Hauptverwaltung Aufklärung der DDR – kurze Geschichte eines Spionagedienstes (Teil VI)

Gegenwärtig hat die »Aufarbeitung« der DDR wieder einmal Hochkonjunktur, und wie stets steht dabei die Dämonisierung der Stasi im Vordergrund – ungeachtet der seit 20 Jahren zu hörenden Forderung ernsthafter Beobachter, die realen Machtverhältnisse in der DDR in den Blick zu nehmen – was einschließt, das Ministerium für Staatssicherheit als den verlängerten Arm der SED zu betrachten. Das freilich ist vielen Politikern und Ideologen der heutigen Bundesrepublik zu riskant, unterhielt doch deren offizielle Führung bis zuletzt beste Beziehungen zur DDR-Staatspartei; anderen ist es einfach zu mühsam, sich wirklich seriös mit dem DDR-System zu beschäftigen, sie sind auf spektakuläre Darstellungen aus, die sich für die Propaganda eignen. Propaganda ist es denn auch, was – ähnlich wie bei vergleichbaren Jubiläen in der DDR – die öffentliche Meinungsbildung prägt.

Um wie vieles komplizierter die inneren Verhältnisse der DDR, einschließlich der Rolle eines solchen Bestandteils der Staatssicherheit wie der Hauptverwaltung Aufklärung, im Beziehungsgeflecht von Staat und Partei tatsächlich waren, ist bereits in einer früh erschienenen Darstellung der Geschichte und Arbeitsweise der HVA, veröffentlicht 1992 im Berliner Verlag ElefantenPress, nachzulesen. Die Online-Veröffentlichung des im Handel nicht mehr erhältlichen Buches »Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report« wird hier mit dem sechsten Teil fortgesetzt.

Die verbogene Realität

Eines Tages im Frühsommer 1989 griff Generaloberst Großmann zum Telefon, um dem Leiter seiner Auswertungsabteilung die Leviten zu lesen. Vor ihm lag ein Vermerk des damaligen Sekretärs für Außenpolitik im SED-Zentralkomitee, Hermann Axen, in dem dieser in unfreundlichen Worten eine der letzten Geheiminformationen der HVA rügte. Sie hat sich mit den von Axen und dem SPD-Politiker Egon Bahr geführten Gesprächen über einen atomwaffenfreien Korridor in Europa beschäftigt und interne Wertungen aus der SPD dazu wiedergegeben. Diese unterschieden sich nicht unwesentlich vom offiziellen Bericht, den Axen dem Politbüro vorgelegt hatte und der die Diskussionsrunde als großen Erfolg der DDR-Außenpolitik und vor allem als Einlenken der Sozialdemokraten auf SED-Positionen feierte. Axen brachte in seiner Replik zum Ausdruck, dass er die geheimen Gedanken seiner Bonner Gesprächspartner weitaus besser kenne als irgendein »Kundschafter« und der abweichende Bericht der Spionageabteilung mithin falsch sei – oder vielleicht sogar eine Intrige gegen ihn und seine erfolgreiche Politik.

Großmann wies seinen Abteilungsleiter an, künftig ein besseres Gespür für die Sichtweise der Empfänger von HVA-Informationen zu entwickeln, und der gab die Anordnung an seine Auswerter weiter.

Unabhängig davon, wer mit seiner Einschätzung im konkreten Fall richtig lag, zeigt das Beispiel, wie die Informationen der HVA Ende der 80er Jahre immer mehr der Gedankenwelt der SED-Spitze widersprachen und diese damit veranlassten, ihre eigenen subjektiven Urteile auch hier zum Maß aller Dinge zu machen. Begonnen hatten die Bemühungen, aus den bis dahin noch ungeschminkten Geheimdienstberichten das Unerwünschte zu eliminieren, aber bereits viel früher – etwa zu Beginn der 70er Jahre. Bis dahin hatte die Hauptverwaltung Aufklärung etwas Exklusives gehabt. Sie war nahezu das einzige, auf jeden Fall aber das bedeutendste Organ, das etwas über die Welt außerhalb der DDR vermittelte. Nur in den sozialistischen Ländern sowie einigen wenigen Hauptstädten der dritten Welt verfügt der östliche deutsche Staat über Botschaften; ansonsten war ihm der Zugang zur internationalen Bühne versperrt. In dieser Situation besaß die HVA das Monopol auf Informationen aus dem Ausland, und die Führung der DDR war auf den Wahrheitsgehalt, die Exaktheit ihrer Berichte angewiesen. Das wirkte sich positiv auf Qualität und Seriosität aus, zumal – wie schon dargestellt – das weitgehende Fehlen »legaler Residenturen« eine Konzentration auf die illegale Beschaffung erzwang.

Als sich in den 70er Jahren die Entspannungstendenzen international immer stärker durchsetzten, profitierte davon auch die DDR. Ihre weltweite Anerkennung fiel dem gerade an die Macht gekommenen Erich Honecker wie eine reife Frucht in den Schoß. Die Bundesrepublik hatte in grundlegenden Verträgen mit der UdSSR und Polen ihre Bereitschaft signalisiert, wesentliche Ergebnisse des zweiten Weltkrieges anzuerkennen. Selbst die komplizierte Westberlin-Frage wurde durch das Viermächteabkommen vom 3. September 1971 entschärft, und am 21. Dezember 1972 unterzeichneten die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR den Grundlagenvertrag. Damit war für den zweiten deutschen Staat der Weg in die internationale Arena frei. 1973 nahm die UNO-Vollversammlung die DDR als Mitglied auf, und am Ende jenen Jahres hatten 100 Staaten zu ihr diplomatische Beziehungen hergestellt.

Nun konnte die DDR überall in der Welt Botschaften einrichten – und mit ihnen – wie das fast alle Staaten tun – legale Residenturen des Geheimdienstes. Dabei handelt es sich um nachrichtendienstliche Stützpunkte in einer offiziellen Mission des Landes im Ausland. Besonders geeignet für eine solche Abdeckung sind Botschaften, da deren Mitarbeiter diplomatischer Immunität genießen und daher bei Enttarnung im Prinzip nicht belangt werden können. Außerdem verfügen Botschaften über weitgehende Arbeitsmöglichkeiten im Gastland sowie ein eigenes Verbindungssystem in die Heimat, worauf sich die Residenten stützen können. Offiziell, das heißt gegenüber sowohl den anderen Botschaftsangehörigen als auch den Partnern im Gastland, sind die Mitarbeiter einer Residentur Diplomaten und haben als solche ihre festgelegten Aufgaben, zum Beispiel als Sekretär der Botschaft, Presse- oder Kulturattaché, zu erfüllen. Die Tätigkeit für die Residentur kommt in der Regel noch hinzu.

Die HVA konnte nun zwar auf diese neuen operativen Mög­lichkeiten zurückgreifen; zugleich verlor sie aber ihren Allein­vertretungsanspruch für die Informationsbeschaffung. Mit den Diplomaten, die offiziell aus dem Gastland berichteten, erhielt sie Konkurrenten, die diese Chance entschlossen wahrnahmen und die durch langjährige Erziehung im heimischen Apparat sehr genau wussten, worauf es ankam.

Nachdem der lange angestrebte diplomatische Durchbruch geschafft war, wollten SED und DDR-Regierung nun auch nachweisen, welch konstruktive und bedeutsame Rolle sie in den Weltangelegenheiten spielten. Dies aber kollidierte vom ersten Tage an nicht nur mit der tatsächlich begrenzten Rolle des 17-Millionen-Staates, sondern auch mit der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit seiner Politik. Denn die DDR hatte zwar aus den objektiv wirkenden Entspannungstendenzen Gewinn gezogen, sie jedoch schon damals nicht wirklich begriffen. Während sie einer­seits mit unangemessenem Selbstlob die eigene Politik und allen­falls noch die der Sowjetunion pries und die Entwicklung einzig darauf zurückführen wollte, konnte sie andererseits nicht genug vor »mangelnder Wachsamkeit« und dem »unverändert aggressi­ven Wesen des Imperialismus« warnen. Stets betonte sie Lenins These, dass die Politik der friedlichen Koexistenz Klassenkampf sei und sich mit dem Entspannungsprozess die »ideologische Auseinandersetzung verschärfe«. Vielfältige Signale der Dialog­bereitschaft wurden schon damals ungenügend wahrgenommen und so realistische Möglichkeiten verschenkt.

Die HVA berichtete über diese Tendenzen und stellte die neuen Gegebenheiten deutlich heraus. Sie nutzte die Friedenssehnsucht vieler Menschen, bis hinein in politische Kreise, natürlich auch für ihre Werbetätigkeit und war dabei durchaus erfolgreich. Dennoch wurde immer mehr spürbar, dass ihre Informationen nicht zu den möglichen Schlussfolgerungen führten, dass die politische Führung in den alten Dogmen verharrte und ihnen defensiven Kurs fort­setzte.

Besonders deutlich zeigte sich dies im KSZE-Prozeß, der im Sommer 1975 mit der Schlussakte von Helsinki seinen Höhepunkt erreichte. Während der sogenannte Korb I, der in zehn Punkten die Grundprinzipien der Staatenbeziehungen in Europa formulierte, und auch der zweite Komplex mit seinen Festlegungen zur wirt­schaftlichen Kooperation die weitgehende Zustimmung auch der sozialistischen Staaten fand, stieß der Korb III über die »Zusam­menarbeit in humanitären und anderen Bereichen« auf unverhoh­lenes Misstrauen. Hier waren Erfordernisse der menschlichen Kontakte, der Information und des kulturellen Austauschs aufge­listet, die zwar wegen des Konsensprinzips nur das Minimum des Erreichbaren darstellten, dennoch aber die geschlossenen soziali­stischen Gesellschaften mit beinahe unlösbaren Probleme kon­frontierten. So nahm es nicht Wunder, dass gerade diese Bestim­mungen die Partei- und Staatsführung der DDR zu immer neuen Winkelzügen veranlasste, um sie unterlaufen zu können. Gleiches galt für die KSZE-Folgekonferenzen in Belgrad, Madrid und Wien, wo die DDR immer offensichtlicher zu den Bremsern gehörte – zuletzt, als sich die Perestroika in der UdSSR durchzu­setzen begann, nur noch mit Rumänien als Verbündetem.

Da die DDR-Führung nicht bereit war, etwas an den inneren Verhältnissen zu ändern, geriet sie zwangsläufig in Konflikt zu den internationalen Trends. Ihre Abgrenzungspolitik ab Mitte der 70er Jahre, verbunden mit Repressionsmaßnahmen gegen Anders­denkende, wie sie zum Beispiel in der Ausbürgerung Wolf Bier­manns und anderer Künstler zum Ausdruck kamen, passte einfach nicht mehr in die sich verändernde Landschaft. Die Berichte der HVA brachten das schon damals zum Ausdruck, wenn auch nicht mit der gebotenen Deutlichkeit. Dennoch fand sich die SED-Führung darin nicht bestätigt, und sie bezog zu ihnen eine zuneh­mend kritische Position. Sie glaubte sich damit um so mehr im Recht, als auf der anderen Seite die Diplomaten fast nur Gutes über das Ansehen der DDR in aller Welt berichteten. In den meisten Analysen der Botschaften wurde nachgewiesen, wie erfolgreich die DDR-Politik sei und wie sehr sie das Denken und Handeln der politischen Kreise im Gastland beeinflusse. Die nüchterneren und oft entgegengesetzten Informationen der Auf­klärung hingegen störten das geschönte Bild; das Ansehen der Auslandsspionage der DDR sank.

Ihre Antwort war typisch opportunistisch; auch sie bemühte sich nun zunehmend, den Erwartungen des Politbüros und der DDR-Regierung gerecht zu werden. Man muss gerechterweise einschränken, dass Markus Wolf als damaliger Leiter der HVA versuchte, dieser Entwicklung entgegenzusteuern, nach wie vor auf hohe Qualität und realistische Einschätzungen Wert legte. Doch er konnte sich schon immer weniger durchsetzen, machte auch selbst Kompromisse und resignierte schließlich so, dass er sich zur Aufgabe seines Amtes entschloss. Sein Nachfolger Werner Großmann war nicht so eigenständig und vollzog schnell den Übergang auf die gewünschte Linie.

Deutlicher Ausdruck dieser Anpassung waren die schon genannten jährlichen Planorientierungen, deren einzige Funktion darin bestand, das gesamte ideologische Arsenal der SED auf die Aufklärung zu übertragen. Unter dem Einfluss der starren Sicherheitsdoktrin und eines künstlichen Feindbildes gingen jegliche Differenzierungen verloren, wurden mit immer den gleichen abgenutzten Worten längst überholte Thesen verkündet. Stets war der USA-Imperialismus der Hauptfeind, dann folgte sogleich sein Juniorpartner BRD – weitgehend unabhängig davon, welcher Präsident, Kanzler oder welche Partei gerade die Regierungsgewalt ausübte. Alle Vorgänge und Äußerungen, die in dieses ärmliche, eindimensionale Weltbild passten, wurden als Beleg herangezogen, während neue Tendenzen und Nuancie­rungen kaum Erwägung fanden. Wenn auch in der konkreten operativen Arbeit – im Interesse des Erfolgs – oft nach anderen Prämissen vorgegangen wurde, so waren diese Planorientierungen für viele doch mehr als nur ein Alibi. Mit immer neuen Verrenkun­gen und dem dazu erforderlichen Kraftaufwand wurde versucht, sowohl ihnen als auch den realen Erfordernissen Rechnung zu tragen.

Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass die westlichen Staaten natürlich auch immer wieder Anlass zu Misstrauen boten und den Wächtern der »ideologischen Reinheit« in den sozialisti­schen Ländern die Munition für ihre Attacken auf alle Weiter­denkenden lieferten. Das politische Denken Ronald Reagans vor allem in seiner ersten Amtszeit, die damit verbundene Aufrü­stungspolitik unter dem Vorwand der schon genannten Bedro­hungslegende und das Beharrungsvermögen auch der politischen Kreise des Westens auf alten Positionen, das sich besonders in der Hilflosigkeit gegenüber dem neuen Denken Gorbatschows offen­barte, charakterisierten die Widersprüchlichkeit einer Entwick­lung, die von den führenden Politikern der DDR stets rückwärts­blickend beurteilt wurde. Sie sahen die Welt so, als habe sie sich seit 1918, 1933 oder 1948 nicht verändert. Sie hingen kritiklos und völlig undialektisch leninschen Lehren an, die unter ganz anderen Bedingungen und schon damals nicht als allgemeingülti­ge Wahrheiten formuliert worden waren. Die Linie der Sowjet­union, die ihre Kritik am Stalinismus schnell relativierte und jahrzehntelang in innen- wie weltpolitischer Stagnation verharrte, galt als Glaubensbekenntnis.

Kennzeichnend für jene Jahre war das Ringen zwischen – zumeist in größeren Zusammenhängen denkenden – Politikern und den Militärs mit ihrem oft engen Horizont. Der Kalte Krieg hatte letzteren ein ausgezeichnetes Wachstums-Biotop geboten; nun war die Welt voll von Panzern, Flugzeugen und Raketen mit der entsprechenden Munition, darunter immer verheerendere atomare Massenvernichtungswaffen. Dieses materielle Potential gebar zwangsläufig die entsprechenden Kriegsplanungen mit ihren nüchternen Gewinn-Verlust-Rechnungen, die überall – ob im Pentagon oder im Kreml, auf der Hardthöhe oder in Strausberg – durchgespielt wurden. In einem Konflikt, da waren sich alle Marschälle und Generäle einig, hatte die Politik ins zweite Glied zu treten. Sie waren es auch, die angesichts der zunehmenden Entspannungstendenzen das Wort von den jederzeit möglichen »jähen Wendungen« in der Weltpolitik prägten. Es diente dazu, das Misstrauen wachzuhalten und vor allem den Militärs auch weiterhin das von ihnen Gewünschte an politischem Einfluss und materiellen Mitteln zu geben. Kühnes Vorausschauen und Sensibi­lität für Perspektiven waren da nicht gefragt, und wo die HVA doch vorsichtige Ansätze in diese Richtung erkennen ließ, wurde sie zurückgepfiffen. Sie musste im Gegenteil ihren Beitrag auch zur Absicherung der überdimensionierten militärischen Stärke des Warschauer Paktes leisten. Diese Forderung stand stets an der Spitze aller Planorientierungen – noch vor dem Kampf gegen die »ideologische Diversion«. Vor allem dem SWT-Bereich war auf­getragen, stets Muster neuester Militärtechnik zu beschaffen. Da geisterten sogar solch abenteuerliche Vorstellungen in den Köpfen herum, dass ein Leopard-Panzer mit vollständiger Ausrüstung über die Grenze gefahren werden könne oder eine »Phantom« auf einem DDR-Flugplatz landet. Der riesige Kraftaufwand bei der Beschaffung solcher Muster oder zumindest ihrer Bauunter­lagen erwies sich dann oft als vertan, weil die Erwartungen größer gewesen waren als das Ergebnis; er förderte nur den Rüstungs­wettlauf mit all seinen Gefahren. Die Informationen der HVA über das militärische Potential des Westens, das wahrlich gewaltig war und ständig ausgebaut wurde, bewirkte immer neue Forderungen der Stäbe in den Staaten des Warschauer Paktes, wobei diese zum einen die oft höhere Qualität der westlichen Waffen durch Quantität wett­machen wollten und zum anderen generell von dem Prinzip ausgingen, dass Sicherheit eine Frage mehrfacher Überlegenheit sei.

Als Konsequenz einer solchen Politik wurden die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen sträflich unterbewertet. Der Sektor Wissenschaft und Technik wusste zwar ganz genau, was an technischen Neuerungen, zum Beispiel im Konsumgüterbereich, auf den Markt kam, und die Aufklärer sahen zugleich, dass in der Bevölke­rung dafür Bedarf bestand (den sie übrigens mit ihren Möglichkei­ten für sich selbst gern befriedigten!), aber sie hatten sich so in die offizielle Wirtschaftspolitik einbinden lassen, dass Beschaffungs­aufträge in diese Richtung gar nicht erst ins Kalkül gezogen wurden.

Für den Staatssicherheitsminister und auch die Führung der HVA hatten solche Aufgabenstellungen höchste Priorität, die ihnen von oben vorgegeben wurden und denen sie keinerlei eigene Überlegungen entgegensetzten. Für Mielke waren erst das Wort Ulbrichts, dann Honeckers sowie der sowjetischen Führer von Stalin bis Tschernenko Gesetz. Nie wich er in der Grundeinschät­zung davon ab, und das erwartete er auch von seinen Untergebe­nen, den ihm intellektuell weit überlegenen Markus Wolf einge­schlossen. Mielke hatte in seinen stundenlangen Reden auch stets konkrete Beispiele aus internen Informationen parat, mit denen er seine dogmatischen Urteile glaubte belegen zu können. Dies waren dann die Weisheiten, die bei den zahllosen Auswertungen bis zum Erbrechen wiederholt wurden. Wie sehr sie von der Realität abwichen, zeigte sich besonders bei der Behandlung solcher »Großereignisse« in der DDR wie von Parteitagen der SED. Zu ihrer Vorbereitung wurden Monate zuvor detaillierte Maßnahmepläne erarbeitet, die für die Aufklärung oft den Auftrag erhielten, sowohl das internationale Echo akribisch festzuhalten als auch mögliche Störungen gegen das »heilige Konzil« – und das waren schon kritische Zeitungsartikel im Westen – nicht nur zu vermelden, sondern nach Möglichkeit zu verhindern. Konnte die HVA damit nicht dienen, einfach deswegen, weil das ver­meintliche Großereignis im Gang der Weltgeschichte nur eine Fußnote war, dann fand das wenig Glauben und machte die Aufklärung verdächtig. Mielke scheute sich auch nicht, angebliche »ideologische Diversanten« in den eigenen Reihen öffentlich anzuklagen, sie vor einem vielhundertköpfigen Auditorium strammstehen zu lassen und zu »revolutionärer Wachsamkeit« zu ermahnen. Dieses Regime aus Gehirnwäsche und Einschüchterung trug nicht unwesentlich zur Unterwerfung der HVA unter die Schmalspurpolitik und die Sicherheitsdoktrin der SED bei.

Die weitgehende Wirkungslosigkeit der HVA, die jedoch auch anderen Geheimdiensten nicht fremd ist, wurde durch das immer widerstandslosere Anpassungsverhalten der 80er Jahre noch ver­stärkt. Es hatte zugleich deutliche Auswirkungen auf die methodi­sche Stringenz der nachrichtendienstlichen Arbeit. Stand bis dahin die illegale Informationsbeschaffung eindeutig im Vordergrund, so kam nun die legale Arbeit hinzu, die sich vor allem der Abschöp­fung bediente. Darunter ist zu verstehen, dass in Gesprächen mit Politikern, Militärs, Wirtschaftsleuten des Gastlandes Meinungen und Auffassungen erkundet und diese dann entweder unmittelbar oder zu Analysen verarbeitet der Zentrale übermittelt werden. Der Gesprächspartner weiß in der Regel, dass er den offiziellen Vertre­ter eines anderen Landes vor sich hat und aufpassen muss, was er sagt, um nicht schutzwürdige Informationen abfließen zu lassen. Insofern unterscheidet sich diese Form der Informationsbeschaf­fung kaum von der eines tatsächlichen Diplomaten oder auch eines Journalisten; die Täuschung des Partners hält sich in Grenzen, ebenso aber auch die Substanz der von ihm zu erlangenden Neuigkeiten. Oft sind sich die Angesprochenen über den nachrichtendienstlichen Hintergrund des Gesprächs im klaren und daher doppelt wachsam; mitunter aber nutzten sie gerade ihn, um auf diese unkonventionelle Weise Botschaften loszuwerden, die sie ganz offiziell noch nicht formulieren wollen. Bei der DDR wie wohl auch den anderen sozialistischen Ländern kam noch hinzu, dass die Vertreter des Gastlandes glaubten, auf dem Weg über den Nachrichtendienst bei den politischen Führungen eher Gehör zu finden, als wenn sie sich der schwerfälligen diplomatischen Bahnen bedienten – was allerdings meist ein Trugschluss war.

Die HVA nutzte bald diese neue Möglichkeit mit aller Extensi­tät – ungeachtet dessen, dass so beschaffte Informationen in der Regel nur über einen begrenzten Neuigkeitswert verfügten. Sie baute die Abteilung III, die für die Arbeit der legalen Residenturen zuständig war, erheblich aus und strebte ein im Grunde weltweites Engagement an, das sich nicht an den wirtschaftlichen Möglich­keiten und dem tatsächlichen politischen Rang der DDR maß, sondern an subjektivistischen Vorstellungen über den eigenen Einfluss auf die Weltpolitik. Zwar gab es in einigen Ländern durchaus potente Quellen, die aufschlussreiche Informationen lie­ferten, aber die Überzahl des auf diesem Wege nicht selten in großer Menge eingehenden Materials war von geringem Belang. Die Auswerter hatten oft den Eindruck, dass einige der Sendungen, vor allem aus entfernteren Ländern Asiens und Südamerikas, nicht mehr enthielten als eine mehr oder weniger geschickte Zusam­menstellung von Pressemeldungen, was von Berlin aus kaum überprüfbar war. Entsprechend waren dann auch die Ausgangs­materialien; sie hätten von einem Länderexperten mit gutem Hintergrundwissen auch ohne geheimdienstliches Beiwerk erar­beitet werden können.

Aber auch aus der Bundesrepublik kamen nun immer mehr solcher Informationen. Die Residentur in der Bonner Ständigen Vertretung der DDR machte die Abschöpfarbeit zu einer ihrer Hauptsäulen; sie wurde unterstützt durch die Reisekader des Instituts für Politik und Wirtschaft (IPW) in Berlin, das zwar dem ZK der SED und seinem außenpolitischen Sekretär Hermann Axen unterstand, zugleich aber eng mit der HVA kooperierte. In letzterer war extra die Abteilung XVI für die Betreuung solcher offiziöser Kontakte von DDR-Institutionen geschaffen worden; das IPW nahm dabei den ersten Rang ein. Die so beschafften Informationen hatten jedoch mit wirklicher Spionage nur wenig zu tun. Sie ähnelten eher den Recherchen eines Politikwissen­schaftlers oder Buchautors und enthielten kaum Geheimnisse — es sei denn solche, die die andere Seite ganz gezielt ohnehin publik machen wollte, ohne gleich eine Pressekonferenz abzuhalten. Die Wissenschaftler des IPW hatten ihre Gesprächspartner im Bonner Konrad-Adenauer-Haus wie in der »Baracke« der SPD. Sie spra­chen aber auch bei Kollegen jener Institute vor, die in der Bundesrepublik ähnliche Aufgaben wie sie selbst wahrnahmen. Jeder Politologe zum Beispiel des Bundesinstituts für internationale und ostwissenschaftliche Studien oder der Stiftung Ebenhausen, zweier führender Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik, brachte und bringt von Reisen in Länder seines Forschungsinter­esses ganz ähnliche Berichte mit und verarbeitet sie dann in seinen Expertisen. Durch die HVA wurden sie aber zu Spionagedossiers gemacht. Darunter litt zwangsläufig der nachrichtendienstliche Charakter der HVA-Informationen; ihre Qualität überstieg kaum die der Beiträge einer gut redigierten politischen Wochen- und Monatsschrift.

Ganz ähnliches ist für die Abschöpfung von Politikern durch Journalisten zu sagen. Der Ende 1991 bekanntgewordene Fall des SPD-Bundestagsabgeordneten Karsten Voigt, dessen Kontakte mit einer DDR-Journalistin unter den Augen der HVA abliefen, zeigte, wie wenig über einen solchen Kanal tatsächlich zu erfahren war. Zum einen hatte Voigt als Oppositionspolitiker ohnehin wenig Einblick in die nachrichtendienstlich interessanten Regierungsent­scheidungen. Zum anderen war er sich stets der Risiken einer solchen offenen Verbindung zur DDR bewusst. Er habe in seiner Position immer damit rechnen müssen, dass versucht werde, »irgendwelche Informationen abzuschöpfen« und sich daher stets so verhalten, dass »keine Informationen abfließen konnten«. Selbst ‚das Bundeskriminalamt habe ihm in dieser Sache völlig korrektes Verhalten bescheinigt.

Parallel zur weltweiten und immer mehr auf oberflächliche Quantität als tiefgehende Qualität orientierenden Informations­beschaffung verstärkte die DDR auch ihre Einflussnahme auf ausgewählte Staaten der dritten Welt durch den Aufbau nationaler Geheimdienste. Die HVA leistete dazu einen beträchtlichen Bei­trag. Bei der Auswahl der in Frage kommenden Länder setzten sich jedoch stets ideologische Erwägungen durch, das heißt, es handelte sich um Staaten mit sogenannter sozialistischer Orientie­rung, denen nun die Erfahrungen der Sowjetunion bzw. der kaum modifizierte Abklatsch der DDR aufgezwungen wurde. Aus heutiger Sicht ist offensichtlich, dass alle diese Bemühungen scheiterten, nicht zuletzt wegen des subjektivistischen Herangehens. Weder für das Vorzugsland der 60er Jahre, Ägypten, noch für die späte­ren Favoriten Tansania mit Sansibar, Ghana, Sudan, Südjemen, Angola und Mosambik taugten die aufgepfropften tschekisti-schen Strukturen, zumal beim konkreten Vorgehen nicht selten der Eindruck entstand, als würde die ostafrikanische Metropole Daressalam mit dem südthüringischen Kreisstädtchen Ilmenau gleich­gesetzt.

Die tatsächlichen Kräftekonstellationen in diesen Ländern wurden allzu oft unterschätzt, so 1966 in Ghana, als der HVA-Resident Jürgen Rogalla, später bis 1989 Leiter der Nordamerika bearbeitenden Abteilung XI, den Militärputsch gegen Präsident Nkrumah nicht voraussah und von den neuen Machthabern verhaftet wurde. Zwei Jahrzehnte später erlebte die HVA in Südjemen eine ähnliche Schlappe. Dort schlachteten sich zwei rivalisierende Führungsgruppen gegenseitig ab; eine von ihnen hatte sogar die Öltanks sprengen lassen, so dass die Innenstadt von Aden dezime­terhoch mit Rohöl überflutet wurde, in dem die Tausenden Leichen des Massakers lagen. Nichts davon hatte die Residentur der HVA vorausgesagt. Dies wiederholte sich bei den Stammes- und Ban­denkämpfen in Angola und Mosambik.

Die Aufklärung der DDR, die vieles hätte besser wissen müssen, beugte sich auch bei ihren Einsätzen in der dritten Welt den ideologischen Vorgaben. Sie tat bei Aktivitäten mit, die sich letztlich nicht nur als sinnlos erwiesen, sondern auch kein Ruh­mesblatt ihrer Geschichte waren. So muss sie sich heute bohrende Fragen nach manchem Engagement gefallen lassen, zum Beispiel hinsichtlich der PLO. Als gewissermaßen staatlich anerkannte Befreiungsbewegung erhielt diese auch seitens des MfS alle Unterstützung, einschließlich eines militärischen Trainings. »Wir haben einiges zu dieser Ausbildung beigesteuert«, bestätigte Wolf, »aber zu keiner Zeit hat unsere Abteilung sich an Terroraktivitäten beteiligt.«

Die »Partei- und Staatsführung« der DDR verlangte stets ein Bild der Welt, das ihren Erwartungen entsprach – gleich, ob es sich bei den Entwerfern um Politiker, Journalisten, Künstler oder Spione handelte. Auch die Hauptverwaltung Aufklärung hat sich diesem Wunsch in vielen Fällen unterworfen und mit großem Aufwand Informationen produziert, die allzu oft eine verbogene Realität darstellten.

Aber die Einbußen an methodischem Niveau beschränkten sich nicht auf diese Seite der Aufklärungsarbeit. Ganz generell nahm die Motivation zu immer höheren Leistungen ab, da viele Aufklärer sahen, dass es auch mit weniger Aufwand und sogar Routine geht. Der hohe Rang, der Abschöpfinformationen zugewiesen wurde, vor allem aber die ständige Forderung nach quantitativem Zuwachs, ohne auf analogem Qualitätsgewinn zu bestehen, begünstigten Mittelmaß und beschädigten auf lange Sicht den einst guten Ruf der HVA.