wenn es eintritt, ebenso inszeniert werden; dann haben wir »zu Tode betrübt« zu reagieren. Die Trauer selbst wird zum Event. Heute sind wir alle Papst und morgen Robert Enke.
Verbunden ist das alles mit der ständigen Nötigung zur »Bestleistung« – und zwar auf allen Gebieten. Es ist dies eine Leistung, die keinen objektiven Kriterien folgt, sondern von subjektiven Interessen, dabei oft Gewinnstreben, definiert wird. Das fängt bei der Mode an, die uns vorschreibt, was gerade »in« ist und jeden zum Außenseiter stempelt, der sich diesem Terror nicht durch Anpassung unterwirft. Das setzt sich in der Gruppe fort, wo oft irrationale Normen einen Status bestimmen, den jeder akzeptieren muss, der dort seinen Platz behaupten will. Es findet sich im Berufsleben, wo die Leistung oft nicht genügt, sondern ihr durch künstliche Motivationsschübe nachgeholfen werden muss. Und es schleicht sich zunehmend auch in private Beziehungen ein, in denen man sich nicht mehr geben darf, wie man ist, sondern eine Maske überzustülpen hat, die ein fremdbestimmtes Bild vorgaukelt.
Treibende Kraft in diesem unaufhörlichen Manipulationsvorgang sind ohne Zweifel die Medien. Es ist schon grotesk, wenn an einem Tag, an dem eine frisch gewählte Regierungschefin ihr künftiges Programm für das Land verkündet, dies weit in den Hintergrund tritt – zugunsten des Schicksals eines Fußballspielers. Und das nicht nur in den Boulevardmedien, sondern auch in der so genannten seriösen Berichterstattung. Es zeigt mehr als alles andere, wie sehr diese Republik emotional reagiert, also aus dem Bauch heraus, und den Kopf abschaltet. Und man kann fast den Verdacht schöpfen, dies sei so gewollt, denn natürlich war Angela Merkels Regierungserklärung auch ein Trauerspiel, geeignet, den interessierten Beobachter in tiefe Depression zu stürzen. Aber wenn schon Trauer, dann vielleicht doch lieber um ein tragisch geendetes Sportidol …
Wir brauchen, wenn’s so weitergeht, bald jedes Jahr eine WM 2006 oder einen tragischen Star-Selbstmord…
Das Ganze hat für mich etwas Archaisches. Kollektivierung von Gefühlen, etwa Opfer-Rituale als Massenveranstaltung gegen das Schuldgefühl. Brauchen wir Projektionsflächen für unsere Gefühle? Trauer outsourcen?
Das ging doch alles los mit Lady Di. Und es geht meist um berühmte Leute, die Höhen und vor allem Tiefen erleben. Ein menschelnder Star, das scheint es zu sein, das Identifikationsmoment.
Mir war der WM-Massenrausch genauso unheimlich wie die Kollektivtrauer gestern im Stadion.