In der sowjetischen Ukraine

Russen und Ukrainer – durch gemeinsame Geschichte verbunden und zugleich Rivalen. Schon im Sowjetreich war der Widerspruch zwischen nationaler Identitätssuche und Völkerfreundschaft nicht zu überwinden, sondern wurde durch Machtpolitik »aufgehoben« – zugunsten des Stärkeren und deshalb immer wieder in Frage gestellt.

Am Abend des 29. August 1984 näherte sich auf dem Dnjepr unser Flussschiff »Jewgeni Wutschetitsch« der Stadt Kanew. Doch es ankerte nicht in deren Zentrum, sondern vier Kilometer davor, an einer großzügigen Anlegestelle mit großem Parkplatz, Restaurant, Imbissständen – und mit einer breiten Treppe, die von hier hinauf führte auf den Taras-Hügel direkt am Ufer des Flusses. Diese Treppe mit 360 Stufen war der Grund für den Ankerplatz außerhalb Kanews; sie musste bezwungen werden, um zum größten Sohn der Stadt zu gelangen, zu Taras Schewtschenko.

Schewtschenko-Denkmal in Kanew

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg, der weniger anstrengend war als befürchtet. Gemächlich ging es nach oben, über flache Stufen, begleitet von pathetischen Klängen aus Lautsprechern am Treppenrand. Mit uns viele Einheimische, Russen, Ukrainer, andere Völkerschaften der großen Sowjetunion. Sie waren oft festlich gekleidet, die meisten brachten Blumen mit, die man am Ufer kaufen konnte. Unser aller Ziel ein zunächst noch hinter Bäumen versteckter, dann aber plötzlich in voller Größe sichtbarer Granitsockel mit einem Bronzestandbild. Es zeigt den Dichter, Maler, Revolutionär und Nationalisten, der in der Ukraine als ein Heiliger verehrt wird, wie er versonnen über den Dnjepr blickt.

Gleich nebenan ein großer Museumsbau, in dem das Leben des Volkshelden akribisch beschrieben ist. Taras Schewtschenko wurde 1814 in einem Dorf, etwa 100 Kilometer von Kanew entfernt, in einer Leibeigenenfamilie geboren. Da seine Eltern lesen und schreiben konnten, kam er früh mit Büchern in Berührung und besuchte die Schule. Er hatte auch Talent zum Zeichnen und Malen, was ihn für seinen Gutsherrn interessant machte. Als Kammerherr diente er diesem, der ihn oft auf Reisen mitnahm und sich schließlich mit ihm in St. Petersburg niederließ. Dort erreichte er seinen Freikauf aus der Leibeigenschaft, studierte und wandte sich zunehmend der Dichtung zu. 1840 erschien sein erster Lyrikband – in ukrainischer Sprache. Das löste Kritik aus, wurde das Ukrainische doch als »bäuerischer Dialekt des Russischen« abgewertet. Ansonsten aber fanden Schewtschenkos Gedichte durchaus Gefallen.

Obwohl dergestalt protegiert, vergaß der Bauernsohn seine Herkunft nicht. Bei Reisen in seine Heimat wurde er immer wieder mit der Armut und Unterdrückung seiner Landsleute konfrontiert und gab ihnen zunehmend in seinen Versen eine zornige, radikale Stimme. Das registrierten bald auch die zaristischen Zensurbehörden, und sie erfuhren zudem, dass er mit Oppositionellen im Untergrund verkehrte. 1847 wurde er verhaftet; man fand bei ihm aufrührerische Schriften, und der Chef der Geheimpolizei befand: »Mit der Verbreitung seiner Gedichte in der Ukraine könnten Ideen über die Möglichkeit des Bestehens der Ukraine als eines selbstständigen Staates Wurzeln schlagen.« Er wurde aus St. Petersburg verbannt; erst nach zehn Jahren konnte er zurückkehren und verbrachte dort seine letzten Lebensjahre unter strenger Überwachung. Schewtschenko starb 1861.

Er hatte schon Jahre zuvor geplant, sich in Kanew niederzulassen, was die Behörden verhinderten. In dem Gedicht »Das Vermächtnis« aus dem Jahre 1845 hatte er sich den Taras-Hügel als seine Grabstätte gewünscht:

»Wenn ich sterbe, sollt zum Grab ihr
Den Kurgan mir bereiten
In der lieben Ukraine,
Auf der Steppe, der breiten,
Wo man weite Felder sieht,
Den Dnjepr und seine Hänge,
Wo man hören kann sein Tosen,
Seine wilden Sänge.«

Man kann diesen Wunsch nachfühlen, wenn man selbst hier steht und die Weite der Landschaft sieht, den Fluss, der sie durchzieht, mit seinen Inseln, und die Wälder am anderen Ufer, die sich in der Unendlichkeit zu verlieren scheinen. Aber Schewtschenko beließ es in seinem »Vermächtnis« nicht bei diesem sentimentalen Wunsch, sondern machte es zu einem leidenschaftlichen Aufruf zum Kampf für eine unabhängige Ukraine:

»Wenn aus unsrer Ukraine
Zum Meer dann, zum blauen,
Treibt der Feinde Blut, verlass ich
Die Berge und Auen,
Alles lass ich dann und fliege
Empor selbst zum Herrgott,
Und ich bete ... Doch bis dahin
Kenn’ ich keinen Herrgott !

So begrabt mich und erhebt euch !
Die Ketten zerfetzet !
Mit dem Blut der bösen Feinde
Die Freiheit benetzet !
Meiner sollt in der Familie,
In der großen, ihr gedenken,
Und sollt in der freien, neuen
Still ein gutes Wort mir schenken.«

Das traf die Gefühle des ukrainischen Volkes, Schewtschenko wurde zum Nationalhelden. Zunächst in St. Petersburg beigesetzt, überführte man seinen Leichnam schon zwei Monate später nach Kanew; Tausende sollen damals den Weg gesäumt haben. Und der Dichter blieb für die Zarenherrschaft auch danach gefährlich. 1891 gründeten Studenten an seinem Grab die geheime Taras-Bruderschaft. Als 1914 sein 100. Geburtstag gefeiert werden sollte, sperrte die Gendarmerie den Taras-Hügel ab und verhinderte die geplante große Pilgerfahrt, was Demonstrationen und Unruhen im ganzen Land auslöste – spöttisch nannte dies Lenin mit Blick auf seinen Wert für die Agitation gegen den Zaren eine »hervorragende, glänzende, außerordentlich glückliche und gut gewählte Maßnahme«.

Offiziell waren Schewtschenko und seine Werke anschlussfähig für die bald siegende Sowjetmacht, denn sie sah in den »Feinden« der Ukraine nur die zaristischen Unterdrücker. Doch bald musste sie registrieren, dass für jene, die diese Gegnerschaft nicht klassenmäßig definierten, sondern national bezogen, neben den Habsburgern, Deutschen, Polen, Litauern und anderen zeitweiligen Okkupanten gerade auch die Russen unter diese Kategorie fielen.

Schon im Bürgerkrieg waren die Siedlungsgebiete der Ukrainer zum Spielball unterschiedlichster Interessen geworden. Egon Erwin Kisch, der 1928 die junge Sowjetunion bereiste, beschrieb dies anschaulich am Beispiel des Donbass:

»Vierundzwanzigmal wechselte das militärische Regime im Donezbecken, deutsche Okkupation, Denikin, das nächste Mal Petljura, das vierte Mal Skoropadskij, hinterher eine nördlich versprengte Truppe Wrangels, wiederholt tauchte der Ataman Machno auf, nach ihm wütete General Schkuro, das achte Mal die Haidamaken mit Zöpfen und rasierten Schädeln zu Ehren jahrhundertelang verjährter ukrainischer Traditionen …«

1918 hatte es für vier Wochen auch eine Sowjetrepubik Donezk-Kriwoi Rog gegeben, die nach dem Sieg der Bolschewiki aber der Ukraine zugeschlagen wurde, weil man vielleicht hoffte, das proletarische Element des Industriegebietes könne auf deren sowjetskeptische ländliche Regionen ausstrahlen. In den nachrevolutionären Wirren war freilich eher das Gegenteil der Fall, und Moskau sah eine »Ukrainisierung«, die bald gestoppt wurde. Der internationalistische Grundgedanke, der zur sozialistischen Ideologie gehört, stieß somit in der politischen Praxis schnell an seine Grenzen, fußt er doch auf der Gleichberechtigung – und damit einer Art Gleichheit – aller Nationen, während diese gerade die Unterschiede zu anderen hervorheben und daraus ihre Identität und Legitimität ableiten. Das führt schnell zu Widersprüchen, vor allem dann, wenn solcher Nationalismus eine große Machtbasis hat und nicht der Versuchung widerstehen kann, sie zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Zwar erwiesen sich die Bolschewiki in ihrer Nationalitätenpolitik vor allem während des Bürgerkrieges und des Kriegskommunismus – in der Regel gezwungen durch die jeweiligen, sich schnell ändernden Machtverhältnisse, aber natürlich auch durch nationalistische Tendenzen in den eigenen Reihen – oft als inkonsequent, waren dennoch aber von allen auf dem ukrainischen Territorium agierenden Parteien noch am glaubwürdigsten. Daher betrachteten sie, wie der österreichische Historiker Andreas Kappeler resümierte, »zahlreiche ukrainische Intellektuelle und die vom langen Krieg und den gewaltigen Zerstörungen erschöpften ukrainischen Bauern als das im Vergleich zu den reaktionären Weißen und den Polen kleinere Übel«.

Lenin, ohne Zweifel ein Internationalist, erkannte schnell die Gefahr des Nationalismus und warnte gar vor einem »großrussischen Chauvinismus«. Stalin folgte dem zunächst, doch als es später darum ging, alle nationalen Kräfte zu bündeln, um die Sowjetunion aus der Rückständigkeit zu führen, störten ihn die nationalen Ambitionen ihrer einzelnen Völker. Er sah die RSFSR als Führungskraft und weitete deren Einfluss systematisch aus – wenn nötig auch mit Gewalt. Dass dies in gewissem Maße als unumgänglich angesehen wurde, zeigt eine Bemerkung Kischs, der sich darüber wunderte, dass »man nach dem Weltkrieg einigen Stämmen zwischen Deutschland und Russland das Recht auf selbständige Geschichte und eigenes Staatswesen verlieh, den Pufferstaaten der Angst«. Die Ukraine als die nach Russland größte Entität auf europäischen Boden versuchte stets, ihr eigenes Gewicht in die sowjetische Waagschale zu legen; die Verehrung für Taras Schewtschenko gehörte dazu.

Derlei Zusammenhänge gingen uns in Kanew Mitte der 1980er-Jahre natürlich nicht durch den Kopf, aber die Ausstellung lieferte dafür Belege zuhauf. Schewtschenkos Werke wurden in über 21 Millionen Exemplaren in 58 Sprachen der Nationen der Sowjetunion veröffentlicht. In vielen Städten der UdSSR gab es Museen, zahlreiche Städte und Dörfer, Straßen, Kultur- und Bildungseinrichtungen wurden nach ihm benannt. 400 Schewtschenko-Denkmäler wurden errichtet. Wir sahen den Dichter auf Gemälden in allen Lebenslagen, sein Porträt aus Wolle oder Getreidekörnern, eines seiner Bücher aus Salz. Er blickte uns von Stickereien, Mosaiken, Keramiken und Schnitzwerk entgegen. Selbst sein zweideutiges »Vermächtnis« wurde mit einem separatem Raum gewürdigt, in dem man es in zahlreichen Sprachen der Welt nachlesen konnte. Dass aber gerade einmal sechs Jahre zuvor der ukrainische Ingenieur Oleksa Hirnyk aus Protest gegen die Verdrängung der ukrainischen Sprache tausend Flugblätter auf dem Taras-Hügel ausgelegt und sich anschließend neben dem Grab Schewtschenkos verbrannt hatte, darüber kein Wort.

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Denn die symbolische Umarmungspolitik wechselte sich in der Sowjetunion immer wieder mit Unterdrückung von Nationalbewusstsein ab; daneben wurde aber auch viel dafür getan, die einzelnen Regionen zu entwickeln – aufbauend auf deren natürlichen Vorzügen. Für die Ukraine sind das die fruchtbaren Schwarzerdeböden auf drei Vierteln des Territoriums; folglich waren nach dem ersten Weltkrieg fast 90 Prozent der Ukrainer Bauern. Gleichzeitig gab es beträchtliche Bodenschätze vor allem im Donbass und eine darauf fußende Schwerindustrie, über deren Entwicklung der Reporter Kisch 1928 geradezu ins Schwärmen geriet:

»Die Produktion ist in den letzten vier Jahren um sechs Prozent gestiegen, die Einnahmen um 33 Prozent … Alte Arbeiterhäuser werden aufgestockt, vernachlässigte Herrschaftsgärten hergerichtet, an den Bergwerken Badeanlagen gebaut, und Kolonien mit mehreren hundert Häusern sind im Entstehen – ein Wunder bei der Not an Materialien und Arbeitskräften, die das aufbauende Russland des Nachkriegs … zu verzeichnen hat … Über das, was Sowjetrussland in der Errichtung von Sanatorien, Adaptierung von Kurorten, Villen, Schlössern und Klöstern zu gemeinnützigen Zwecken geleistet hat, lässt sich nicht sprechen, ohne den Ton kühler und kritischer Berichterstattung zu verlassen.«

Im Einzugsgebiet des Dnjepr war es neben der Landwirtschaft vor allem die Wasserkraft, die für die Energiegewinnung genutzt wurde. »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« hatte Lenin unmittelbar nach der Oktoberrevolution verkündet; das Wasserkraftwerk Dnjeproges bei Saporoshje war eines der ersten, mit dem die Losung in die Tat umgesetzt wurde. 1927 begann der Bau, nach fünf Jahren wurde es eingeweiht. Es war damals das größte Europas und das drittgrößte weltweit. Vom Flussufer am Leninplatz blickt man auf eine elegant geschwungene, 762 Meter lange und fast 60 Meter hohe Staumauer, hinter der ein See mit mehreren tausend Millionen Kubikmetern Wasser beginnt.

Vor dem Bau gab es hier nur Stromschnellen, die den Schiffern das Leben schwer machten und von denen noch einige Felsbrocken vor der Staumauer zu sehen sind. Sie haben der Stadt ihren Namen verliehen: Saporoshje heißt »Hinter den Stromschnellen«. Und natürlich darf hier auch Lenin nicht fehlen. Wie in Kanew Schewtschenko blickt er von hohem Sockel auf den Dnjepr und weist mit erhobenem Arm zugleich auf sein Werk, die Staumauer. 1964 wurde das 20 Meter hohe Monument eingeweiht. Es zeugt vom Stolz der Saporoshjer, das erste große Wasserkraftwerk erbaut zu haben. Zwar gibt es inzwischen mehrere weit größere, doch gilt es als der »Klassiker«. Unsere Reisebegleiterin Tanja stellte es in eine Reihe mit großen russischen Berühmtheiten: »Es ist der Puschkin, der Tschaikowski, der Repin der Kraftwerke. Und wenn man noch so große baut, der Ruhm des ersten wird nicht verblassen.«

Durch ein großes gusseisernes Tor betraten wir das Kraftwerksgelände, das eher den Eindruck eines Sanatoriums machte. Schattige Alleen, viel Grün und Blumen. Sie nahmen 35 der 40 Hektar Betriebsfläche ein. In der Turbinenhalle in Reih und Glied die Aggregate und draußen bizarre Umformeranlagen mit ihren Isolatoren und Leitungen – eine ganz eigene Ästhetik des 20. Jahrhunderts mit seinem ständig steigenden Energiebedarf. Ein Denkmal erinnerte an jenen Soldaten, der 1944, vor dem Abzug der deutschen Wehrmacht, die völlige Zerstörung des Kraftwerks verhinderte. Nicht erwähnt wurde jedoch die Sprengung im August 1941 durch die Rote Armee; die dadurch entstandene Flutwelle verschlang nicht nur viele der faschistischen Angreifer, sondern auch Verteidiger und Bewohner der Uferregionen. Dadurch gelang es aber, den deutschen Vormarsch aufzuhalten und in dieser Zeit große Teile der Schwerindustrie aus der Stadt zu demontieren und nach Sibirien zu verlagern – eine der Voraussetzungen für die spätere Gegenoffensive der Roten Armee.

Glinka-Konzerthaus in Saporoshje
Foto: A. Sachartschenko

Saporoshje, einst eine mittlere Kleinstadt mit gut 50 000 Einwohnern, war durch den Kraftwerksbau förmlich explodiert. 1937 lebten hier mehr als 240 000 Menschen, inzwischen sind es fast 900 000. Die Neubauten entstanden im sogenannten Zuckerbäckerstil, einem sozialistischen Klassizismus, dessen Wert inzwischen mehr und mehr erkannt wird. Saporoshje liefert dafür eine Vielzahl anschaulicher Beispiele und ist dadurch ebenso zum Mekka Architektur-Interessierter geworden wie etwa das lettische Riga für den Jugendstil. Am Lenin-Denkmal beginnt die Leninallee, die sich zehn Kilometer lang durch die Stadt zieht und die Entwicklung des von Stalin geförderten Baustils eindrucksvoll demonstriert.

Am nächsten Morgen setzten wir mit einem Kutter zur inmitten des Dnjepr liegenden Insel Chortiza über, die nicht nur eine für die Industriestadt wichtige Stätte der Erholung ist, sondern auch ein historischer Ort. Sie ist zwölf Kilometer lang und zweieinhalb Kilometer breit – genügend Raum für Wälder, Wiesen, kleine Teiche und ausgedehnte Strände. Hier wachsen seltene Pflanzen und hat sich eine vielfältige Tierwelt angesiedelt. Es gibt Sanatorien und Ferienlager und viele Datschen. Im 17. Jahrhundert hatte hier der legendäre Kosakenstaatseinen Hauptsitz, genannt Setsch, den viele Ukrainer als einen Vorläufer ihrer Nationenbildung betrachten, auch deshalb, weil er von den wechselnden Beherrscherndes Gebietes – Polen, Litauern, Türken und Russen – heftig bekämpft und schließlich Ende des 18. Jahrhunderts vernichtet wurde.

Immer wieder wird in der Ukraine an diese stolze Vergangenheit erinnert, nicht zuletzt in zahlreichen literarischen Werken, so auch in Nikolai Gogols »Taras Bulba«, wo der Dichter, Ukrainer von Geburt, aber nur auf Russisch schreibend, die Ankunft des Titelhelden auf Chortiza schildert:

»Wohin man blickte, wimmelte das Volk in bunten Haufen. Den sonnenverbrannten Gesichtern sah man es an: dies waren kriegsharte Männer, erprobt in Not und Gefahren. Da war sie nun, die Setsch! Da war es, das Nest, aus dem sie sich zu weitem Fluge hoben, die Löwenstarken, die Löwenkühnen! Dies war die Stätte, von der aus Freiheit und Kosakentum die ganze Ukraine beherrschten!«

So lange das auch her war, Ukrainer, die auf der sowjetischen Karriereleiter nach oben stiegen, sahen darin doch eine Tradition, die es zu pflegen galt, und mehr oder minder gar den Auftrag, daran anzuknüpfen und mehr Autonomie für ihr Land durchzusetzen. In den 1960er-Jahren wurde Pjotr Schelest, ein Bauernsohn mit vorgeblich kosakischen Wurzeln, Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine. Er drängte den russischen Einfluss zurück und plante dazu auch ein großes Memorial auf Chortiza, das die ruhmreiche Kosakengeschichte würdigen sollte. AberMeinungsverschiedenheiten mit Leonid Breschnew, der damaligen Nummer 1 in Moskau, vor allem über die Außenpolitik, führten zu seiner Absetzung und in der Folge zur strikten Unterbindung aller Ukrainisierungstendenzen einschließlich der Kosakenheroisierung.Das geplante Memorial wurde zum Saporoshjer Stadtmuseum. Über Kosaken hörten wir auf Chortizavor allem launige Geschichten von Gelagen, Prügeleien und verhinderten Liebschaften.

Tscherkassy, Mahnmal für die Opfer des faschistischen Krieges auf dem „Hügel des Ruhms“

Aber schon ein Stück flussaufwärts auf dem Dnjepr ergibt sich ein anderes Bild. In Tscherkassy, etwa 160 Kilometer südöstlich von Kiew, wurde auf dem Burgberg, wo sich Überreste einer alten Kosakenfestung befanden, das Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Kämpfe um die Stadt, darunter die Kesselschlacht gegen die faschistischen Truppen im Januar/Februar 1944, errichtet. Eine riesige Frauenfigur mit einer Flammenschale in ihrer hoch erhobenen Rechten, in der das ewige Feuer brennt, ziert seit 1977 den »Hügel des Ruhms«; sie soll aber auch die Soldaten der 1. Ukrainischen Front unter Marschall Konew ehren, die am 9. Mai 1945 Prag befreiten. Aber auch hier ist die Geschichte zwiespältig. Konews Vorgänger als Frontkommandeur, Armeegeneral Watutin, starb nach einem Angriff der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die – zeitweise bis zu 200 000 Mann stark – die deutschen Aggressoren gegen die Sowjetarmee unterstützte.

Zugleich ist der »Hügel des Ruhms« ein Gedenkort an nationale Prominenz früherer Zeiten. Denn Tscherkassy, 1394 erstmals urkundlich erwähnt, war lange Zeit Siedlungsgebiet der Kosaken; der Name der Stadt leitet sich von der schwarzen Mütze, ihrer traditionellen Kopfbedeckung, ab. Davon ist heute kaum etwas erhalten. Wenigstens hundertmal brannte Tscherkassy. Nur da und dort findet man noch Kleinstadthäuser im russischen Stil; ansonsten dominieren Neubauten, denn die Stadt ist jetzt ein Wirtschaftszentrum. Vor allem chemische Industrie wurde nach dem Krieg angesiedelt; dort arbeitet jeder zweite Beschäftigte. Erstaunlicherweise merkt, d.h. riecht man davon aber wenig. Grund soll das Waldgebiet sein, das zum Beispiel ein Stickstoffwerk von der Stadt abschirmt, aber man fragt sich schon, wie lange der Wald das aushält.

Noch sieht man nichts von Umweltschäden, ganz im Gegenteil. Die Landschaft auf dem Weg nach Kanew tut dem Auge ausgesprochen gut. Am Ufer wechseln Schilfgürtel und Sandbänke einander ab, unzählige malerische Inselchen lugen aus dem flachen Wasser. Man sieht immer wieder Zelte, oft phantasievolle Gebilde aus vielerlei Material: Folien, Planen, mit Astholz oder Metallstreben gestützt. Für den Urlaub am Fluss genügt das; der liefert auch das Wasser, der Wald in der Nähe das Holz fürs offene Feuer. Kein Industriebetrieb, keine Abwasserleitung ist zu sehen. Nur eine offensichtlich intakte Umwelt. Davon zeugen wohl auch die vielen Angler, die geduldig auf den frischen Fisch für die Grillparty warten.

Hinter Kanew nehmen die Datschen zu, erst die kleinen Hütten, dann immer größere und stabilere. Die Hauptstadt mit ihren sonnenhungrigen Bewohnern lässt grüßen. Auch Industrie ist nun am Dnjepr zu finden, vor allem Ziegeleien. Und dann taucht auch schon die Silhouette Kiews auf, zuerst die mehr als 100 Meter hohe Statue der Mutter Heimat. Vom Bildhauer Jewgeni Wutschetitsch entworfen, wurde sie 1981, sieben Jahre nach dessen Tod, eingeweiht. Die Frauenfigur mit dem 16 Meter langen Schwert in der Rechten und einem riesigen Wappen der Sowjetunion in der Linken erinnert an den Sieg der Roten Armee über den Faschismus. Dann folgen die Kirchen des Höhlenklosters mit dem Großen Glockenturm, die Sophienkathedrale und zahlreiche weitere Kirchtürme mit ihren goldenen Kuppeln. Dazwischen viel Grün, das sich auf der Steilküste ausgebreitet hat und von der eigentlichen Stadt noch nicht viel sehen lässt.

Kiew, Denkmal der Völkerfreundschaft
Foto: A. Mindelja
Kiew, Statue der Mutter Heimat

Ein 60 Meter hoher halbrunder Bogen gerät ins Blickfeld; mit ihm soll die Vereinigung von Russen und Ukrainern gewürdigt werden. Unter dem Halbrund halten zwei bronzene Heldenfiguren gemeinsam das sowjetische Wappen. Daneben aus einem Granitblock eine Szene aus dem Jahr 1654 gehauen, die den Schwur der Saporoshjer Kosaken auf den russischen Zaren darstellt. Auf den Betrachter wirkt dieses »Denkmal der Völkerfreundschaft« wie ein Fremdkörper und damit ziemlich widersprüchlich, aber vielleicht ist es gerade aus diesem Grunde denn doch in gewisser Weise Ausdruck des Verhältnisses der beiden Völker mit seinen wechselnden Perspektiven.

Kiew, Krestschatik
Foto: P. Jakimenka

Hier legt das Flussschiff an, und es ist nicht weit ins Zentrum, zum Boulevard Krestschatik, Kiews breiter Prachtstraße. Sie beeindruckt durch ihren architektonischen Gigantismus, aber mehr noch durch ihre Lebendigkeit, denn bis in die Nacht hinein flanieren hier die Menschen, plaudern, lachen, lauschen den vielfältigen Darbietungen namenloser Künstler, die die Gitarre schlagen, auf dem Kamm blasen, eine schwermütige slawische Melodie singen. Ein Gemeinschaftsleben ganz eigener Art vor erhabener Kulisse, die schon Honoré de Balzac, der mit seiner Liebe, einer polnischen Gräfin, oft in der heutigen Ukraine Station machte, von Kiew als dem »Rom des Nordens« sprechen ließ.

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Flussabwärts, auf seinem Weg zum Schwarzen Meer erreicht der Dnjepr südlich von Saporoshje einen gewaltigen, 240 Kilometer langen Stausee, den die Ukrainer auch ihr Meer nennen – und tatsächlich: Von unserem Flussschiff aus sehen wir streckenweise rechts wie links kein Land mehr. Dieses Meer wurde von 1947 bis 1955 als große Bewässerungsmaßnahme angelegt und trug wesentlich zum Ruf der Ukraine als Kornkammer Europas bei. Nur knapp 200 Kilometer Luftlinie vom Asowschen Meer entfernt, gedeihen hier auch Obst, Wein und sogar Reis. Es gibt große Felder mit Sonnenblumen, Rizinus, Tomaten und anderem Gemüse.

Nowaja Kachowka, Kulturhaus
Foto: W. Posdnowa

Benannt wurde der Stausee nach dem Städtchen Kachowka an dessen Ende; parallel zur Entstehung des Stausees wuchs Nowaja Kachowka heran, eine völlig neue Stadt in der Steppe. Sie ist sehr ebenmäßig angelegt, mit viel Grün und kleinen Ein- und Zweifamilienhäusern, die einen gemütlichen Eindruck machen. Zwar ist auch hier der Zuckerbäckerstil nicht zu verleugnen, aber er wirkt nicht monumental, sondern passt in die Landschaft. Die Sanatorien am Dnjepr-Ufer haben große Parks und eigene Strände. Und aus den Obstgärten grüßen Pfirsiche und Pflaumen, Himbeeren und Tomaten beträchtlicher Größe.

All das und noch viel mehr fanden wir auf dem Basar wieder, einem trubeligem Markt, auf dem auch Bauern und Fischer ihre Produkte anbieten, oft ganz unkonventionell. Da äugen Kaninchen aus einem vergitterten Kinderwagen, liegen Enten mit zusammengebundenen Füßen auf dem Bauch. Aber es gibt auch überdachte Verkaufsstände, folkloristisch geschmückt. Es gibt Trödelware – und vor allem viele Interessenten, die das Angebot fachmännisch begutachten, feilschen, streiten und am Ende wohl nie den Basar verlassen, ohne etwas erstanden zu haben.

Nicht immer ging es den Menschen hier so gut. In den 1930er-Jahren setzte Stalin rigoros die Zwangskollektivierung durch, aus ideologischen Gründen, aber auch, um die Versorgung der schnell wachsenden Städte mit Nahrungsmitteln zu sichern und Exporterlöse zu erwirtschaften, die für Investitionen in die Industrie dringend benötigt wurden. Der Ablieferungszwang ging dabei so weit, dass oft den Bauern nicht genug fürs eigene Überleben blieb. So kam es 1932 und 1933 zu Hungersnöten mit Millionen Toten, die als Holodomor in die ukrainische Geschichte eingingen. Mit dem faschistischen Krieg setzten sich in den 1940er-Jahren die Notzeiten fort, und auch danach kam es wieder zu Missernten. Die großen Bewässerungsprojekte der Nachkriegszeit, auch am Dnjepr, sollten unter anderem solche Fehlentwicklungen für die Zukunft ausschließen, was auch weitgehend gelang.

Zwar wurde nach dem Krieg zuerst die fast völlig zerstörte Industrie aufgebaut, die schon nach fünf Jahren annähernd wieder auf dem Vorkriegsstand war, aber gerade in der Ukraine kam auch die Landwirtschaft bald auf die Beine und konnte über die Sicherung des täglichen Brots hinausdenken. Als Beispiel nannte man uns das Denkmal der »Legendären Tatschanka«, einer bronzenen Figurengruppe unweit des Dnjepr-Ufers, die eine Szene aus dem Bürgerkrieg gegen die Weißgardisten zeigt. Ein Kampfwagen mit Maschinengewehr wird von vier Pferden gezogen, und drei Rotarmisten treiben ihn ungestüm voran. Sechseinhalb Meter hoch ist die Skulptur, sie wiegt 120 Tonnen.

Entstanden ist sie nach dem Besuch eines Bildhauerkollektivs in Kachowka, wo 1920 ein strategisch wichtiger Brückenkopf verteidigt wurde und schon lange der Wunsch nach angemessener Würdigung der damaligen Kämpfer bestand. Auf einem Grammophon wurde das einem solchen Kampfwagen gewidmete Soldatenlied »Tatschanka« gespielt, und der Bildhauer Juri Lochowinin soll darauf gesagt haben: »Wir alle errichten Denkmäler für die Führer, wir haben ein Denkmal für Lenin enthüllt, und wie großartig wäre es, ein Denkmal für das Volk zu schaffen. Zum Beispiel einen Kampfwagen.« Unverzüglich bildeten alle Kolchosen der Umgebung eine Organisation, die das Geld für die Verwirklichung des Projekts aufbrachte. 1967 wurde das Denkmal eingeweiht.

Patriotische Denkzeichen solcher Art findet man in der Ukraine wie in der gesamten Sowjetunion fast überall. Und natürlich werden sie dem Touristen stolz vorgezeigt, künden sie doch von Siegen, Erfolgen der Völker des sozialistischen Landes, die in der Gesamtschau seine historische Größe sichtbar machen. Und jedes einzelne Volk verweist auf den eigenen Anteil an der ruhmreichen Geschichte; die Ukraine macht da keine Ausnahme, eher im Gegenteil.

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Spürt man schon in Kachowka den Atem des Südens, so noch mehr in Cherson, der Werft-, Hafen- und Industriestadt, die am Anfang des Dnjepr-Deltas angelegt wurde. Sie wuchs nicht über Jahrhunderte, sondern entstand auf Befehl der Zarin Katharina II. nach 1778 als Stützpunkt für die geplante Schwarzmeerflotte. Bei der Anfahrt grüßen die Kabelkräne und Schiffsmasten. Auch Hochhäuser sind zu sehen, aber in der Stadt selbst fühlt man sich trotz ihrer 350 000 Einwohner eher wie in einem gemütlichen Kurstädtchen. Das liegt wohl an dem vielen Grün, das die ebenmäßigen Straßen, die reichlich Platz zum Flanieren bieten, durchzieht.

Zwar wurde Cherson im 2. Weltkrieg zu 70 Prozent zerstört, doch ist davon nichts mehr zu sehen. Leider auch nicht mehr viel von der Bebauung aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Cherson gehört zu den beliebtesten sowjetischen Urlaubsorten, wovon zahlreiche Pensionen, Sanatorien, Parks und auch ein ausgedehnter Zoo zeugen. Und hier wird gern geheiratet und am Ufer des Flusses mit Krim-Sekt angestoßen.

Auf dem Weg durchs Delta wird der Verkehr immer dichter. Vor allem Segler und Fischerboote bevölkern die Wasserarme. Am Ufer nimmt die Bebauung ebenfalls zu. Viele Datschen sind zu sehen, aber auch größere Anwesen. Wir nähern uns Odessa, der größten und wichtigsten sowjetischen Stadt am Schwarzen Meer.

Sie entstand ähnlich wie Cherson durch Befehl der Zarin Katharina und ist ebenfalls schachbrettartig angelegt, doch die Gleichförmigkeit der Stadtanlage ebnet ihre Vielfalt nicht ein. Odessa hat viele Gesichter, wovon das der Altstadt wohl das authentischste ist. Sie kann den Verfall nicht verbergen. Meeresbrise und mangelnde Pflege nagen an der Substanz. Doch die Platanen, Akazien und Robinien in den Straßen, die Weinreben an den Häusern, die Blumen in Fenstern und Balkonen verschönern den Niedergang. Es gibt auch Schmutzecken, Taubenreviere und rostige Mülltonnen am Straßenrand. Ein Betrunkener schläft auf dem Boden, zerlumpt und unrasiert, eine Beute von Fliegen. Man kann sich gut vorstellen, dass Gogol hier Teile seiner »Toten Seelen« schrieb. Doch unsere Begleiter runzeln die Stirn: »Warum fotografiert ihr das?«

Und sie haben vielleicht recht. Am nächsten Tag ist Stadtrundfahrt, und wir sehen das prachtvolle Odessa. Hier ist alles adrett und sauber, teilweise gar vornehm. Breite schattige Straßen, schöne alte Bauten, an deren Sanierung gearbeitet wird. Viele Parks und Sanatorien. Menschen, die flanieren und die Kulisse genießen. 1794 wurde Odessa gegründet, und sie war von Anfang an eine Stadt unterschiedlicher Völkerschaften und Kulturen. Alexander Puschkin, der 1823 vom Zaren nach Odessa verbannt worden war, beschrieb das in seinem Versepos »Eugen Onegin«:

» Ich lebte damals im Getümmel Odessas, dieser staub’gen Stadt,
Die viel Verkehr, viel heitern Himmel und einen lauten Hafen hat.
Dort wehen schon Europas Lüfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte
Pulsiert das Leben leichtbeschwingt, Italiens holde Sprache klingt
Auf allen Straßen: 
hier Slowenen, dort Spanier, Frankreich, Griechenland
Hat reiche Kaufherrn hergesandt. 
Armenier feilschen mit Rumänen, selbst aus Ägypten
stellt sich dar, Held Mor-Ali, der Ex-Korsar.«

Das hat sich zwar verändert, heute dominieren Russen und Ukrainer, aber die Atmosphäre, die Puschkin vorfand, kann man noch immer nachfühlen. Auch an den städtischen Stränden, von denen wir einen besuchten, den Delphin-Strand, nur fünf Kilometer vom Hafen entfernt. Leider regnete es, so dass wir wenig Neigung hatten, ins Wasser zu steigen, obwohl es darin möglicherweise wärmer war als draußen. Jedenfalls ließen sich zahlreiche Strandbesucher nicht von einem Bad im Schwarzen Meer abhalten.

Der Hafen der Millionenstadt war der eigentliche Grund für ihre Entstehung, denn zuvor gab es hier nur eine türkische Kleinstadt. Auf dem Morski Woksal, dem Meeresbahnhof, herrscht reges Leben. Hunderte Anreisende verlassen die großen Passagierschiffe, die Abreisenden warten schon in langen Schlangen auf ihre Abfertigung. Elegante Kreuzfahrtschiffe mit großen Kabinenfenstern, Frachtschiffe mit riesigen Radarkugeln – alles drängt sich im Hafengebiet auf engstem Raum und sorgt für lebhafte Geschäftigkeit. Die Nähe des Hafens zur Stadt mit ihren Boulevards verstärkt den Eindruck, Teil eines großen Getriebes zu sein, das sich unaufhörlich verändert und doch nie ganz überschaut werden kann.

Es sei denn, man begibt sich auf die große Treppe direkt gegenüber dem Meeresbahnhof, die hinauf in die Innenstadt führt. Sie hatte einst 200 Stufen, von denen jedoch die acht untersten späterem Hafenausbau zum Opfer fielen. Doch auch die verbliebenen 192 Treppenabsätze sind beeindruckend, wurde sie doch so raffiniert konstruiert, dass der Betrachter optischen Täuschungen unterliegt. Von unten erscheint die Treppe länger als sie ist und die Stadt selbst im Himmel zu thronen. Von oben scheint sie auf der gesamten Länge die gleiche Breite zu haben, obwohl sie unten über acht Meter mehr misst als oben. Man steht neben dem Standbild des französischen Herzogs Armand Emmanuel du Plessis aus der Richelieu-Dynastie, der Anfang des 19. Jahrhunderts in Diensten der Zarin stand und von 1803 bis 1814 mit der Verwaltung Odessas beauftragt war. Gleich ihm hat man einen imposanten Ausblick auf Hafen und Meer.

Doch nicht die architektonischen Besonderheiten sorgten für ihren Ruf, eine der berühmtesten Treppen der Welt zu sein, sondern ein Stummfilm aus dem Jahr 1925. Sergej Eisenstein stellte darin die Meuterei der Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin im Jahre 1905 dar, die von einem zaristischen Kosakenregiment brutal niedergeschlagen wurde, wobei 2000 Menschen den Tod fanden. Das Vorrücken der schießenden Soldaten und Polizisten über die Treppe nach unten und die Flucht der unbewaffneten Odessaer, die den Matrosen zugejubelt hatten, darunter viele Frauen und Kinder, wurden von Eisenstein kongenial inszeniert; die etwa siebeneinhalbminütige Szene gehört zu den herausragendsten Zeugnissen der Filmgeschichte.

Für die Sowjetunion ist der Film zugleich Widerspiegelung eines entscheidenden Teils ihrer revolutionären Historie; der Matrosenaufstand war ein Ereignis aus dem Revolutionsjahr 1905, das als Vorbote der Oktoberrevolution gilt. Trotz der damaligen Niederlage wertete Lenin den Panzerkreuzer, der sich nicht ergab, als »unbesiegtes Territorium der Revolution«.

Odessa, Mahnmal für den unbekannten Matrosen

Den Meuterern wie den sowjetischen Kriegsopfern ist das Mahnmal des unbekannten Matrosen gewidmet, das im nahe gelegenen Schewtschenko-Park steht und an dem Pioniere rund um die Uhr Ehrenwache halten. Wir konnten die alle 15 Minuten erfolgende Wachablösung miterleben und sahen, mit welcher Würde und welchem Ernst die jungen Leute bei der Sache waren. Sie ermahnten auch die Zuschauer, nicht zu dicht an den heiligen Ort heranzutreten und achteten darauf, dass sie nicht rauchten und schwatzten.

Odessa ist mit seiner Geschichte und seiner heutigen Bevölkerung ein Symbol des Vielvölkerstaates Sowjetunion, in der das Russische eindeutig dominiert und doch zugleich ständig in Frage gestellt wird. Während Moskau, Leningrad, auch Kiew für den nordeuropäischen Teil der UdSSR stehen, sind in Odessa die Einflüsse des Südens bis hinein in die Nahen Osten und nach Asien nicht zu übersehen. Gerade das aber macht den Charme, den Reiz der Stadt aus. Auf der Treppe aus dem Potemkin-Film schafft das Völkergemisch eine heitere, gelöste, vor allem aber friedliche Stimmung. Hier, wo nationale Unterschiede am ehesten sichtbar sind, scheinen sie die Menschen am wenigsten zu entzweien. Eigentlich ein hoffnungsvoller Ausblick in diesen Augusttagen 1984.

(Geschrieben: 1984, 2022)

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