Vietnam in Wort und Video – ein Reisebericht

I: Ho-Chi-Minh-Stadt – die heimliche Hauptstadt

(pri) Aus Deutschland via Bangkok vormittags gegen 10.30 Uhr in Ho-Chi-Minh-Stadt angekommen, verließen wir erstmals die bis dahin in Flugzeug wie Airport zuverlässig gekühlten Räume und traten ins tropische Klima, das zu dieser Stunde noch erträglich war. Der Himmel war bedeckt, über der Stadt hing eine gemäßigte Dunstglocke – eigentlich erstaunlich angesichts der Vielzahl von Mopeds, die laut knatternd und hupend die Straßen bevölkerten. Wir fuhren nach dem zwölfstündigen Flug zunächst zur Stärkung in ein Restaurant, wo wir die Hauptbestandteile der vietnamesischen Küche kennenlernten: Fisch und Meeresfrüchte aller Art, Schweine- und Rindfleisch, allerlei interessantes Gemüse, meist nur leicht angedünstet, ebenso viel und ebenso interessantes Obst, dazu die scharfe und nicht gerade lieblich riechende Fischsauce und zahlreiche Gewürze, unter denen der Knoblauch besonders herausragt.

Da unsere Dschunke, mit der wir die nächsten zwei Wochen den Mekong bereisen wollten, wohl noch hergerichtet wurde, ging es trotz Nachtflug und nun schon Temperaturen über 30 Grad anschließend auf eine erste Stadtrundfahrt, die natürlich zuerst über die Dong Khoi, die Flanierstraße des alten Saigon mit ihren Luxusgeschäften und zahlreichen Hotels führte. Sie endet an einem kleinen Platz, der von der Kathedrale Notre Dame begrenzt wird, einem Überbleibsel aus der französischen Kolonialzeit. Gleich daneben die einst von Gustave Eiffel gebaute und jetzt wieder sehr schön restaurierte Hauptpost, die sogar Hochzeitspaaren als Hintergrund für Fotos dient, wobei es da nicht nur um eine Erinnerung fürs Album geht, sondern auch um eine dringende Bitte des die Feier ausrichtenden Restaurants, das damit bei mehreren gleichzeitig stattfindenden Hochzeiten die große Zahl der Gäste besser zuordnen kann. Denn geheiratet wird in Vietnam häufig, liegt doch das Durchschnittsalter nur bei 25,9 Jahren.

 

Anschließend besuchen wir das Historische Museum, das Ausstellungsstücke aus Vietnams Geschichte zeigt, darunter einige alte große Bronzetrommeln, jedoch insgesamt nicht in allzu großer Vielfalt. So erweist sich hier als interessantester Programmpunkt die Aufführung eines Wasserpuppentheaters. Dabei stehen die Puppenspieler hinter einem undurchsichtigen Vorhang im Wasser und führen bunt bemalte Puppen (Menschentypen, Drachen, Vögel usw.) an langen Stangen unter dem Vorhang hindurch, so dass sie auf der Vorderseite der Wasserfläche auftauchen. Über die Stangen und allerlei Mechanismen werden die Puppen bewegt und vollführen durchaus überraschende Sprünge und andere Bewegungen im und aus dem Wasser heraus.

Mit dem Kunstmuseum stand eine weitere Ausstellung auf unserem Programm. Hier findet man, auch im Hof, allerlei Buddha-Figuren sowie in einem Geschoss Kunst der sozialistischen Phase, die sich vorwiegend mit den Befreiungskriegen befasst – zumeist ziemlich plakativ, aber zum Teil auch originell und auch nachdenklich stimmend.

Tags drauf setzen wir die Stadtrundfahrt fort – im Chinesenviertel Cholon, wo wir als erstes den Thien-Hau-Tempel besuchen. Dort kann man beobachten, wie vor allem junge Frauen Räucherstäbchen entzünden, um von der dortigen Göttin der Fruchtbarkeit erhört zu werden. Ein großes Gemälde mit einem Boot weist daraufhin, dass Chinesen vor allem als Boat-People, also über das Meer, nach Vietnam kamen.

Anschließend werfen wir einen Blick in die Markthalle Binh Tay, wo in bedrängender Enge wohl alles zu finden ist, was man sich denken kann. Dazwischen die Händler bei der Abrechnung, für die inzwischen elektronische Rechner und Laptops benutzt werden, oder beim Verspeisen der unvermeidlichen Nudelsuppe.

Ho-Chi-Minh-Stadt ist ein Ort der Kontraste und der Vielfältigkeit. Von Kriegszerstörungen ist kaum noch etwas zu sehen. Die aus der damaligen Zeit stammende Bausubstanz ist wieder einigermaßen zum Wohnen hergerichtet und zeigt die Spuren jahrzehntelanger Nutzung, ohne dass viel für den Erhalt aufgewendet wurde. Daher macht die Stadt mit ihren inzwischen über sieben Millionen Einwohnern nirgends den Eindruck einer neu aufgebauten Metropole. Viel wurde improvisiert, dort ein Bau begonnen, abgebrochen, wieder – mit anderen Vorstellungen – in Angriff genommen und dann doch nicht zu Ende geführt. Die Straßenzüge machen einen chaotischen Eindruck, der durch die Dutzenden Kabel, die über den Straßen in dicken, sich an jeder Ecke verzweigenden und vervielfachenden Strängen entlanglaufen, noch verstärkt wird. Dazu Reklame verschiedenster Art. In den Erdgeschossen Läden und Werkstätten, darüber die Wohnungen der Inhaber, auf den Dächern Wasserbehälter, die von der feuchtwarmen Luft, seltener von der fast immer verhangenen Sonne aufgeheizt werden.

Natürlich gibt es auch Neues. Konzerngebäude, Hotels und einige öffentliche Bauten sind in den letzten Jahren entstanden und entstehen immer noch. Ganze Straßenzüge sind aufgerissen, weil endlich eine Kanalisation installiert wird. All das zeugt vom schnellen, stürmischen Aufschwung, den Vietnam in den letzten Jahren nahm und den zwar noch immer die nach wie vor kommunistische Regierung des Landes unter Kontrolle hält, aber am sehr langen Zügel. Der traditionelle Hang zum Handeln wird kaum beschränkt; überall gibt es Initiativen zum Geldverdienen, wobei den Vietnamesen ihr enormer Fleiß und ihre freundliche Dienstbarkeit entgegenkommen. Man kann in Vietnam alles kaufen oder besorgen. Zwar sind die Geschäfte oft puppenstubenklein, doch dafür breiten sie sich meist bis weit aufs Trottoir aus.

 

Solcher Kleinhandel, solches Kleingewerbe zeugen jedoch auch von verbreiteter Armut. Für viele ist es existenziell, dass sie sich auf diese Weise etwas verdienen, und nicht jeder ist dabei erfolgreich. So breitet sich an einigen Stellen,oft dicht an den neuen Prestigebauten, zum Beispiel in den an den Hafen grenzenden Vierteln, etwas aus, das man wohl als Slums bezeichnen kann. Auch hier pulsiert das Leben wie überall in der Stadt, aber ohne Glanz und Glamour. Überall einfache Läden und Kneipen, viel Schmutz auf der Straße; einmal schoss sogar eine Ratte aus einem Riesenloch am Straßenrand und zerrte an einem achtlos herumliegenden Müllsack.

Die alte vietnamesische Architektur wird dabei so weit wie möglich geachtet und erhalten. Das gilt in erster Linie für die buddhistischen Tempel und Pagoden, die von den Spenden der erstaunlich religiösen Bevölkerung leben, aber zunehmend auch für erhaltenswerte Stücke der alten Kolonialarchitektur. Man ist bemüht, die alten Traditionen zu bewahren; inwieweit das jedoch gegen den Ansturm der neuen Moderne gelingt, bleibt abzuwarten. Denn inzwischen hat die bevölkerungsmäßig dominierende Jugend das Land übernommen. In Ho-Chi-Minh-Stadt beherrscht sie sowohl die Straßen als auch die Geschäfte. Sie orientiert sich sehr stark am westlichen Lebensstil und da ganz besonders am amerikanischen – was angesichts der Geschichte auf den ersten Blick erstaunlich erscheint, vielleicht aber gerade durch die Kriegserfahrung bedingt ist. Da hatte man die Amerikaner geschlagen und aus dem Land vertrieben; jetzt will man mit ihnen wenigstens in einer Liga spielen, sieht sich auf dem Sprung in den Kreis jener Nationen, die das Schicksal der Welt mitbestimmen. Wer dahin kommen will, orientiert sich noch immer – und nicht nur in Vietnam – am amerikanischen Vorbild. Hier entsteht daraus eine Mischung aus Faszination und Bestreben, den Sieg im Kriege wenigstens zu einer Art Ebenbürtigkeit werden zu lassen, eine ganz spezielle Hassliebe, bei der die Sehnsucht eher zur Liebe hin geht, die man jedoch bedingungslos nicht geben will.

Der Aufschwung und die Widersprüchlichkeit Vietnams zeigen sich besonders eindrucksvoll im Straßenverkehr. Wo früher das Fahrrad dominierte, wird es heute zunehmend an den Rand gedrängt – durch das Moped bzw. Motorrad in seinen verschiedensten Formen (und Preisen zwischen 300 und 8000 US-Dollar). In Ho-Chi-Minh-Stadt bevölkern Mopeds heute fast ausschließlich die Straßen. In fahrbahnbreiten Kavalkaden brausen sie heran und beachten dabei kaum eine Verkehrsregel. Überholt wir rechts wie links. Man erkennt Hindernisse zumeist rechtzeitig und weicht ihnen geschickt aus. Das gilt auch für Fußgänger, die sehr aufmerksam sein und zugleich sehr bestimmt auftreten müssen, wollen sie die Straße überqueren. Ampeln gibt es nur wenige, doch wo sie sich – an großen Kreuzungen oder Hauptstraßen – befinden, sammeln sich Rudel von Mopeds wie an einer Startlinie der Formel I und rasen bei Grün, das in Countdown-ähnlicher Sekundenzählung angekündigt wird, sofort blitzschnell los, dabei erbittert um die beste Position kämpfend. Zwanzig Sekunden verbleiben, dann hat die Gegenseite Grün, und es empfiehlt sich, aus dem Weg zu sein. Wer schläft, ist sofort im Hintertreffen, wird zum Hindernis, das alle anderen sofort lärmend und waghalsig umfahren.

Auch die Autos haben zur Zeit noch keine Chance gegen die Mopeds. Sie nehmen zwar zu an Zahl, und es gibt darunter auch schon teure Schlitten berühmter Marken, aber noch sind sie weit in der Minderheit; unter 1000 Vietnamesen verfügen keine neun über ein Automobil. So müssen die sich mit den wild gewordenen Mopeds arrangieren, wobei erstaunt, wie gut das klappt, wie wenig der frische Lack der Nobelkarossen unter dem stürmischen Moped-Fahrstil leidet. Beide Seiten nehmen denn doch so viel Rücksicht, dass es nicht allzu oft kracht. Die Haupt-Leidtragenden dieser Entwicklung sind die Fahrrad-Rikschas, die mit ihrer Gemütlichkeit und Unbeholfenheit zum Verkehrshindernis werden und daher schon aus weiten Teilen Saigons verbannt wurden. Nur noch auf wenigen Straßen sind sie zugelassen, wodurch die ohnehin seit Jahrzehnten amerikanisch geprägte Stadt noch mehr von ihrem einstigen Flair verliert. Gäbe es nicht die Touristen, wären sie wohl aus dem Stadtbild bereits verschwunden.

Von Ho-Chi-Minh-Stadt aus machen wir einen Abstecher in Vietnams jüngere Vergangenheit, indem wir den nahen ländlichen Bezirk Cu Chi besuchen und dabei einen ersten Eindruck von der vietnamesischen Provinz bekommen. Eigentliches Ziel sind jedoch bei Ben Dinh die legendären unterirdischen Tunnel der vietnamesischen Befreiungskämpfer. Es geht auch gleich in eine Kelleretage mit Vorführraum, wo in einem weitgehend unscharfen Schwarz-Weiß-Film über den Vietnamkrieg auch die Tunnel in kurzen Sequenzen gezeigt werden. Angesichts der perfekten Multimedia-Shows, die man heute von fast jedem, selbst weit zurückfliegendem Ereignis sehen kann, etwas enttäuschend. Gewiss hatte man damals Wichtigeres zu tun als Filmaufnahmen zu machen, die zudem noch dem Feind in die Hände fallen konnten; das erklärt das spärliche Material. Und auf amerikanische Streifen, sofern es sie als Dokumentarfilm gibt, will man wohl schon deshalb nicht zurückgreifen, weil sie entgegen der historischen Wahrheit doch die GIs als Helden und den »Vietcong« in negativer Weise darstellen. So bleibt ein wichtiges Kapitel des vietnamesischen Befreiungskampfes filmisch im wahrsten Sinne des Wortes unterbelichtet.

 

Der anschließende Rundgang über die Anlage liefert einen stärkeren Eindruck. Sein Höhepunkt ist der Abstieg in die Tiefe und die Fortbewegung etwa 30 Meter lang unter dem Erdboden, was nur in hockender, kriechender, auf jeden Fall sehr schmerzhafter und beklemmender Haltung möglich ist. Für die in der Regel beleibteren Touristen wurden die Tunnel extra erweitert, um ihnen dieses Erlebnis zu verschaffen; die vietnamesischen Begleiter demonstrieren an originalen Einstiegen, die sie durch das Abheben handtuchschmaler Rasenstücke freilegen, dass man auf kleinstem Raum blitzschnell vom Erdboden verschwinden konnte. Ermöglicht wurde diese teilweise mehrstöckige Tunnelsystem, das auch Waffenkammern, Schneider- und Schusterwerkstätten, Lazarette und sogar Schulräume barg, durch den festen Lehmboden, den die Amerikaner durch ihre Angriffe mit schwerem Gerät noch zusätzlich verdichteten.

Tags als scheinbar friedliche Bauern auf dem Feld arbeitend, verschwanden die Kämpfer nachts unter dem Boden, entgingen so den Nachstellungen durch die GIs und organisierten den Kampf gegen sie. Das Tunnelsystem war insgesamt 200 Kilometer lang; nur ein kleiner Teil ist heute noch erhalten. Am Ende nahmen 90 Prozent der Bewohner des Bezirks Cu Chi am Befreiungskampf teil; das Tunnelsystem war für sie Zuflucht und Schutz, allerdings unter äußerst beengten Verhältnissen und immer in der Gefahr des Entdecktwerdens. So wurde Rauch von Feuerstätten unter der Erde über ein verzweigtes System weit weg zu Austrittsstellen gelenkt, in deren Nähe sich keine Befreiungskämpfer befanden, die dadurch verraten werden konnten. Allerdings stellten sich auch die Amerikaner darauf ein, schickten Schäferhunde in entdeckte Tunnel oder erkundeten die versteckten Einstiege dadurch, dass sie die Grasflächen immer wieder abbrannten, um auf der Asche Spuren zu erkennen.

Der etwas improvisierte Rundweg zeigt nicht nur Einstiege (und Scheineinstiege) in die Tunnel, sondern auch primitive, aber gerade dadurch wirksame und noch jetzt Schauder auslösende Menschenfallen. So waagerechte Drehtüren, die sich beim Betreten öffneten und meterlange Stahlspitzen frei gaben, die den nach unten Stürzenden regelrecht aufspießten. Oder eiserne Fußfallen, aus denen man sich nur befreien konnte, indem man den Fuß völlig abriss. Auch Morgensternen ähnliche schwere Stahlkugeln, die an den Bäumen hingen und über unsichtbare Drähte zum Absturz gebracht wurden. Die Vietnamesen waren bei der Erfindung und beim Bau solcher Totschlagsinstrumente erfinderisch und griffen wohl nicht selten auf die Erfahrungen ihrer Vorfahren beim Tierfang zurück.

Auch dringend benötigte Gebrauchsgegenstände wurden natürlich gefertigt, zum Beispiel lautlose Sandalen aus alten Autoreifen, Uniformstücke und Ersatzteile für Waffen. Man kann diese Werkstätten in großen Erdlöchern heute wieder arbeiten sehen, dazu einen alten amerikanischen Panzer, Bombenhülsen usw. Aber auch hier entsteht insgesamt der Eindruck, man wolle bewusst keine pompöse Show veranstalten, sondern die damaligen Kämpfe mit den gleichen einfachen Mitteln zeigen, mit denen man damals den Sieg errang. Daraus wird am Ende doch ein eindrucksvolles Bild davon, wie sich ein stolzes Volk gegen seine Besatzer wehrt und dabei sowohl moralisch als auch tatsächlich Sieger bleibt. Mit Schimpf und Schande mussten die USA nach diesem Krieg aus Vietnam fliehen; das Trauma widerlegter Unbesiegbarkeit ist bis heute nicht überwunden. Das hinderte die gedemütigte Weltmacht allerdings nicht daran, keine 30 Jahre später das gleiche Abenteuer, diesmal in Afghanistan und Irak, erneut zu unternehmen – absehbar mit dem gleichen Ergebnis, einem notwendigen Ergebnis übrigens, damit solcherlei Verbrechen nicht zur Norm werden können.

3 Replies to “Vietnam in Wort und Video – ein Reisebericht”

  1. Wenn ich nach den harten Nachrichten („We got him!“) des Tages mal lachen und mich über Stilblüten freuen will, schaue ich gern auf der Seite von Sem.Sek. a,D. und seinem Reisekorrespondenten vorbei. Diesmal hat mich das Schulaufsätzchen aus Vietnam erheitert und besonders die Berichterstattung über „lautlose Sandalen aus alten Autoreifen“. Das muss man erstmal formulieren können! Danke!

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