Man hätte es nicht erzwingen sollen, sondern darauf verzichten. Auf Ballacks Wade nämlich, die kurz vor dem Endspiel der Fußball-Europameisterschaft zum absoluten Joker aufgebaut wurde, ohne den überhaupt nichts gehe. Dabei verdichtet sich nun den Verdacht, dass gerade diese angebliche Wunderwaffe war, die sich nicht nur selbst als Rohrkrepierer erwies, sondern zugleich noch 21 andere deutsche Fußballerbeine mit einer rätselhaften Glücklosigkeit infizierte.
Ballacks Wade – so erfuhren wir – war verhärtet. »Wir müssen die Nacht abwarten. Die Ärzte betreuen ihn rund um die Uhr«, alarmierte der Bundestrainer die Welt. Schmerzen, eine Entzündung und diese tückische Verhärtung, die nicht zum ersten Mal in die Wade des deutschen Spielmachers geschlüpft war – und doch entschloss man sich, das verdächtige Teil aufs Kampffeld zu lassen. Ein schwerer Fehler, wie sich schnell herausstellte, denn alle die Symptome aus Ballacks Wade konnte man dann mit Schrecken auch im gesamten Spiel der Schwarz-rot-goldenen beobachten. Noch nicht in den ersten zehn Minuten; die verbrachte der vermaledeite Virus wohl dazu, den zerstörerischen Zustand des kickenden Unterschenkels auf die 21 anderen hochleistungsfähigen Waden mit den schwarz-weißen Stutzen zu übertragen.
Dann aber wurde zum Beispiel Mertesacker, zwar einen Kopf größer als sein Gegenspieler Torres, von der Infektwade bei jedem Sprung nach dem Ball fast am Boden festgehalten. Metzelder musste erleben, dass seine Waden in die eigene Richtung spielten und den Spaniern die Bälle vorzulegen versuchten. Lahms Waden waren lahm, sobald die Spanier sich seiner Verteidigerposition näherten, während er noch am spanischen Strafraum auf seine Chance wartete. Frings schonte nicht nur die vermeintlich gebrochene Rippe, sondern auch die gewisslich angegriffenen Waden. Hitzelspergers Waden zuckten jedesmal zurück, wenn er zu einem scharfen Schuss ansetzen wollte. Podolski gab seinen Waden zwar Dampf, der jedoch verpuffte und einmal das Stadion sogar in weiße Sch-Waden hüllte. Schweinsteiger muss mit seinen Waden auch wenig zufrieden gewesen sein, was seine immer wieder entgeisterte Miene nach deren misslungenen Aktionen zeigte. Wenig Bock auf den Ball hatten auch Kloses Waden, während die Ersatzwaden von Jansen, Kuranyi und Gomez sich von Anfang als solche ver- und deshalb vornehm zuzrückhielten. Schließlich Ballack selbst: Dass er wütend über seine das Unheil streuende ebenso wie die zweite Wade war, konnte man deutlich erkennen, doch beide Leistungsträger des Unterschenkelknochens ließen sich davon nicht beeindrucken.
So erwies sich Ballacks Unglückswade als eine Art Achillessehne, die sich wie eine erstickende Schlinge um die deutschen Kickerbeine legte, sie einschnürte, nicht zum Zuge kommen ließ. Da konnten die Spanier gar nicht verlieren, was sie spätestens nach ihrem Tor erkannten und sodann gar nicht mehr auf Sieg, sondern auf Schönheit spielten. Nicht einfach treffen wollten sie, sondern nur solche Tore machen, die dereinst als Kunstwerke in den Museen gezeigt werden sollten. Nicht einfach »das Runde ins Eckige« wollten sie bringen, wie es hierzulande so vulgär wie phantasielos verlangt wird, sondern die silbrig-glänzende Kugel in betörend schönem Zickzack um die verhärteten Ballack-Waden herum wandern lassen und dann mit raffinierter Pointe ästhetisch unübertroffen im Torrahmen platzieren. Die Schöpfung eines prachtvollen Gesamtgemäldes.
Dass ihnen das nur einmal gelang, gehört zum wahren Kunstwerk mit seiner Einmaligkeit. Solide deutsche Handwerksarbeit kann da wenig entgegensetzen – zumal dann, wenn sie nicht mehr zustande bringt als eine Ballack-Wade, die zudem noch – nach dem Motto »Nicht kleckern, klotzen!« – viel zu sehr gehärtet worden ist.
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Die Spanier haben gespielt, wie man es von ihnen erwarten konnte: wunderschön, aber ineffizient. Ein einziges Törchen ist bei den vielen vergebenen Chancen schließlich nur erzielt worden, das spricht nicht gerade für die Klasse einer Spitzenmannschaft. Wenn die deutschen Balltreter wenigstens Normalform erreicht hätten, wäre es gekommen, wie es fast immer gekommen ist im europäischen Fußball: Alle laufen dem Ball hinterher und am Ende gewinnen fast immer die Deutschen mit ihrer „effizienten“ Spielweise des unschönen Spielverderbens.
Kurzum, die deutschen Kicker waren kaum besser als eine Thekenmannschaft und haben zurecht gegen keineswegs überragende Spanier verloren – und dafür 150.000 Euro „pro Nase“ erhalten. Auch für Profis nicht wenig, die aber nicht nur harmlose Sportler sind, sondern als Animateure auch noch eine ganze Nation bei Laune halten müssen. Aber auch in Spanien wird man das durch den Sport erzeugte – flüchtige – Gemeinschafts- und Siegesgefühl sicherlich mal gut gebrauchen können.