Wer Gewallt legalisiert, muss oft erleben, dass er die Folgen schon bald nicht mehr unter Kontrolle behält. Gerade in Verbänden, die über ein Gewaltmonopol verfügen, wie zum Beispiel eine Armee oder die Polizei, gibt es immer wieder Gewaltexzesse, die mit dem Auftrag der zu Gewalt Berechtigten nichts zu tun haben. Dann hat sich Gewalt verselbständigt – in der Regel weil dafür höheren Orts ein günstiges Klima geschaffen worden ist. Gegenwärtig erlebt Israel eine Welle von Gewalt, wobei hier nicht die Gewalttätigkeit gegen die Palästinenser gemeint ist, sondern die wachsende Gewalt innerhalb der israelischen Gesellschaft.
Innerhalb der letzten vier Wochen haben vor allem Orthodoxe in Israel mit brutaler Gewalt versucht, ihre Glaubensauffassungen durchzusetzen. Während das Land ihren Vorstellungen trotz häufigem Unverständnis mit großer Toleranz begegnet, gehen sie den Weg der Gewalt. War es Mitte Juli der Protest gegen die Verhaftung einer orthodoxen Mutter, die ihrem dreijährigen Kind die Nahrung vorenthielt, so dass es nur noch sieben Kilo wog und ins Krankenhaus gebracht werden musste, lieferte eine Woche später in Tel Aviv die Öffnung eines Parkhauses am Sabbat den Grund für heftige Ausschreitungen, bei denen Brände gelegt und Dutzende Ampeln zerstört wurden. Trauriger Höhepunkt der Gewaltorgie in Israels Hauptstadt war am vergangenen Wochenende die Ermordung zwei Homosexueller in ihrem Club.
Offensichtlich können Israels Orthodoxe nicht mehr zwischen der ihnen gestatteten Gewalt gegen Palästinenser, zum Beispiel beim illegalten Bau neuer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet, und der eigentlich verbotenen Gewalt bei der Durchsetzung ihrer religiösen Prinzipien unterscheiden. Sie verstehen nicht, warum in Tel Aviv nicht erlaubt sein soll, was ihnen in Ost-Jerusalem oder im Westjordanland zugestanden und sogar von der israelischen Armee gedeckt wird. Die Prinzipienlosigkeit einer Staatsführung, die Gewalt als legitimes Mittel zur Lösung von Konflikten betrachtet, schlägt so auf sie selbst zurück.
Dabei sind die aktuellen Vorgänge um die Orthodoxen nur ein besonders drastisches Beispiel für Fehlentwicklungen in der israelischen Gesellschaft. Belege dafür lassen sich im Alltag des Landes immer wieder finden. So berichten Frauen in der Armee von fortgesetzten sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung; auch dafür machen israelische Experten die Erziehung der jungen Männer des Landes zu ständiger Gewaltbereitschaft gegenüber Schwächeren verantwortlich. Sogar der israelische Staatspräsident und ein Justizminister mussten zurücktreten, weil sie Mitarbeiterinnen vergewaltigt bzw. sexuell belästigt hatten. Auch die grassierende Korruption in Israel, der sich immer wieder auch Politiker in höchsten Ämtern schuldig machen, darunter der jüngst abgelöste Ministerpräsident Olmert und nun offensichtlich auch der amtierende und in seinem Amt besonders gewaltbereit auftretende Außenminister Lieberman, verdeutlicht, wie das Rechtsbewusstsein in einem Land, das seine Probleme mit Nachbarn und anderen Außenstehenden allein mit dem Mittel der Gewalt glaubt lösen zu können, dadurch verkommt – ungeachtet alles Bemühungen der israelischen Justiz, rechtstaatliche Standards aufrechtzuerhalten. Sie steht damit zumindest längerfristig auf verlorenem Posten, wie schon jetzt immer widersprüchlichere Urteile bezeugen.
Wer auf solche Zusammenhänge hinweist, setzt sich schnell dem Vorwurf des Antisemitismus aus. In Wirklichkeit jedoch hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Gewalt gibt es in Israel nicht, weil dort Juden siedeln, sondern weil seine Regierung Gewalt zu einem bevorzugten Mittel der Politik erhoben hat. Es fehlt ihr seit Jahrzehnten die Fähigkeit, andere Lösungswege zu beschreiten – eine Position, die sich bei vielen bereits so stark verinnerlichte, dass ein Politiker wie Yitzhak Rabin, der Wege außerhalb der Gewaltanwendung zu beschreiten suchte, eben dieser Gewalt zum Opfer fiel. Und dass gegenwärtig bei Wahlen jene Politiker die meisten Stimmen erhalten, die am lautesten die Gewalt predigen. Israel erntet, was seine Politiker all die Jahre gesät haben. Die Gewalt, die nach außen legalisiert wurde, kehrt zu ihren Wurzeln zurück.
Und dabei steht hinter solch blinder Gewaltanwendung meist Verunsicherung und Angst. Diese „Starken“ sind in Wahrheit schwach und labil.
Das moderne plurale Leben ist für Fundamentalisten stets ein Quelle des Hasses und der Aggressivität. Wenn aber eine ganze Gesellschaft „neurotisch“ und intolerant reagiert, müssen die eigentlichen Ursachen tiefer liegen.