Russland auf dem Weg in die Verwestlichung

(pri) Damit hatten die professionellen Russland-Verteufler nicht gerechnet. Plötzlich finden im östlichen Riesenreich gewaltige Demonstrationen statt, nicht mehr behindert von der Polizei als hierzulande. Die Demonstranten artikulieren sich in Wort, Bild und Ruf scharf gegen Russlands starken Mann und Spitzenkandidaten der morgigen Präsidentschaftswahl, Wladimir Putin – und die Staatsmacht lässt es geschehen. Keine Verbote der Aufmärsche, keine Prügelattacken, keine Verhaftungen. Stattdessen auch Kritik, wenngleich viel seltener, in den Medien. Und allenthalben Aktivitäten zur Wahlbeobachtung, die der Kreml ausdrücklich unterstützt – bis hin zur Ausstattung der Wahllokale mit Beobachtungskameras.

 

Widerwillig mussten die Kreml-Astrologen ihre Berichte umschreiben. Säuerlich stellen sie den Wandel als großen Bluff, als Inszenierung dar, wissen vor Öffnung der Wahllokale, dass es natürlich wieder nur Betrug geben werde und sonst nichts – und müssen doch konstatieren, dass die Meinungsforscher einhellig schon jetzt einen mehr oder minder klaren Sieg Putins voraussagen, auch jene, bei denen sie selbst ihre Hand im Spiel haben und die daher als »unabhängig« gelten. Sie sind sauer, weil ihnen mehr und mehr ihr geliebtes Feinbild Russland genommen wird, das bislang noch immer zur Begründung einer anachronistischen Weltsicht diente, in dem der Feind irgendwo im Osten steht und mit dem – unabhängig von seiner ideologischen Ausrichtung – wunderbar die Bedrohung des Westens an die Wand gemalt werden kann.

 

Tatsächlich jedoch ist Russland schon lange auf dem Weg der Verwestlichung, der Übernahme jener Strukturen und Praktiken, die als »bürgerliche Demokratie« firmieren und in denen das Bürgerliche a priori als Kapitalismus verstanden wird. Wahlen sind dabei nichts anderes als der in der Regel noch demokratische Wettbewerb darum, wer dieses System am effizientesten auszustatten und am effektivsten einzusetzen versteht; keiner der antretenden Akteure stellt es in Frage, wobei letztlich unerheblich ist, ob er es – wie die meisten – nicht will oder mangels konzeptioneller Alternative nicht kann.

 

Auf diesem Weg ist Russland unter Putin deutlich vorangekommen, wobei seine gefährlichsten Gegner die alten Apparatschiks aus Sowjetzeiten sind, die sich an die neuen Freiheiten nur schwer gewöhnen können und gern die alten Sitten praktizieren, weil sie noch immer glauben, dass ihnen wie der etablierten Macht dies am meisten nütze. Sie verstehen nicht, dass ihre Methoden unter sich emanzipierenden und die neuen Freiheiten nutzenden Bürgern auf Ablehnung stoßen, wie es Putin nach den letzten Wahlfälschungen offensichtlich verstand. Mehr noch, er und seine Berater dürften erkannt haben, dass Emanzipation und Freiheit auch neue Kräfte freisetzen, Ideen und Innovationen, die das Land dringend braucht. Es wird darauf ankommen, inwieweit sich solche Erkenntnisse in konkretes Handeln, in Veränderungen umsetzen. Putin ist zwar schon einmal der Umschwung vom Chaos in eine gelenkte Ordnung gelungen, doch diese Aufgabe dürfte ungleich schwerer werden, wird doch durch den Einfluss der vielfältigsten und aus unterschiedlichen Interessen gespeisten Ideen die gelenkte Ordnung in eine pluralistische übergehen, bei der die Grenze zum Chaos durchaus fließend sein kann.

 

Putins westlichen Kritikern dürfte solcher Wandel eigentlich nicht missfallen. Er tut es dennoch – zum einen wegen des schon genannten traditionellen Feindbildes, zum anderen, weil damit inzwischen ein weiterer Konkurrent im Kampf um die weltweiten Ressourcen erwachsen ist, der in der Perspektive durchaus gefährlich zu werden droht. Und dies vor allem deshalb, weil der russische Ministerpräsident und Präsident in spe etwas verhindert hat, unter dem die westlichen Staaten derzeit schwer zu tragen haben – die Unterordnung der Politik unter die Wirtschaft. Während USA und Europäische Union keine politische Entscheidung mehr treffen können, ohne sich erst bei den »Märkten« ihrer unberechenbaren Zustimmung zu versichern, gelang es Putin, die Oligarchen seines Reiches ungeachtet ihrer Macht weitgehend zu bändigen, nachdem sein Vorgänger Jelzin sie von der Leine gelassen hatte. Die Stilisierung eines der ambitioniertesten von ihnen, Michail Chodorkowski, zum verfolgten Widerstandskämpfer, verrät überdeutlich, wie sehr die Beschränkung der Wirtschaftsmacht durch den Kreml die Kreise des Kapitals stört. Die Wirtschafts- und Finanzbosse des Westens hatten gehofft, dass die Kritik an Putin diesen zu Fall bringen werde und ihnen so der bislang weitgehend versperrte Zugang zu den Schätzen Russlands endlich ermöglicht werde.

 

Auch im Inneren hat Putin die Macht der Oligarchen eingeschränkt. Wo sie allzu unverfroren und brutal gegen ihre Belegschaften vorgingen, Massenentlassungen verfügten, Löhne kürzten, den Arbeitsschutz einschränkten, griff er auch schon mal persönlich ein und stellte so die Autorität des Staates gegenüber den Unternehmen wieder her – ein Vorgehen, das in den westlichen Ländern schon lange nicht mehr möglich ist. Im Gegenteil, hier unterwerfen sich Parlamente und Regierungen immer öfter der Wirtschaft und ihren Wünschen.

 

Schließlich ist es Putin trotz ökonomischer Probleme und der Veraltung der militärischen Kapazitäten Russlands bislang weitgehend gelungen, sich außenpolitisch wieder als Gegenpol zur westlichen Allianz zu profilieren. Das war auch deshalb möglich, weil die westliche Wirtschafts- und Finanzkrise die USA und die EU in ihren Handlungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt und weil diese Staaten es zugleich versäumt haben, auf dieses materielle Defizit mit einer neuen politischen Konzeption zu reagieren. Besonders deutlich wird dies gerade am Beispiel Syriens, wo sich der Westen – wie bisher – mit den reaktionärsten arabischen Regimes verbündete und in einer Sackgasse gelandet ist, während Russlands und Chinas Position, nach einer Verhandlungslösung zu suchen, allmählich an Boden gewinnt.

 

Fast ist es paradox, aber gerade der allmähliche Wandel in Russland hin zu einem völlig normalen kapitalistischen Land mit den zugehörigen demokratischen Strukturen wird von den westlichen Staaten als Gefahr wahrgenommen. Sollte Putin aus den Präsidentschaftswahlen gestärkt hervorgehen, werden sie versuchen, den Druck auf Russland zu erhöhen, sich ihrer Wirtschaftsordnung, die in immer undemokratischere Bahnen führt, zu unterwerfen. Denn sie können nicht zulassen, dass angesichts massiven Demokratieabbaus im eigenen Lager (wie gerade am Beispiel Griechenlands praktiziert) auf der anderen Seite mit Russland und auch China Mächte entstehen, denen es möglicherweise gelingt, Wirtschaftsentwicklung zu garantieren, ohne dabei das Primat der Politik aufzugeben.

One Reply to “Russland auf dem Weg in die Verwestlichung”

  1. Die derzeitige Entwicklung in Russland ist für die westlichen Beobachter vor allem durch das Internet beobachtbar geworden. Erst durch Twitter, Blogs etc. wird die russische Gesellschaft auch in den deutschen Medien wirklich präsent.

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