Woher das Misstrauen der Impfskeptiker rührt

(pri) Tatsächlich scheint es ein Rätsel zu sein, dass offensichtlich gerade unter Bundesbürgern, die in ihrem Leben die meisten Impfungen erhielten, die Zahl jener, die jetzt die Impfung gegen Covid-19 ablehnen, am größten ist. In Sachsen sind nur knapp über 60 Prozent zweimal geimpft, in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg nur wenig mehr. Dabei war gerade für frühere DDR-Bürger Impfen gegen diverse Krankheiten eine ganz normale Sache. Bis zu 20 Impfungen erhielten sie im Kindheits- und Jugendalter – verpflichtend und meist perfekt durchorganisiert vom staatlichen Gesundheitswesen.

Kaum jemand wehrte sich dagegen, im Gegenteil. Viele Eltern empfanden es als Segen, dass durch die Impfung viele Krankheiten von ihren Kindern ferngehalten wurden; das war vor allem für die berufstätigen Frauen wichtig, die sie zu Hause hätten betreuen müssen. Man verstand die Impfung nicht als einen riskanten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, sondern geradezu als einen Beitrag zu deren Erhaltung. Zwar gab es auch einzelne Impfverweigerer, aber die große Mehrheit schätzte diesen kostenlosen Gesundheitsservice. Man hörte nichts von erklärten Impf-Dissidenten oder gar von Demonstrationen gegen die faktische Impfpflicht, die auch nicht repressiv durchgesetzt wurde. Die DDR konnte sich das leisten, weil der allgemeine Impfstatus ziemlich hoch war.

Als umso erstaunlicher wird empfunden, dass heute viele der gleichen Bürger gerade in den neuen Bundesländern so vehement gegen das Impfen und gar gegen eine Impfpflicht sind. Aber vielleicht verbirgt sich dahinter gar kein Geheimnis, sondern etwas, das freilich so gar nicht in das von interessierter Seite gestanzte Bild der DDR passt – ein gewisses Vertrauen in sie zumindest in dieser Frage. Und der Verlust von Vertrauen in heutiges staatliches Handeln. »Beim Impfen geht es nie nur um den Piks für den Einzelnen, nie nur um die Gesundheit, sondern es geht immer auch um das Vertrauen in den Staat«, sagte kürzlich der jeder DDR-Nostalgie unverdächtige Medizinhistoriker Malte Thiessen aus Münster in einem Interview. Und: »Da scheint es mir tatsächlich in einigen Teilen Ostdeutschlands ein Problem zu geben, dass die Akzeptanz der Impfung senkt. Impfen ist ein Stück weit eine Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit staatlichen Einrichtungen.«

Gestützt wird dieser Befund nicht zuletzt dadurch, dass in den westlichen Bundesländern seit jeher große Skepsis gegenüber Impfungen herrscht, weshalb man es bisher nie – die Pocken bis zur ihrer Ausrottung ausgenommen – wagte, eine Impfpflicht zu verkünden. Entsprechend ist auch dort die Impfquote relativ niedrig, liegt derzeit nirgends außer in Bremen über 80 Prozent, in Bayern und Baden-Württemberg nur um 70 Prozent. Das spricht nicht gerade für ein besonderes Vertrauen in die dortigen Behörden, einschließlich das Gesundheitswesen.

Und dies hat seine Gründe: Jahr für Jahr müssen Pharmafirmen zuvor eifrig beworbene Produkte vom Markt nehmen, weil sie im besten Fall nicht halten, was sie versprachen, im schlimmsten aber gar zu Missbildungen und Erkrankungen bis hin zum Tod führten. Das bekannteste Beispiel ist der Contergan-Skandal, der in der 60er-Jahren Fehlbildungen bei Neugeborenen zur Folge hatte. Aber auch danach gab es immer wieder ähnliche Vorfälle; über 20 werden in entsprechenden Forschungsarbeiten aufgelistet.

Zwar waren schwere Schädigungen durch Impfungen nicht darunter, aber offensichtlich befürchten viele Bürger, dass das Profitstreben von Pharmakonzernen und ihre enge Verquickung mit der Politik durch den Lobbyismus auch beim Impfen ihrer körperlichen Unversehrtheit abträglich sein könnten. Und dies im Westen wie im Osten, aber in den neuen Bundesländern noch stärker, weil in der DDR zwar teilweise Mangel an wirksamen Impfstoffen herrschte, es aber Probleme mit Profitmacherei nicht gab. Dies wird heute sogar auf ehemalige Bruderländer übertragen, denn mancher Impfunwillige würde sich durch russische, chinesische oder kubanische Stoffe durchaus immunisieren lassen.

Impfskepsis erweist sich so nicht zuletzt als eine systemische Frage. In einer Gesellschaft, in der alles zur Ware wird, auch die Gesundheit der Menschen, kann Vertrauen gerade bei Angelegenheiten mit möglicherweise existenziellen Folgen nicht wachsen. Es sind also beileibe nicht nur unsolidarische Egoisten, die die Impfung verweigern, sondern auch Menschen mit hohem Risikobewusstsein. Vielleicht beweisen sie dies hier am falschen Objekt, doch die Verantwortung dafür trägt ein System, das Vertrauen nicht verdient.

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