Wie sich die SPD von der Friedenspolitik verabschiedet

(pri) Gewöhnlich haben Politiker kein Problem damit, wenn sich Kritiker und Befürworter ihrer Entscheidungen ungefähr die Waage halten; sie sehen darin einen Hinweis, dass sie so ganz falsch nicht liegen können. Für Olaf Scholz und die SPD gilt solche Weisheit derzeit allerdings nicht; vielmehr sind sie gerade dabei, nicht nur mit ihrer gegenwärtigen Politik mehr Fragen zu provozieren als Antworten zu geben, sondern darüber hinaus den erfolgreichen außenpolitischen Kurs vergangener Jahre und Jahrzehnte schlechtreden zu lassen und sich damit faktisch von ihrer größten politische Errungenschaft zu distanzieren.

Die vom Bundeskanzler verkündete »Zeitenwende«, die nicht nur als Solidaritätserklärung für die von Russland überfallene Ukraine zu verstehen ist, sondern als Start einer wahren Aufrüstungsorgie, soll offensichtlich die Jahrzehnte lang betriebene, von Willy Brandt initiierte und von Egon Bahr, aber auch vielen anderen Sozialdemokraten mit Leben erfüllte Entspannungspolitik ein für allemal beenden und die Bundesrepublik in die Lage versetzen, im Konzert der imperialistischen Blöcke wirkungsvoll mitzuspielen, wozu der enge Schulterschluss mit den USA eine wichtige Voraussetzung ist. Scholz, ohnehin seit langem kein Anhänger linker Politik, nutzte die mit der russischen Aggressionspolitik entstandene Chance, in einer Überrumpelungsaktion seine Partei auf einen solchen Konfrontationskurs festzulegen und damit zugleich die Differenzen zu den beiden schon länger in diese Richtung marschierenden konservativeren Koalitionspartnern zu minimieren.

Allerdings blieb dies in der SPD nicht ohne Widerspruch. Nach der auch von den meisten Medien durch eine parteiliche, emotionalisierte Berichterstattung geschürten Überwältigungsphase und den zunehmenden Versuchen, die gesamte sozialdemokratische Politik gegenüber Russland für Invasion und Kriegsgräuel auf ukrainischem Boden verantwortlich zu machen, waren zunächst sehr vorsichtig, dann aber deutlicher vor allem aus der SPD-Bundestagsfraktion auch mahnende Stimmen zu hören.

Dies veranlasste Olaf Scholz zu einem Innehalten, mit dem er dieser Stimmung entgegenwirken wollte, ohne sich in der Sache zu korrigieren. Er geriet dadurch aber vor allem ins Visier der erklärten Kriegsbefürworter der eigenen Koalition und inzwischen auch der CDU/CSU, die diese Widersprüche im Regierungslager auszunutzen trachtet. Zudem erhöhten die USA den Druck auf die Bundesrepublik; sie brauchen eine Vorreiterrolle der Deutschen, um wachsenden Zweifeln in einer Reihe europäischer Länder an den westlichen Kriegszielen gegenüber Russland einen Riegel vorzuschieben.

Das Resultat war absehbar, der Bundeskanzler trat zurück ins Glied und stimmte einer Bewaffnung der Ukraine zu, mit der sie in die Lage versetzt werden soll, den Krieg ohne Rücksicht auf Verluste auf beiden Seiten fortzusetzen und damit auch die bisherige Linie des Westens, die Revision der russischen Bodengewinne der letzten Jahre in der Ukraine zu erreichen. Verhandlungen würden in jedem Falle zu Abstrichen an diesem Ziel führen und wären deshalb ebenso kontraproduktiv wie die Berufung auf die Entspannungspolitik. Olaf Scholz dürfte deshalb dieses positive Erbe der SPD in der gegenwärtigen Situation als gefährlichen Ballast betrachten, der nach der »Zeitenwende« allenfalls noch für die Geschichtsbücher taugt.

Dennoch kann er dieses Erbe nicht gänzlich ignorieren, weshalb er laviert. Er behauptet, »übereiltes Agieren und deutsche Alleingänge sind mir suspekt«, was keine Absage an fortgesetzte Eskalationspolitik ist, sondern lediglich ihr Vollzug in kleinen Raten – eine Methode, mit der die SPD schon in der großen Koalition mit der Union nach und nach an die Abkehr von sozialdemokratischen Grundsätzen gewöhnt wurde.

Auch in der Außenpolitik, wo die Sozialdemokraten ebenso wie die Kanzlerin Angela Merkel unter dem Druck der NATO nicht genügend taten, um Verhandlungserfolge, zum Beispiel beim Minsker Abkommen, auch gegen ukrainische Verweigerung abzusichern, sondern es stattdessen zuließen, dass Erreichtes durch Vertragsverletzungen verspielt wurde – womit man Putin und seinem imperialistischen Konzept Vorschub leistete. Wenn heute von Versäumnissen der deutschen Politik gesprochen wird, suggeriert man, es hätten schon eher Waffen eingesetzt werden müssen. Auch Bundespräsident Steinmeier tut dies, obwohl er als ehemaliger Außenminister selbst zu jenen gehörte, die Russland damals die kalte Schulter zeigten. Dass auf die russischen Signale Georgien, Krim und Ostukraine aber eine Rückkehr zu ernsthaften Verhandlungen hätte folgen müssen, wird ignoriert; wer jetzt auf diese schlichte Wahrheit verweist, wird als Parteigänger des russischen Präsidenten diffamiert.

Damit wird der Wert von Verhandlungen, der Suche nach Lösungen auch bei schwierigen Fragen, des Ringens um einen Interessenausgleich völlig negiert, muss negiert werden, um die Alternativlosigkeit einer militärischen Lösung behaupten zu können. Die wütenden Attacken auf alle, die zu Vernunft aufrufen, wie jetzt die Initiatoren und inzwischen weit über 100 000 Unterzeichner des offenen Briefs an Olaf Scholz, zeugen teilweise von einem Geist der Konfrontation und Gewaltverherrlichung, der den Intentionen Putins sehr nahe kommt.

Nicht nur weil die ständige Eskalation des Kriegsgeschehens unkalkulierbare Risiken bis hin zu einem Atomkrieg in sich birgt, sondern vor allem, weil während des Krieges täglich Menschen sterben, ihre Häuser zerstört werden, Grausamkeiten geschehen, muss die Aggression seitens Russlands schnellstens beendet werden, um auf den Weg von Verhandlungen zurückkehren zu können. Darauf sollte die Bundesregierung ihre ganze Kraft richten. Von Olaf Scholz und der Mehrheit der SPD ist das derzeit nicht zu erwarten. Umso wichtiger ist der Massenprotest gegen die Fortsetzung des Krieges; er kann dazu beitragen, dass es zum von der derzeitigen SPD-Führung angestrebten Abschied von der Friedenspolitik nicht kommt.

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