(pri) Politik, so sagt ein gern zitiertes altes Zitat, beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Ignoriert man diese Binsenweisheit, dann scheitert Politik in der Regel. Gegenwärtig gibt es dafür kein treffenderes Beispiel als das hilflose, ohnmächtige Agieren des Westens in und um Syrien.
Das ideologische Wunschdenken der USA und ihrer bislang willigen europäischen Satelliten, die glaubten, in Syrien wiederholen zu können, was ihnen in Irak und Libyen gelang und für die dortigen Völker Elend, Entwurzelung und Tod zur Folge hatte, würde auch in im Machtbereich Baschar el Assads funktionieren, erwies sich von Anfang an als zum Scheitern verurteilt, weil es nie die Wirklichkeit in Syrien zur Kenntnis nahm. Dieses Wunschdenken scheiterte vor allem an der russischen Realpolitik, die selbstverständlich auch ihre eigenen Interessen im Blick hatte, aber zugleich stets genau abwog, inwieweit sie mit der Wirklichkeit im Konfliktgebiet kompatibel ist.
Das totale Scheitern der westlichen Illusionen dokumentiert sich eindrucksvoll in der Flucht in »post-faktische« Kampagnen, also die Ersetzung der Argumentation auf Tatsachenbasis durch emotionalen Alarmismus, der gerade in seiner Überzogenheit unglaubwürdig ist und daher kaum Wirkung bei den Menschen hinterlässt. Hilflos musste Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag konstatieren, dass »ein Freihandelsabkommen mit den USA hunderttausende Menschen auf die Straße bringt, aber die so grausamen Bombardierungen auf Aleppo so gut wie keine Proteste auslösen«. Da stimme etwas nicht mit den politischen Maßstäben, warf sie der deutschen Bevölkerung vor und bewies damit, wie sehr sie in arroganter Selbstüberschätzung den Menschen die Fähigkeit abspricht, politische Vorgänge realistisch zu bewerten, Ursache und Wirkung abzuwägen und vor allem eben nicht das eigene Wunschdenken mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
Dazu trägt natürlich auch bei, dass abseits der an die Bevölkerung gerichteten Horror-Propaganda über die zu erwartende Terrorwelle in Syrien gegen alle, die sich nicht Assad unterwerfen, bei der internen Bewertung der dortigen Lage ganz andere Maßstäbe angelegt werden. So hat gerade erst das schleswig-holsteinische Oberverwaltungsgericht die Klage eines syrischen Flüchtlings abgewiesen, der hier offiziell als solcher anerkannt werden wollte. Es gebe keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass abgeschobenen Rückkehrern grundsätzlich ungeachtet besonderer persönlicher Umstände oppositionelle Tätigkeit unterstellt werde und politische Verfolgung drohe, so das Gericht, dessen Spruch inzwischen von Verwaltungsgerichten in München und Düsseldorf bestätigt wurde. Daher müsse ein Flüchtlingsstatus, der auch den Familiennachzug einschließt, nicht gewährt werden.
Angesichts solcher Widersprüche sehen die Bürger hierzulande sehr wohl, dass es dem Westen bei seinem Vorgehen gegen Syrien nie um die Menschen dort ging und geht, sondern nur um das eigene Interesse, ein Regime, das nicht in den Streifen passt, zu eliminieren. Merkel und der EU-Ratspräsident haben das erst kürzlich in Brüssel eingestanden, wo die Kanzlerin beklagte, »das wir politisch nicht zu handeln konnten, wie wir gerne handeln würden« und Donald Tusk einräumte, die EU sei »nicht so effektiv, wie wir es gerne wären«. Konsequenzen wurden freilich nicht gezogen; hartnäckig hält man an diesem derzeit illusorischem Ziel fest und bedient sich dabei ungeniert jener Terroristen, die sich in Ost- Aleppo eingebunkert hatten, die dortige Bevölkerung als Geisel benutzten – was einschloss, ihre rechtzeitige Evakuierung zu verhindern – und jetzt, nach ihrer Umsiedlung in das noch von Ihresgleichen gehaltene Idlib, von dort aus den Kampf weiterführen sollen, denn »Mit der Rückeroberung Idlibs wäre die syrische Revolution endgültig erledigt.« – so die »Welt«.
Das aber soll nicht zugelassen werden, und so versuchten die USA und ihre Verbündeten im Weltsicherheitsrat ein weiteres Mal, die endgültige Zerschlagung der IS-dominierten Terrortruppe in Syrien zu verhindern. UNO-Beamte sollten die Kampfhandlungen um Aleppo »beobachten« – eine Maßnahme, die den hilfebedürftigen Menschen nicht im geringsten nutzt, aber den Kampf gegen ihre Peiniger offensichtlich behindern soll. Entsprechend lehnte Russland den westlichen Resolutionsentwurf ab und brachte eigene Änderungsvorschläge ein, um die ein zähes Ringen im Gange ist. Es versteht unter Hilfe die endgültige Zerschlagung des Terrorismus, unabhängig davon, wie er sich tarnt und die Einleitung einer politischen Lösung, auf deren Grundlage allein auch über das Schicksal Assads entschieden werden kann. Der Westen hingegen will seine Ziehkinder nicht verlieren, braucht er sie doch, um vielleicht am Konferenztisch noch einiges von seinen Zielen durchzusetzen.
Zur Terrorismus-freundlichen Strategie des Westens gehört mithin auch die systematische Verharmlosung der Anti-Assad-Militanten, die gern zu einer »moderaten Opposition« gemacht werden, ungeachtet dessen, dass diese mit Waffengewalt gegen die zwar autoritäre und gegen ihre inneren Gegner repressiv vorgehende, nichtsdestotrotz aber legale Regierung Syriens kämpfen. Man bezeichnete sie bislang beschönigend als »Rebellen«; inzwischen sind sie oft schon – noch neutraler – zu »Kämpfern« oder gar »Aktivisten« geworden. Was von ihrer Seite verlautet, nehmen die meisten der hiesigen Medien für bare Münze. Zwar wurde bisher meist hinzugefügt, dass die Richtigkeit dieser Meldungen nicht überprüft werden könne, aber ungeachtet dessen verbreitet man sie eifrig weiter, und inzwischen fehlt diese Einschränkung immer öfter. Anderslautende, gar gegenteilige Darstellungen, die freilich häufig auch keine größere Zuverlässigkeit haben, finden in den Redaktionen der sich an der offiziellen Politik orientierenden Medien erst recht keine Beachtung.
Geradezu paradox wird diese Verharmlosung des Terrorismus, wenn man im gleichen Atemzug vor der nun drohenden Rückkehr der vor Assad und russischen Bomben fliehenden Terroristen nach Europa warnt. So befürchtet der Anti-Terrorrismus-Koordinator der EU, Gilles de Kerchove, dass es »nach dem Fall der Städte Mossul und Rakka zu einer verstärkten Rückkehr von europäischen Kämpfern aus den IS-Kampfgebieten kommen kann. Ebenso dürften Dschihadisten aus Syrien oder dem Irak dann verstärkt versuchen, im Flüchtlingsstrom nach Europa zu kommen«. Und er fügte hinzu: »Nach unseren Erkenntnissen hat der IS auch dazu aufgerufen, nicht mehr in die Kampfgebiete zu kommen, sondern in Europa zu kämpfen.« Da sind die Anti-Assad-Kämpfer plötzlich wieder sehr gefährlich; in Syrien aber sollen viele von ihnen als »moderate Kräfte« gelten.
All diese Ungereimtheiten haben ihre Logik; sie sind Bestandteil realitätsferner Politik und damit auch des westlichen Scheiterns. Sie sollen nur dazu dienen, Stimmung gegen eine von ihnen nicht gewünschte Lösung des Syrien-Problems zu machen, was in der Konsequenz dazu führt, die Leiden des syrischen Volkes zu verlängern. Der westliche Anspruch, etwas für die Menschen zu tun, erweist sich auch hier als eine leere Worthülse.